Zum Verständnis eines Skandalierungsversuchs
VON PROF. DR. LOTHAR FRITZE (CHEMNITZ)
Im Heft 4 des 48. Bandes der "Tribüne.
Zeitschrift zum Verständnis des Judentums"
hat Peter Steinbach einen
Artikel
veröffentlicht.1 Er nimmt darin zu meinem
Buch
"Legitimer Widerstand?"2
Stellung, das sich mit dem Widerstandsakt Georg
Elsers und dessen Beurteilung beschäftigt.
3 Dieser Steinbachsche Text verdient
eine Antwort - nicht weil er die Diskussion
in der Sache weiter brächte, sondern
weil er als exemplarisch für Steinbachs
Arbeitsweise und Geschichtspolitik gelten
kann.
Steinbachs Text ist nicht der sachlichen
Auseinandersetzung gewidmet. Er ist eine
Mischung aus Angriffen auf meine Person,
dem Versuch, den Angegriffenen in
ein politisches Zwielicht zu setzen, und
der gezielten Desinformation des Lesers.
Der Text erschließt sich vor allem dann,
wenn man ihn als einen Beitrag liest, der
auf Skandalierung der gegnerischen Position
und des Gegners abzielt ("So ist ein
Skandal öffentlich zu machen" [S. 107]).
Leider muss man gestehen, dass Steinbach
die einschlägigen Methoden der Skandalierung
virtuos beherrscht. 4 Er setzt zunächst
alles daran, seine Sichtweise als die moralisch
gebotene erscheinen zu lassen. Wer seiner
Beurteilung des Elser-Anschlags nicht
folgt, offenbart seinen Radikalismus und
Obskurantismus, zumindest aber die Unfähigkeit,
offenkundige Tatsachen zur Kenntnis
zu nehmen. So lässt er den Leser wissen,
man habe viele Jahrzehnte lang den
Bombenanschlag Elsers "nicht verstehen
wollen" (S. 102). Dazu nämlich "hätte es
der Bereitschaft bedurft, den abgrundtief
verbrecherischen Charakter des Systems
zu erkennen, gegen das er sich wandte"
(S. 102). Mit dieser Einlassung zündet
Steinbach eine erste Nebelkerze. Es ist nämlich
keineswegs verständlich, was die Behauptung,
man habe den Anschlag "nicht
verstehen wollen", eigentlich bedeutet. Steinbach
selbst deutet an, dass verschiedene
Sachverhalte, die den Elserschen Anschlag
betrafen, erst mit dem Auffinden eines Vernehmungsprotokolls
der Gestapo Ende der
sechziger Jahre hinreichend erhellt werden
konnten. Bis dahin war weder geklärt, dass
Elser ohne Auftrag handelte, noch dass
er Alleintäter war. Führende Historiker -
darunter Gerhard Ritter, Hans Rothfels,
Alan Bullock - waren davon ausgegangen,
dass Elser im Auftrag der Nationalsozialisten
das Attentat fingiert hatte. Die
Bereitschaft, den verbrecherischen Charakter
des NS-Systems zu erkennen, hatte
also bis dahin nicht ausgereicht, Elsers
Anschlag zu "verstehen". Natürlich ist sich
Steinbach über diese Zusammenhänge im
Klaren; er benötigt sein Argument jedoch
für die Suggestion, Kritik am Anschlag von
Elser, gleich welcher Art sie auch sei, lasse
sich nur als eine mangelnde Bereitschaft
begreifen, den verbrecherischen Charakter
des Nationalsozialismus zu erkennen.
Dabei hatte Steinbach den Widerstandskämpfer
Elser für sich und die Gedenkstätte
Deutscher Widerstand erst spät entdeckt.
Noch 1984 hatte eine internationale
Konferenz, die eine umfassende Bilanz
der neueren Forschung zur Geschichte
des Widerstands gegen den Nationalsozialismus
zu ziehen gedachte und von der
Gedenkstätte Deutscher Widerstand mit
ausgerichtet worden war, 5 Georg Elser keinen
eigenen Beitrag gewidmet. Elser wurde
nur von einem Referenten überhaupt
erwähnt. Am 20. Juli 1984 würdigte Bundeskanzler
Helmut Kohl in einer Rede anlässlich
des Jahrestages des Stauffenberg-
Attentates auch den Attentäter Elser. Erst
danach traten Peter Steinbach und mit ihm
Johannes Tuchel als Elser-Forscher in Erscheinung.
