Die erneute Diskussion um Johann Georg Elser
VON PETER STEINBACH
Die "Bürgerinitiative Ausländerstopp" (BIA) München setzt "ein vielbeachtetes Zeichen
gegen die Verherrlichung des Sprengstoffmörders Georg Elser". So verbreitete die BIA
griffig die Nachricht über ihre Protestkundgebung gegen eine Gedenktafel an der Außenmauer
einer Münchener Grundschule, mit der die Stadtverwaltung Elser ehrt. Aber weder
die Wortwahl noch der Geist, dem die Protestaktion entspringt, sind sonderlich neu. Viele
Jahrzehnte lang hat man den Bombenanschlag des Schreiners Johann Georg Elser aus Königsbronn
nicht verstehen wollen, den dieser am Abend des 9. November 1939 auf Hitler im
Münchener Bürgerbräu verübt hat. Denn dazu hätte es der Bereitschaft bedurft, den abgrundtief
verbrecherischen Charakter des Systems zu erkennen, gegen das er sich wandte
und dem die meisten Zeitgenossen erlegen waren. Wollte Elser mit seinem Attentat den
Krieg verhindern, so waren die meisten Deutschen der Meinung, Deutschland verteidige
sich und schieße lediglich zurück. Sie standen bis zum 9. Mai 1945 zu der Fahne, die das
Hakenkreuz trug - zu dieser Zeit war Elser nach Jahren der Einsamkeit bereits in Dachau ermordet
worden, fast zur selben Stunde wie Dietrich Bonhoeffer in Flossenbürg und Hans
von Dohnanyi in Sachsenhausen. Die Todesstunde verdeutlich einen Zusammenhang: Elser
gehörte in den innersten Kreis des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Vielleicht
wussten die Nationalsozialisten dies besser als die meisten Zeitgenossen und Nachlebenden
- mit Sicherheit besser als ein Chemnitzer Privatdozent, der vor etwa zehn Jahren sogar zum
außerplanmäßigen Professor ernannt wurde.
Hätten die Nachlebenden Elser, den "wahren Antagonisten Hitlers" (Peter Stern), gerechtfertigt,
so hätten sie sich eingestehen müssen, dass ein Mann "aus dem Volke", gehandelt
hat. Elser hatte gezeigt, dass ein einfacher Bürger den Charakter des NS-Staates erkennen
und die weitere Entwicklung voraussehen konnte, Rassen- und Weltanschauungskrieg
und damit millionenfache Verbrechen. Nein, Elser sollte nicht verstanden werden, nicht
seine Motive, nicht seine Beharrlichkeit, schon gar nicht sein Mut. Denn er hielt allen Zeitgenossen,
den Angepassten und Mitläufern, einen Spiegel vor, der ihr eigenes Versagen
deutlich machte.
Elser war zunächst von den Nationalsozialisten als Werkzeug des britischen Geheimdienstes
verunglimpft worden. Selbst Regimegegner, die angeblich im Herbst 1938 bereits
auf den Sturz Hitler hingearbeitet hatten, bezeichneten ihn als "Agent Provokateur" der SS.
Das setzte sich in den 1950er Jahren fort. Illustrierte, in denen sich nicht selten alte NS-Kriegsberichterstatter
wie "Rudi Carell" verbreiteten, bezeichneten seine jahrelange Isolationshaft
als "Vorrecht" und sahen in Elser lediglich einen prominenten und privilegierten
KZ-Gefangenen.
Dieses Bild änderte sich erst in den sechziger Jahren. Völlig unerwartet hatten Zeithistoriker
eine grundlegende Entdeckung gemacht. Im Zusammenhang mit einer Justizgeschichte
des "Dritten Reiches" war ein Aktenbündel in ihre Hände gelangt, das den wichtigsten
Schlüssel zur Deutung des "Attentäters aus dem Volk" Johann Georg Elser enthielt. Seitdem
hat sich das Bild der Öffentlichkeit gewandelt. Ein wunderbarer Film, in dem Klaus-Maria
Brandauer die Rolle Elsers übernommen hatte, setzte ihm ein erstes Denkmal. Es stärkte die
bürgerschaftlichen Initiativen in Elsers Heimatort, die sich nicht damit abfinden wollten,
dass dieser weiter als "Verräter" und "Verbrecher" bezeichnet wurde. Inzwischen ist in
Königsbronn seine ehemalige Schule nach ihm benannt, gibt es in Deutschland sechs Elser-Denkmäler,
eine Elser-Initiative. Anlässlich seines 100. Geburtstags erschien im Jahre 2003
eine Sonderbriefmarke - Reaktion auf eine millionenfache Postkarten-Aktion deutscher
Elser-Initiativen.