Soll man also annehmen, dass
sie erst in den achtziger Jahren die Bereitschaft
entwickelten, den abgrundtief verbrecherischen
Charakter des NS-Systems
zu erkennen?
Wie schon bei anderen Gelegenheiten hat
es Steinbach auch in dem hier zu besprechenden
Artikel fertiggebracht, die Hauptgesichtspunkte
meiner Kritik am Elserschen
Attentat zu unterschlagen. Bekanntlich
hatte Elser bei seinem Bombenanschlag
im Bürgerbräukeller am 8. November
1939 mehrere Menschen getötet beziehungsweise
schwer verletzt, auf die er
es gar nicht abgesehen hatte. Ich hatte nun
dargelegt, dass, falls man die Inkaufnahme
der Tötung Unbeteiligter überhaupt für
legitimierbar hält, die Legitimität eines solchen
Anschlags von der Erfüllung einer
Reihe von Bedingungen abhängt. Dazu
gehört insbesondere, dass unter gleichermaßen
wirksamen Mitteln das mildeste gewählt
wird und der Attentäter, soweit möglich,
Risiken selbst trägt, statt sie Unbeteiligten
aufzubürden. Der Attentäter hat Sorgfaltspflichten
bei der Urteils- und Willensbildung,
bei der Planung und praktischen
Ausführung seines Widerstandsaktes zu
erfüllen. Eine diesbezügliche Überprüfung
der Elserschen Vorgehensweise hatte jedoch
schwerwiegende Mängel offenbart,
sodass insbesondere die Tatausführung
nicht als vorbildlich gelten kann. Steinbach
hat sich bis heute - obwohl er mit Invektiven
nicht spart: "abstruse Bewertung von
Elsers Tat" (S. 103) - nicht mit den vorgebrachten
Argumenten angemessen auseinandergesetzt.
Dazu müsste er entweder
die Nicht-Geltung oder Nicht-Angemessenheit
der in Anschlag gebrachten
Kriterien dartun oder zeigen, dass der Elsersche
Anschlag ihnen genügte.
Statt in diesen Fragen klar Stellung zu beziehen,
verschweigt Steinbach die Hauptargumente
seines Gegners und eröffnet
Nebenkriegsschauplätze. Dabei wählt er
häufig unklare Formulierungen. Steinbach
schreibt: "Es drängte sich der Eindruck
auf, Elsers Tat werde in Analogie zum
Handeln der RAF gedeutet und verurteilt.
Dieser Gedanke schien abwegig, aber die
jetzige Position Fritzes zeigt, dass er keineswegs
abwegig war. Mehrfach spricht
Fritze den Vergleich mit der 'Roten Armee
Franktion' und ihren Mordaktionen an."
(S. 103) Welchen Gedanken will Steinbach
mit diesen Formulierungen eigentlich zum
Ausdruck bringen? Ich habe stets unterstellt
und nie einen Zweifel daran gelassen,
dass Hitler getötet werden durfte.
Insoweit habe ich den Anschlag Elsers -
und zwar im Unterschied zu den Anschlägen
der RAF - gerade nicht verurteilt.
Warum erweckt Steinbach den gegenteiligen
Eindruck? Ich habe in meinem Buch
zu begründen versucht, weshalb eine präzise
Beschreibung und korrekte Beurteilung
von Widerstandshandlungen von großer
Bedeutung ist. Heute ist der Wille weit
verbreitet, aus dem Verhalten unter dem
Nationalsozialismus - nicht zuletzt aus unterlassenem
Widerstand - Konsequenzen
für die Gegenwart zu ziehen. Aktivisten
der Roten Armee Fraktion hatten ihr Handeln
als ein solches Lernergebnis begriffen.
Angesichts dieses misslungenen Lernens habe ich auf die Gefahren hingewiesen,
die sich aus nicht gerechtfertigten
Würdigungen ergeben können.6
Steinbach kämpft für eine Sache, die er
für wichtig hält. Er möchte deutlich machen,
dass man auch als "kleiner Mann"
den Charakter des NS-Regimes durchschauen
konnte. Er möchte die Auffassung
vermitteln, dass es ein Versagen der
Mehrheit der Deutschen war, Hitler nicht
gestoppt zu haben, sondern ihm stattdessen
willfährig gefolgt zu sein. Und weil
ihm, Steinbach, diese Sache so wichtig
erscheint, glaubt er auch Mittel benutzen
zu dürfen, die er in anderen Kontexten -
so möchte ich ihm jedenfalls zugute halten
- sicherlich nicht benutzen würde. Jedoch:
Steinbach hat die Dinge nicht zu
Ende gedacht. Sein grundsätzliches Anliegen
mag ehrenwert sein; die Konsequenzen
allerdings, die sich aus einer kritiklosen
Würdigung des Elserschen Anschlags
und damit auch seiner konkreten Vorgehensweise
ergeben, hat er nicht einmal
ansatzweise reflektiert.
Die Problematik der Würdigung einer beliebigen
konkreten Handlung ergibt sich
aus folgendem Sachverhalt: Mit der Würdigung
einer Handlung wird zugleich die
Regel, der diese Handlung gefolgt ist, das
von der konkreten Form der Handlung abstrahierbare
allgemeine Handlungsschema,
als vorbildlich herausgestellt. Analoges gilt,
wenn sich die Würdigung nur auf einen
Aspekt der Handlung bezieht. Wer beispielsweise
die Elsersche Attentatsdurchführung
akzeptiert, hält es für moralisch
erlaubt, zum Zwecke der Rettung vieler
Menschenleben einen mit Zeitzünder gesteuerten
Bombenanschlag auf den für die
Gefährdung Verantwortlichen in einem
Raum zu unternehmen, in dem sich viele
hunderte, ja mehrere tausend Menschen
befinden. Mit einer jeden Würdigung ist
damit die Erlaubnis (und gegebenenfalls
auch die Aufforderung) verbunden, in relevant
ähnlichen Situationen diesen Handlungsregeln
zu folgen. Daraus ergibt sich
eine immense Verantwortung gerade für
Gedenkstätten. Indem sie eine bestimmte
Handlung (kritiklos) würdigen, sprechen
sie indirekt - sei es ihnen bewusst oder
auch nicht - die Auffassung aus, dass es
in der gegebenen Handlungssituation moralisch
akzeptabel oder gar geboten war,
so zu handeln. Zugleich bringen sie damit
zum Ausdruck, dass es erlaubt oder geboten
ist, in jeder Situation, die in allen relevanten
Hinsichten als ähnlich zu gelten hat,
der durch diese Handlung exemplifizierten
Handlungsregel zu folgen.7 Zu bedenken
ist hierbei - wie schon angedeutet -,
dass eine Handlung verschiedene Elemente
aufweist. Dazu gehören insbesondere die
verfolgten Ziele, die Überlegungen, aufgrund
derer gehandelt wurde, die zugrunde
liegenden Planungen, die konkrete Vorgehensweise,
die eingesetzten Mittel. 8 Diese
Elemente oder Handlungsaspekte müssen
gesondert beurteilt werden, sodass eine
komplexe Handlung, etwa ein Attentat,
hinsichtlich ihrer verschiedenen Aspekte
sowohl Zustimmung als auch Kritik erfahren
kann. Eine kritiklose Würdigung allerdings
weist die betreffende Handlung in
all ihren Aspekten als vorbildlich aus. Eine
Handlung kann aber nur dann uneingeschränkt
für vorbildlich gehalten werden,
wenn man der Meinung ist, dass diese
Handlung sämtlichen Anforderungen genügt,
die die Menschen einer Gemeinschaft,
die potenziell Betroffenen, an eine
Handlung dieses Typs vernünftigerweise
stellen würden. Nur dann also, wenn das
der konkreten Handlung zugrunde liegende
allgemeine Handlungsschema von aufgeklärten und rationalen Akteuren als beispielgebend
akzeptiert würde, kann es
auch uneingeschränkt gewürdigt werden.
Durch Würdigungen werden Vorbilder geschaffen.