Dennoch kommt die Debatte um Elser nicht zur Ruhe. Der Chemnitzer Privatdozent Lothar
Fritze warf vor etwa zehn Jahren die Frage auf, wie Elsers Handeln moralisch zu rechtfertigen
sei. Er bezweifelte, ob Elser die Konsequenzen seines Anschlags ausreichend bedacht
und sich mit der Frage nach möglicherweise unschuldigen und ganz unbeteiligten
Opfer auseinandergesetzt hätte. Auch bestritt er, dass Elser die letzten Konsequenzen seines
Umsturzversuches erwogen hatte. Brachte Elser überhaupt die geistigen Voraussetzungen
einer solchen Tat mit, er - ein einfacher Handwerker?
Ausgerechnet die linksliberale "Frankfurter Rundschau" veröffentlichte zum 8. 11. 1999
Fritzes Habilitationsvortrag auf ihrer Dokumentationsseite und trat so zum 50. Jahrestag von
Elsers Anschlag einen Erdrutsch los. Eine Debatte setzte ein, die im "Jahrbuch für Extremismusforschung
" von Fritzes wissenschaftlichem Betreuer ein Jahr später ausgeweitet
wurde. Außenstehende fragten damals, weshalb sich diese angeblich moralphilosophisch geprägte
Debatte über Elsers Tat in einem Jahrbuch niederschlug, das u. a. vom Bundesamt für
Verfassungsschutz gefördert wurde. Es drängte sich der Eindruck auf, Elsers Tat werde in
Analogie zum Handeln der RAF gedeutet und verurteilt. Dieser Gedanke schien abwegig,
aber die jetzige Position Fritzes zeigt, dass er keineswegs abwegig war. Mehrfach spricht
Fritze den Vergleich mit der "Rote Armee Fraktion" und ihren Mordaktionen an.
Zugleich wurde aber eine weitere Stoßrichtung sichtbar, die sich gegen NS-Gedenkstätten
richtete. Denn die Unterstellung, Elsers Attentat sei mit seiner Würdigung gleichsam zur
"Nachahmung" empfohlen, war bis dahin nie aufgekommen. Elser hatte einen Verbrecher
töten wollen, der in einer Reichstagsrede Anfang 1939 einen Zusammenhang zwischen
Krieg und Völkermord an den europäischen Juden hergestellt hatte. Seine Rede war im
Rundfunk zu hören gewesen. Kernsätze wurden als "Parole der Woche" verbreitet - sogar
als Schmuckblatt.
Zum 60. Jahrestag des Anschlags legt Fritze nach. Zwar fühlt er sich missverstanden.
Aber er fragt nicht, ob er selbst die Voraussetzungen für die Kritik durch seine abstruse Bewertung
von Elsers Tat geschaffen hat. Wie zehn Jahre zuvor geht er von der Unterstellung
aus, mit der positiven Würdigung von Elsers Anschlag sei der Versuch verbunden, ein Vorbild
zu schaffen. Er fragt nicht, wofür dieses Vorbild steht - für die Auflehnung gegen einen
Tyrannen oder - und das unterstellt er - für die kontextlos interpretierte Tat des "Bombenlegens",
für einen Terrorismus, den er mehrfach mit den Taten der RAF gleichsetzt. Ihm fällt
es offensichtlich schwer anzuerkennen, dass sich Elser gegen ein verbrecherisches Regime
wandte, also gerade nicht gegen den Rechtsstaat, der das Recht zum Widerstand verfassungsrechtlich
verankert hat. "Gegen jeden, der es unternimmt", die Verfassungsordnung
der Bundesrepublik "zu beseitigen", so heißt es in Art. 20 des Grundgesetzes, "haben alle
Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist".
Fritze suggeriert, die Würdigung von Elsers Tat bedeute die Einladung zur Nachahmung.
Entfällt diese Voraussetzung, ist der sachliche Grund seiner Erörterung nicht mehr erkennbar. Er bemüht Theologen, Philosophen, Politikwissenschaftler, nur um Elser zu unterstellen,
nicht bedacht zu haben, dass Widerstand an den Willen gebunden sein müsse, den
"Rückfall in den Naturzustand" zu vermeiden. Fritze fragt nicht, ob die Verfolgung Andersdenkender,
der Juden, ihre Beraubung, Vertreibung und Ghettoisierung nicht längst eine Art
Naturzustand unter dem Mantel des Regimes sichtbar gemacht hatten. Kant, den Fritze bemüht,
hilft hier nicht weiter, denn das Regime hatte seinen "kategorischen Imperativ" bereits
ad absurdum geführt. Gerade deshalb zitierte Kurt Huber, Mitglied der "Weißen Rose",
diese allgemeine Maxime mitmenschlicher Verantwortung für das Gemeinwesen in seiner
Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof.