Als Vorbilder gelten Personen, deren
Verhalten als mustergültig und deshalb
nacheifernswert betrachtet wird. Das Handeln
von Vorbildern wird also, was das
allgemeine Handlungsschema anlangt, als
Richtschnur angesehen und zur Nachahmung
empfohlen - und zwar ohne, dass
dies ausdrücklich erwähnt werden müsste.9
Steinbach glaubt, nach meiner Auffassung
stünde das Vorbild Elser "für die kontextlos
interpretierte Tat des 'Bombenlegens',
für einen Terrorismus" (S. 103). Dies ist
natürlich grundfalsch. Elser steht für einen
Gefahrenabwehrer, der eine Gefahr
für Leib und Leben einer großen Zahl von
Menschen sah und diese abwehren wollte.
Konkret ging es ihm darum, Widerstand
gegen ein Unrechtsregime zu leisten
und die Ausweitung eines Krieges zu verhindern.
Dass Elsers Gefahrenanalyse in
wesentlichen Aspekten zutraf, Hitler unter
den gegebenen Verhältnissen getötet
werden durfte und insoweit der Anschlag
legitim war, gehört zu den wesentlichen
Merkmalen der Elserschen Handlung -
Merkmale, die sich übrigens allein aus dem
Kontext ergeben. Die zu ziehenden Lehren
sind allerdings kontextlos in dem Sinne,
dass sie sich nicht auf Hitler oder den
Nationalsozialismus beziehen, sondern eben
auf alle Situationen, die in wesentlicher
Hinsicht als gleich gelten können. Ansonsten
hätten diese Lehren keinerlei Allgemeingültigkeit.
Zu beachten ist des Weiteren, dass Elsers
Motivation komplexer war. Er steht nämlich
auch für einen Aktivisten, der durch
die Eliminierung von Führungspersonen
einen Beitrag zur Verbesserung der Lage
der Arbeiter zu leisten hoffte. Darüber hinaus
steht der Elsersche Anschlag für ein
Attentat, dessen Planung und Durchführung
in wesentlichen Hinsichten nicht akzeptabel
ist. Exakt zu beschreiben, wofür
dieser Anschlag steht, das heißt welchen
Handlungsregeln Elser gefolgt ist und welche
Handlungsregeln demzufolge im Falle
einer undifferenziert positiven Bewertung
als Maßstab setzend ausgezeichnet
werden, wäre eine Aufgabe derjenigen gewesen,
die Elser in Gedenkstätten präsentieren
oder sich dafür einsetzen, dass Straßen
und Schulen nach ihm benannt werden.
Noch unverständlicher ist es, wenn Steinbach
bestreitet, dass er mit der positiven
Würdigung von Elsers Anschlag auch den
Versuch verbindet, ein Vorbild zu schaffen
(vgl. S. 103). Zunächst gilt, wie oben
dargelegt, dass sich die Schaffung eines
Vorbildes schon als nicht-beabsichtigte
Nebenwirkung einer jeden positiven Würdigung
ergibt. Davon aber abgesehen, entspricht
es gerade dem Selbstverständnis
der Gedenkstätte Deutscher Widerstand,
aus der Auseinandersetzung mit dem Widerstand
gegen den Nationalsozialismus
Handlungsrichtlinien abzuleiten, die "zu jeder
Zeit und an jedem Ort" Bedeutung erlangen
können. So heißt es in einer Selbstdarstellung
dieser Gedenkstätte: "Die Auseinandersetzung
mit dem Widerstand gegen
den Nationalsozialismus besitzt aber
nicht nur eine historische Dimension. An
diesem Beispiel können Reaktionsmöglichkeiten
auf die Verletzung von demokratischen
Rechten und Menschenrechten zu
jeder Zeit und an jedem Ort geschärft werden.
Diesen Zielen fühlt sich die gesamte
politische Bildungsarbeit der Gedenkstätte
Deutscher Widerstand verpflichtet."10
An anderer Stelle fordert Steinbach gar
ein "Bekenntnis zu Elser"; wir alle seien
verpflichtet, uns "vor ihm und seiner Tat
aus[zu]weisen".11 Wozu fordert uns Steinbach
in dieser bombastischen Sentenz auf,
wenn nicht dazu, unser Handeln am Handeln
Elsers zu orientieren? Wir alle, so will
es Steinbach (und mit ihm Tuchel), sollen
uns an den Maßstäben messen, die durch
das Handeln Elsers exemplifiziert wurden;
wir alle sollen uns bemühen, dem Beispiel
zu folgen, das er gegeben hat. Warum bestreitet
Steinbach, diese Empfehlung ausgesprochen
zu haben? Warum schreibt er
plötzlich: "Fritze suggeriert, die Würdigung
von Elsers Tat bedeute die Einladung zur
Nachahmung. Entfällt diese Voraussetzung,
ist der sachliche Grund seiner Erörterung
nicht mehr erkennbar." (S. 103/
4) Abgesehen davon, dass es sich hierbei
um einen Steinbachschen Fehlschluss handelt
(denn die Akzeptabilität von Elsers
Willensbildung und Tatausführung zu erörtern
ist an sich schon von Bedeutung
und interessant), ist die besagte Voraussetzung
gerade nicht entfallen. Und Steinbach
selbst hat ihre Gültigkeit bestätigt -
interessanterweise sogar im hier diskutierten
Artikel. Auf Seite 106 schreibt er nämlich:
"Sie [Gedenkstätten] wollen zur Bildung
von Maßstäben beitragen, um die
Fähigkeit und die Bereitschaft zu stärken,
die nicht selten als Ausdruck eines 'antitotalitären
Konsenses' beschworen wird."
Auch wenn uns Steinbach nicht sagt, um
welche Fähigkeit und welche Bereitschaft
es sich dabei konkret handelt, und auch
wenn nicht ganz klar ist, wie allein durch
die Bildung von Maßstäben eine Bereitschaft
gestärkt werden soll, Steinbach räumt
an dieser Stelle ein, dass es ihm darum
geht, zukünftiges Handeln zu beeinflussen
- und zwar auf der Basis eines Lernens
aus der Vergangenheit. Unangemessene
Beurteilungen können aber unerwünschte
Lernergebnisse zeitigen und damit inakzeptable
Handlungen befördern. Aus diesem
Grund ist es so wichtig, sich klarzumachen,
welche Vorbildwirkung man in
Gedenkstätten erzielt und welches Nachahmungsverhalten
man legitimiert. Steinbachs
Äußerungen aber lassen nur einen
Schluss zu: Nach seinen jahrelangen Bemühungen,
Elser als Vorbild aufzubauen,
hat er nunmehr - freilich ohne dies einzugestehen
- den Rückzug angetreten.
Es gehört zu Steinbachs Skandalierungsstrategie,
wenn er dem Leser weiszumachen
versucht, ich rückte Elser in die Nähe
des Terrorismus. In einem Interview für
die Süddeutsche Zeitung hat Steinbach
gesagt: "Die Unterstellung lautet: Indem
man an einen Regimegegner erinnert, stelle
man seine Tat, die versuchte Tötung
Hitlers, als vorbildlich hin. Elser erscheint
so als eine Art Terrorist."12 Abgesehen davon,
dass auch hier nicht klar ist, wieso
die besagte Unterstellung Elser als eine Art
Terrorist erscheinen lassen soll, ist eine
solche Kategorisierung schon aus begrifflichen
Gründen nicht möglich. Zwar gibt
es keine allgemein anerkannte Terrorismus-
Definition, üblicherweise spricht man jedoch
von "Terrorismus" nur dann, wenn
sich die Gewalt zur Durchsetzung bestimmter
Ziele intentional gegen Dritte richtet und
damit, über den Umweg der Verbreitung
von Furcht und Schrecken, die eigentlichen
Entscheidungsträger zur Veränderung
ihrer Politik gezwungen werden sollen.
Davon aber kann im Falle Elser keine
Rede sein. Elser hat direkt auf Hitler gezielt;
sein Attentat fällt in die Kategorie des
Tyrannenmords.
Steinbach hat sich vergaloppiert. In dem
berechtigten Anliegen, auch an die Tat Georg Elsers zu erinnern, hat er mit überschießendem
volkspädagogischen Eifer
die problematischen Seiten des Elserschen
Vorgehens komplett ausgeblendet und Elser
zu einem makellosen Helden stilisiert.