Fritze wirft die Frage auf, ob es im Zusammenhang mit der Auflehnung gegen einen verbrecherischen
Diktator aus moralischen Gründen nicht verboten sein müsse, einen "unbeteiligten
Dritten" zu töten. Sie berührt Elsers Tat ebenso wie Stauffenbergs Verantwortung.
Das Handlungsdilemma kann ein Attentäter nur entscheiden, wenn er sich klar macht, was
sein Anschlag verhindert, wie viele Menschenleben er durch seine Tat rettet. Auch beim Attentat
Stauffenbergs kamen unbeteiligte Menschen um, die sicherlich nicht getötet werden
sollten - deren Tod aber der Preis dafür war, den Krieg zu beenden und weitere Massenmorde
zu verhindern. Fritze bezeichnet Elser zwar nicht als einen "psychopathischen Herostraten",
dennoch unterstellt er im gleichen Atemzug, angesichts seiner - übrigens durch
nichts belegten - "traurigen Kindheit" und der - wiederum nur behaupteten - "Mißerfolge
im bürgerlichen Leben", habe er "Rache am Schicksal" nehmen und die "Blicke der
Welt auf sich (lenken) wollen". Für Fritze ist Elser ein Herostrat; er unterstellt ihm einen
"Drang nach Selbstdarstellung", die für "Attentatsentschlüsse besonders zu disponieren"
scheine. Deshalb warnt Fritze, bereits diese "Tatsache sollte ein hinreichender Grund sein,
bei der Verehrung von Attentätern Vorsicht walten zu lassen. Denn wer vermag es auszuschließen,
dass durch unkritische Heldenverehrung zweifelhafte Vorbilder geschaffen werden,
denen Unberufene nur allzu gern nacheifern."1) So wird ein weiteres Ziel ins Visier
gerückt: die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Ihr unterstellt Fritze, bereits vorher mit
dem unveröffentlichten Manuskript versorgt worden zu sein, was nicht den Tatsachen entspricht.
Fritze fällt weit in die fünfziger Jahre zurück, wenn er behauptet, "nur Persönlichkeiten in
verantwortlichen Positionen, also Amtsträger, könnten die nötige Kenntnis der Sachlage
überhaupt haben." 2) Denn gerade der alltägliche Widerstand hat gezeigt, dass "einfache
Menschen" in der Lage waren, Verletzungen von Menschenrechten zu erkennen und verantwortlich
zu handeln. Die Helfer der bedrohten Juden, die "unbesungenen Helden" und
"stillen Helfer", machen deutlich, dass mitmenschliches Handeln keineswegs von den politischen
Kommandohöhen erfolgte, sondern sich im Alltag bewähren konnte.
Seit den fünfziger Jahren, seit ersten NS-Strafverfahren und der systematischen Aufklärung
der Verbrechenskomplexe hat sich die Kenntnis der NS-Wirklichkeit, der "Sachlage"
im Sinne von Fritze, entscheidend verändert: Die NS-Verbrechen sind systematisch erforscht,
der verbrecherische Charakter des Regime ist eindeutig anerkannt worden.
Dass es nicht um Elser, sondern um Gedenkstätten geht, die an Johann Georg Elser erinnern,
macht der Verlagsprospekt klar, mit dem für Elsers Buch geworben wird: "Gedenkstätten
sind Orte der Erinnerung, der Wissensvermittlung, der Würdigung und der Traditionsbildung.
Insoweit die Taten von Personen Würdigung finden, gewinnen sie immer auch
Vorbildcharakter. Indem man ein Handeln in der Öffentlichkeit oder in Gedenkstätten als
beispielhaft würdigt, wird es allen, die sich in einer relevant ähnlichen Situation befinden,
zur Nachahmung empfohlen. Das, was eine Handlung vorbildlich macht, ist die Regel, der
die Handlung gefolgt ist, es ist das von ihrer konkreten Form ablösbare allgemeine Handlungsschema.