In ungezählten Artikeln (meist gemeinsam
mit Tuchel) hat er die moralische Problematik,
die sich aus der Inkaufnahme einer
Tötung unbeteiligter Dritter ergibt, noch
nicht einmal zum Gegenstand seines Nachdenkens
gemacht.
Erneut lässt Steinbach unerwähnt, dass ich
die Frage, ob bei einem gerechtfertigten
Tyrannenmord auch die Tötung Unschuldiger
in Kauf genommen werden darf,
zunächst offen gelassen hatte.13 Ich hatte
argumentiert, dass auch dann, wenn man
eine Inkaufnahme der Tötung Unschuldiger
für prinzipiell legitimierbar hält, Elsers
Tat Aspekte aufweist, aufgrund derer sie
nicht in jeder Hinsicht als vorbildlich gelten
kann. Daraus ergibt sich selbstverständlich
nicht, wie Steinbach gleichwohl
behauptet, dass es, lässt man sich auf meine
Argumente ein, "für den einfachen
Mann nur eine Verhaltensweise in der Diktatur
geben [kann]: Risiken zu vermeiden,
wird doch jede Auflehnung gegen eine
Diktatur möglicherweise völlig Unbeteiligte
mit negativen Fogen belasten" (S. 107).
Eine derart aberwitzige Auffassung, der
zufolge jede Auflehnung gegen eine Diktatur
zu unterlassen wäre, lässt sich aus
meiner Argumentation nicht ableiten. Warum
flüchtet sich Steinbach in solch hanebüchenen
Unsinn?
Steinbach hat sich in einer Weise verrannt,
die nunmehr den Rückzug erschwert. Dass
die Elsersche Vorgehensweise "Schwächen"
aufwies und die "Schwächen und Probleme
der Tatausführung sowie die Opfer ebenfalls
erwähnt werden [sollten]"14, dürfte
mittlerweile Allgemeingut geworden sein.
Steinbach jedoch, außerstande, auf sachlich
vorgetragene Kritik sachlich zu antworten,
tritt verbal eine Vorwärts-Verteidigung
an, die auf Diskreditierung angelegt
ist. Dabei schrickt er selbst vor dem
gezielten Rufmord nicht zurück, denn um
nichts anderes handelt es sich, wenn einem
Autor nachgesagt wird, dass es ihm
"offensichtlich schwer [fällt] anzuerkennen,
dass sich Elser gegen ein verbrecherisches
Regime wandte" (S. 103). Dass er
tatsächlich meint, ich sei nicht in der Lage,
den verbrecherischen Charakter des NSSystems
zu erkennen, hat Steinbach wiederholt
zum Ausdruck gebracht. 15 Er verbreitet
diese Auffassung wider besseres
Wissen.16
Auf den Seiten 103/4 unternimmt Steinbach
den Versuch, genau diesen Nachweis
zu führen - nämlich dass seinem Gegner
der Unrechtscharakter des NS-Systems
verborgen geblieben ist. Zu diesem Zweck
verfälscht er meine Aussagen. Er behauptet,
ich hätte Elser unterstellt, "nicht bedacht
zu haben, dass Widerstand an den
Willen gebunden sein müsse, den 'Rückfall
in den Naturzustand' zu vermeiden".
Dies Elser zu unterstellen hätte selbstverständlich
nur dann Sinn, wenn der Naturzustand
zum Zeitpunkt der Tat noch nicht
eingetreten wäre (und es bei einem Widerstandsakt
tatsächlich nur um die Vermeidung
des Rückfalls in den Naturzustand und
nicht ebenso, wie ich allerdings schreibe,
um die Wiederherstellung des Rechtszustandes
gehen könne). Steinbach muss
mir diese (angebliche) Unterstellung andichten,
um anschließend seine Albernheiten
loszuwerden. Er schreibt: "Fritze fragt
nicht, ob die Verfolgung Andersdenkender,
der Juden, ihre Beraubung, Vertreibung
und Ghettoisierung nicht längst eine
Art Naturzustand unter dem Mantel des
Regimes sichtbar gemacht hatten. Kant,
den Fritze bemüht, hilft hier nicht weiter
[...]." Das Ausmaß des Steinbachschen
Fehlgriffs wird deutlich, wenn man sich
die entsprechende Passage meines Buches,
auf die sich Steinbach bezieht, vor Augen
führt: "Sodann hatte ich die Legitimität eines
aktiven Widerstands gegen die unrechtmäßige
Herrschaft nicht an den Willen
und die reale Chance geknüpft, das
Unrechtsregime zu beseitigen und den
Rechtszustand wieder herzustellen. Der
Verzicht auf diese Voraussetzung ist auch
nicht selbstverständlich. Kant hatte den
Eintritt in den Rechtszustand als Pflicht
aller vernünftigen Wesen betrachtet. Dieser
Eintritt darf ebenso erzwungen werden
wie der Rückfall in den Naturzustand
gewaltsam verhindert werden darf. Die
Zwangsbefugnis ist aber an den Willen gebunden,
den Rückfall in den Naturzustand
zu vermeiden beziehungsweise rückgängig
zu machen, also das unrechtmäßige
Herrschaftssystem zu stürzen."17 Wie jeder
verständige Leser ohne Weiteres begreifen
wird, habe ich mich gerade nicht
auf Kant berufen, sondern deutlich gemacht,
dass ich weniger scharfe Kriterien
als dieser an die Legitimität eines Widerstandsaktes
angelegt hatte. Bekanntlich
hatte Elser nicht die Vorstellung, das nationalsozialistische
Regime beseitigen zu
können. Einen entsprechenden Willen hatte
ich jedoch nicht als Bedingung der Legitimität
angenommen. Deshalb konnte ich
auch nicht behaupten, "dass Widerstand
an den Willen gebunden sein müsse, den
'Rückfall in den Naturzustand' zu vermeiden",
und erst recht konnte ich Elser nicht
unterstellen, dies nicht bedacht zu haben.
Was also hat Steinbach eigentlich zum
Ausdruck bringen wollen?
Steinbach geht über falsche Darstellungen
der gegnerischen Position weit hinaus. Er
präsentiert dem Leser Auffassungen von
Dritten als Auffassungen seines Gegners.
Ich dokumentiere nur ein Beispiel dieser
Methode. Auf Seite 104 heißt es bei ihm:
"Fritze fällt weit in die fünfziger Jahre zurück,
wenn er behauptet, 'nur Persönlichkeiten
in verantwortlichen Positionen, also
Amtsträger, könnten die nötige Kenntnis
der Sachlage überhaupt haben.' (Lothar
Fritze, Legitimer Widerstand? Der Fall
Elser, Berlin 2009, S. 9)" Diese Behauptung
habe ich nie aufgestellt. Vielmehr handelt
es sich hierbei, wie aus meinem Buch
eindeutig hervorgeht, um eine Auffassung
von Walter Künneth, die von mir lediglich
referiert wird (und zwar mit einem entsprechenden
Verweis auf Künneth) und von
der ich mich ausdrücklich absetze.18 Im
Unterschied zur Behauptung Steinbachs
heißt es in dem von ihm zitierten Absatz:
"Des Weiteren hatte ich ein Widerstandsrecht
für jedermann, also auch für den
privaten Einzelnen, unterstellt."19 Und an
anderer Stelle schreibe ich: "Bereits zu Beginn
der Attentatsvorbereitungen war der
Unrechtscharakter des nationalsozialistischen
Regimes erkennbar; es gab einen Mißbrauch
der politischen Macht durch Rechtsverletzungen,
darunter eklatante Verletzungen
von Menschenrechten, und es konnte
erwartet werden, daß von dem weiteren
Wirken Hitlers große Gefahren ausgehen.
Unter diesen Bedingungen war Widerstand
zu leisten jedermann erlaubt."20
Steinbach versucht, Emotionen zu schüren.
Dies gelingt am besten, indem man
den "Zorn der Gerechten"21 weckt. Wenn
sich das Buch seines Gegners, wie Steinbach
behauptet, "allgemein gegen die Arbeit
an NS-Gedenkstätten wendet" (S.