Hier liegt die Brisanz des Falles Elser. Obwohl ein Anschlag auf Hitler gerechtfertigt
war, sind dem Attentäter bezüglich der Planung und Ausführung seiner Tat nicht
hinnehmbare Unzulänglichkeiten und Versäumnisse vorzuwerfen. Damit ist seine Tat als
Ganze nicht vorbildlich. Die Handlungsweise dieses Attentäters kann nicht zur Nachahmung
empfohlen werden - und zwar ungeachtet der legitimen Intention, der herausragenden Tatkraft
und des außergewöhnlichen Mutes von Elser".
Dieser Text ist entlarvend. Weil zu keiner Zeit und an keinem Ort Elsers Tat zur "Nachahmung
empfohlen" worden ist, gründet sich die ganze Argumentation des Verfassers auf
eine Unterstellung. Damit könnte es sein Bewenden haben. Weil sein Buch sich allgemein
gegen die Arbeit an NS-Gedenkstätten wendet, knüpft es an einen alten Streit an, der seine
Brisanz aus der Verzeichnung dieser wichtigen "außerschulischen Lernorte" zog: Gedenkstätten
dienen nicht der politischen Korrektheit, sondern klären historisch-politische Prinzipien.
Sie wollen zur Bildung von Maßstäben beitragen, um die Fähigkeit und die Bereitschaft
zu stärken, die nicht selten als Ausdruck eines "antitotalitären Konsenses"
beschworen wird.
Gedenkstätten geht es um die Befähigung, einen Unrechtsstaat zu erkennen. Sie wollen
die Bereitschaft entwickeln, sich zu empören und sich innerlich mit denen auseinanderzusetzen,
die in der Auseinandersetzung mit dem staatlichem Unrecht der NS-Zeit "ihren Weg
konsequent zu Ende" gingen (J. Leber). Es geht den Gedenkstätten um die Einsicht in den
zutiefst verbrecherischen Charakter des NS-Staates, der sich über Menschenleben hinwegsetzte
nach dem Wahlspruch: "Recht ist nicht gleich Recht, Mensch ist nicht gleich
Mensch". In der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat lassen sich Grundsätze einer menschenwürdigen
Ordnung entwickeln, die in der "Menschenwürde als Verpflichtung alles
staatlichen Gewalt" den zentralen Bezugspunkt finden.
Die deutschen NS-Gedenkstätten stellen sich gegen die Verbrämung des NS-Staates als
Ausdruck einer von der Rechten immer wieder beschworenen "Volksgemeinschaft". Gedenkstätten
geraten deshalb zunehmend in das Visier der rechten und rechtsextremistischen
Publizistik. So ist es nicht verwunderlich, dass die Berliner Wochenzeitung "Junge Freiheit"
die Argumentation von Fritze aufnahm und zuspitzte. Stefan Scheil, ein auch in der "Frankfurter
Allgemeinen" schreibender Autor, ist mehrfach durch Meinungen aufgefallen, die an
geschichtsrevisionistische Argumentationen erinnern. Er bezweifelt die deutsche Verantwortung
für den Weltkrieg und ist davon überzeugt, dass Deutschland nur einen Präventivkrieg
führte. Sein Blick auf die Arbeit von Fritze stellt sich so dar:3) "Vor einigen Jahren hat
sich Professor Lothar Fritze einmal sehr viel öffentlichen Ärger eingehandelt. Der Wissenschaftliche
Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung hatte 1998
in seiner Antrittsvorlesung beiläufig die Frage aufgeworfen, ob das Bombenattentat auf Hitler
am 9. November 1939 wirklich als vorbildlicher Widerstandsakt gelten kann. Schließlich
nahm der Attentäter Johann Georg Elser den möglichen Tod und die Verletzung hunderter
anderer Menschen in Kauf. Nur weil Hitler seine Rede abgebrochen und der Saal sich schon
geleert hatte, blieb es bei wenigen Verletzten und Toten, darunter einer jüdischen Kellnerin.
Der Frage, ob es moralisch gerechtfertigt ist, möglicherweise Hunderte zu töten, um dabei
einen Einzelnen mit zu treffen, geht Fritze nun noch einmal ausführlich nach, in einem Buch
unter dem Titel: "Legitimer Widerstand? - Der Fall Elser." Er stellt die weiteren Fragen, ob
Elser nicht andere Attentats-Methoden hätte versuchen können, die sich direkter gegen Hitler
richteten, der schließlich damals ständig im offenen Wagen durch Deutschland fuhr.