106) und einen Rückfall in eine Zeit bedeutet, in der das NS-Regime noch nicht
als verbrecherisch erkannt worden war,
dann wird dafür niemand Verständnis aufbringen,
ja man wird dies als eine Ungeheuerlichkeit
empfinden. Nach dieser Zurichtung
seines Gegners kann er endlich
zum großen Schlag ausholen: diesen als
"unbelehrbar" bezeichnen, Zweifel äußern,
ob er geeignet ist, Lehrer auszubilden (S.
107), und damit subkutan eine Art Berufsverbot
nahelegen.
Steinbach zielt auf die Diffamierung seines
Gegners ("Hochschullehrer dieses Zuschnitts"
[S. 107]). Er vermittelt den Eindruck,
dieser fischte im politisch Trüben.
Zu diesem Zweck verfälscht er Aussagen
und versucht, statt sich auf Argumente einzulassen,
Assoziationen hervorzurufen, die
seinen Gegner in dem Licht erscheinen
lassen, in das er ihn gestellt sehen möchte.
Steinbach sucht die Gründe für Meinungsunterschiede
in den politischen Anschauungen
des Gegners. Er fahndet nach
- fragwürdigen oder gar verwerflichen -
Motiven, die plausibel machen sollen, warum
der andere eine abweichende Meinung
vorträgt. Die Idee, dass es einfach nur um
die Sache gehen könnte, scheint ihm gänzlich
fremd zu sein.
Die Mechanismen der Skandalierung sind gut erforscht. Siehe Hans Mathias Kepplinger, Die Mechanismen
der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen, München 2005.
5
Siehe Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die
deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München/Zürich 1986.
6
Vgl. Fritze (wie Anm. 2), S. 164-167.
7
Vgl. Fritze (wie Anm. 2), S. 59 f.
8
Vgl. Fritze (wie Anm. 2), S. 171-173.
9
Mit dem Ziel, die Absurdität einer uneingeschränkten Vorbildlichkeit des Elserschen Anschlags deutlich
werden zu lassen, hat Peter Koblank in einem hypothetischen "Leitfaden" zusammengestellt, was
Lehrer ihren Schülern lehren müssten, wenn Elsers Handlung uneingeschränkt als vorbildlich betrachtet
würde. Siehe Peter Koblank, Warum Elser kein uneingeschränktes Vorbild sein kann. Wäre er es,
müsste man einen absurden "Leitfaden" befürworten.
In: https://www.georg-elser-arbeitskreis.de/texts/elservorbild.htm [05.01.2010].
10
Johannes Tuchel, Zur Geschichte und Aufgabe der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. In: Aufstand
des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945 [= Katalog
zur Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes]. Berlin u.a. 1994, S. 712.
11
Peter Steinbach/Johannes Tuchel,
Georg Elser, Berlin-Brandenburg 2008, S. 117.
12
Hitler-Attentäter Georg Elser: Kein Terrorist - ein Held.
In: http://sueddeutsche.de/muenchen/275/491640/text/print/html [27.10.2009].
13
Zur Beantwortung dieser Frage siehe Lothar Fritze, Moralisch erlaubtes Unrecht. Dürfen Unschuldige
getötet werden, um andere zu retten? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 51 (2003) 2,
S. 213-231, sowie ders., Die Tötung Unschuldiger. Ein Dogma auf dem Prüfstand, Berlin/New York 2004.
14
Rainer Blasius, Die Geschichte eines schwierigen Helden. Vom "Terrorakt" zum Leuchtzeichen: Vor
70 Jahren scheiterte Georg Elsers Attentat auf Adolf Hitler. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. November 2009, S. 9.
15
Vgl. Fritze (wie Anm. 2), S. 19.
16
Vgl. meine Ausführungen in ebd., S. 60.
17
Ebd., S. 9.
18
Vgl. ebd., S. 8 f.
19
Ebd., S. 8.
20
Ebd., S. 60.
21
Vgl. Kepplinger (wie Anm. 4), S. 61.
Quelle: Aufklärung und Kritik 2/2010, Nürnberg 2010, S.203 ff
Prof. Dr. phil. habil. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
an der TU Dresden. Er lehrt als außerplanmäßiger Professor
an der TU Chemnitz.