Auch ob Elser tatsächlich aus politischen Motiven oder aus persönlichem Ehrgeiz ("Von mir
werdet ihr noch hören") gehandelt hat, ändert für Fritze die Bewertung seiner Tat. Schließlich
bezieht Fritze die Überlegung ein, ob ein einzelnes Attentat überhaupt das Regime gestürzt
hätte und ob es nicht schon deswegen fragwürdig sei, weil das wohl kaum der Fall gewesen
wäre. Fritze läßt keinen Zweifel daran, daß er Elsers Attentat insgesamt nicht für
traditionswürdig hält und die diesbezüglichen Anstrengungen etwa von Peter Steinbach für
unangemessen. Er geht so weit, aktuelle Parallelen zu ziehen und ein mögliches Vorbild
Elser als beliebiges Vorbild für jedermann zu skizzieren, der irgendwen in die Luft sprengen
will. Der öffentliche Aufschrei blieb diesmal aus. Es ist schon eine merkwürdige Sache mit
den intellektuellen Debatten in diesem Land."
So ist ein Skandal öffentlich zu machen: Er besteht nicht darin, dass sich ein Professor aus
Chemnitz gegen Angriffe wehrt. Er besteht darin, dass ein Hochschullehrer dieses Zuschnitts
sächsische Sozialkundelehrer ausbildet und mit ihnen die Probleme politischer Bildung
und politischer Ethik diskutiert. Lässt man sich auf seine Argumente ein, dann kann es
für den einfachen Mann nur eine Verhaltensweise in der Diktatur geben: Risiken zu vermeiden,
wird doch jede Auflehnung gegen eine Diktatur möglicherweise völlig Unbeteiligte mit
negativen Folgen belasten. Um solche "praktische Tatenlosigkeit" geht es bei der Erziehung
zur Zivilcourage, einem Ziel politischer Bildung, aber gerade nicht!
Fritzes Buch ist keine Neuauflage der zehn Jahre alten Diskussion, sondern eine Rechtfertigungsschrift,
die offenbart, dass der Chemnitzer Gelehrte unbelehrbar bleibt. Ich zweifele,
ob er geeignet ist, Sozialkunde- und Gemeinschaftskundelehrer auszubilden. Ich bemühe
auch nicht die Namensgeberin des Instituts, an dem er in Dresden seine
Totalitarismus-Studien betreibt. Hannah Arendt hat einen wichtigen Essay über "Wahrheit
und Lüge in der Politik" geschrieben. Fritzes Buch illustriert den Selbstbetrug eines Wissenschaftlers.
Zuweilen larmoyant, zuweilen aggressiv, immer wieder sehr punktuell Zitate
klitternd, gibt er vor, ein zentrales moralisches Problem zu behandeln, das gerade im 20. Jahr
nach dem Sturz eines anderen diktatorischen Systems bedeutsam ist. Er macht jene Anpassung,
Zurückhaltung, politische Passivität in Argumenten deutlich, die nur den Begriff des
Widerstands benutzen, ohne ihn mit Leben zu erfüllen.
Für mich steht nach wie vor fest: Am 8. November 1939 hätte der Lauf der Geschichte
eine Wendung nehmen können. Seit dem 1. September 1939 stand die Welt im Banne des
Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen. Polnische Städte waren von deutschen Sturzkampfbomben
terrorisiert worden. Die Nationalsozialisten behaupteten nicht nur, sie hätten
lediglich zurückgeschossen, sondern begannen bereits mit der Vertreibung der polnischen
Bevölkerung aus den annektierten Gebieten. Dies war nur der Anfang eines großen Leidens.
Die deutsche Besatzungsherrschaft zielte auf die Errichtung der Vernichtungslager, auf Völkermord.
Der Zweite Weltkrieg war ein Rassen- und Weltanschauungskrieg, ein Verbrechen.
Jeder, der diesen Krieg zu verhindern suchte, ist von den Nachlebenden zu Recht später legitimiert
worden. Dies galt auch für den deutschen Widerstand, für alle, die sich der Kriegsmaschinerie
verweigerten. Erst jüngst sind die sogenannten "Kriegsverräter" rehabilitiert
worden - eine Folge der Erkenntnis, dass Hitlers Regime verbrecherisch war. Was damals
recht war, ist es heute längst nicht mehr.
1)
Lothar Fritze, Legitimer Widerstand? Der Fall Elser, Berlin 2009, S.11
2)
Ebda. S. 9
3)
Stefan Scheil, Die Moral des Bombenlegens, in: Junge Freiheit 9. 10. 2009
Univ.-Prof. Dr. Peter Steinbach, geboren 1948 in Lage, 1979 Habilitation an den Fachbereichen Geschichts- und
Politikwissenschaft der FU Berlin, seit 1989 wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher
Widerstand in Berlin, 2001 bis 2007 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Karlsruhe.
Seit 2007 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim.