Die Entdeckung des Berliner Verhörprotokolls
Von Lothar Gruchmann, Historiker
Mit Georg Elser hat mich das Schicksal in besonderer Weise verbunden. Dies ist keine wissenschaftliche Abhandlung: Ich werde sozusagen etwas aus dem Nähkästchen plaudern.
1964 entdeckte ich das Protokoll vom Verhör Georg Elsers im November 1939 durch die Gestapo in Berlin bei meinen Recherchen zur Justiz im Dritten Reich in den Akten des Reichsjustizministeriums. Dort hätte es niemand vermutet, da die Justiz mit dem Fall Elser nicht befasst war. Die Staatsanwaltschaft hatte Weisung, keine Ermittlungen zu führen, sondern die Ermittlungen der Gestapo zu überlassen.
Gesucht hatte dieses Protokoll schon gar keiner, da man annahm, dass es die Gestapo 1945 vernichtet hatte, wie das auch mit dem Protokoll von Elsers erster Vernehmung im Wittelsbacher Palais in München am 14. November 1939 geschehen war.
Die Akten des Reichsjustizministeriums befanden sich damals im Archiv des Bundesjustizministeriums in einer Baracke unterhalb der Rosenburg auf dem Venusberg bei Bonn, die damals Sitz des Ministeriums war. Sie wurden erst später an das Bundesarchiv in Koblenz abgegeben.
Ich hatte vom Institut für Zeitgeschichte den Auftrag, mir einen Überblick über jene Akten zu verschaffen, die dann leihweise, immer schubweise, befristet, zur Auswertung für das Justizprojekt an das Institut für Zeitgeschichte nach München geschickt werden sollten. Dieses Justizprojekt leitete damals der ehemalige Bundesgerichtshofspräsident Weinkauff.
Erste Reaktion: Völlig uninteressant
In dem Aktenverzeichnis fand ich den Vermerk "Sprengstoffattentat im Bürgerbräukeller 8.11.1939". Das besagte nun gar nichts. Es stand weder was von Protokoll, noch war der Name Elser erwähnt. Es konnten Zeitungsausschnitte des Ministeriums aus der damaligen Presse sein, die sich in den Akten befanden.
Jedenfalls war der Titel für mein Justizthema völlig irrelevant. Die Befassung mit diesem Thema "Bürgerbräuattentat", das ich vom Studium her und aus der Literatur nur als ein gestelltes Attentat kannte, schien mir damals völlig uninteressant.
Für mich war das eine abgehakte Sache. Und ohne mir die Akte zur Einsicht vorlegen zu lassen, ich stand damals stark unter Zeitdruck, nahm ich sie aus reiner Neugierde in die Liste der zu übersendenden Akten auf.
Nur auf Weisung des Abteilungsleiters zu öffnen
Erst als diese Akte nach Monaten mit einer der nächsten Schubsendungen nach München ankam, sah ich, dass es sich um das Vernehmungsprotokoll handelte. Das einzig verbliebene Exemplar, das vom Justizministerium eben nicht vernichtet worden war.
Diese Akten befanden sich in ziemlich ungeordnetem Zustand. Ihr äußerer Zustand war so, dass man alle Viertelstunde das Bedürfnis hatte, sich die Hände zu waschen. In die Akten schien seit dem Zusammenbruch niemand hineingesehen zu haben. Ich fand verschlossene Umschläge mit der Aufschrift: "Nur auf Weisung des Abteilungsleiters zu öffnen." Diese Weisung habe ich mir dann allerdings selbst erteilt.
Ich habe mich seither immer wieder gefragt, warum jene Fügung, auf die wir Menschen keinen Einfluss haben, ausgerechnet mir und keinem anderen dieses Dokument in die Hände gab. Und ich habe in diesem Geschehen für mich den verpflichtenden Auftrag gesehen, Georg Elser zu der verdienten Anerkennung als einem Mann des deutschen Widerstandes zu verhelfen. Denn in diesem Protokoll treten das Handeln und die Motive Elsers, die seine Charakterisierung als Widerstandskämpfer begründen, klar zutage.
Kein Kopiergerät: Abschriften, Auszüge, Fotos
Die Aktenauswertung war damals zeitraubend. Man muss sich überlegen: Es gab kein Kopiergerät wie heute, es mussten Abschriften gefertigt, Auszüge gemacht werden. Man konnte photographische Kopien machen, das musste allerdings im Hause geschehen, weil wir die Akten nicht nach auswärts an irgendeine Firma geben konnten.
Ich habe selbst tagelang in einer Wanne mit kaltem Wasser gepanscht, in der die Kopien zur Entwicklung schwammen. Nebenbei war ich damals noch damit beschäftigt, mein Buch beim Deutschen Taschenbuchverlag zum Zweiten Weltkrieg zu schreiben, was dann 1967 erschien.
Anton Hochs Recherchen bestätigten das Protokoll
Nun mag der Laie sicherlich die Vorstellung haben, dass man nun mit einem Paukenschlag an die Öffentlichkeit gegangen sei: "Sensation! Elser-Frage gelöst!" Aber dem war nicht so. Die Wirklichkeit vollzog sich unter sehr gedämpftem Trommelklang.
Während dieser Zeit betrieb ich selbst keine Elser-Forschung. Ich war voll auf mein Justizthema konzentriert. Ich überließ das Protokoll kollegialer Weise zunächst einmal meinem Institutskollegen Dr. Anton Hoch zu Auswertung, der schon seit 1962 im Auftrag des Instituts an der Erforschung des Bürgerbräuattentats arbeitete. Mein einziges Interesse war eine wissenschaftliche, nicht eine journalistische Verwertung dieses Protokolls. Ich behielt mir aber die Veröffentlichung des Textes vor.
Es ist Hochs Verdienst, den Inhalt der Aussagen Elsers im Protokoll durch umfangreiche Recherchen und Befragungen überprüft und Elsers Alleintäterschaft wissenschaftlich nachgewiesen zu haben. Diese Unterlagen sind heute noch im Archiv des Instituts einzusehen.
Veröffentlichung der Protokolle
Nachdem Hoch dann seine Forschungsergebnisse 1969 in den Vierteljahresheften veröffentlicht hatte, erschien 1970 meine Publikation des Protokolls mit dem Titel: "Autobiographie eines Attentäters" mit einer umfassenden Einleitung und zeitgeschichtlich kommentiert. Ich musste damals noch die Genehmigung des Bundesjustizministeriums für die Veröffentlichung einholen. Justizminister war damals Jahn und ich musste aus Gründen des Personenschutzrechtes die Namen abgekürzt wiedergeben.
Die zweite Auflage des Buches erschien 1989, zum 50. Jubiläum des Attentats zusammen mit dem Brandauer-Film. Der Verlag gab sozusagen das "Buch zum Film" heraus und zu meinem Verdruss fand ich dann auf der Titelseite statt Elser den Brandauer abgebildet.
Geschichte musste umgeschrieben werden
Obwohl nun damit seit 1969/70 die Alleintäterschaft Elsers wissenschaftlich feststand, dauerte es noch Jahre, bis die Neuerscheinungen oder die Neuauflagen der bekannten zeitgeschichtlichen Literatur diese These übernahmen. Die Weiche war zwar gestellt, aber der Zug rollte trotzdem mit der Trägheit des Eigengewichts auf dem falschen Gleis weiter.
Ein Beispiel: Alan Bullock, der in seiner bekannten Hitler-Biographie vom "gestellten Attentat" ausging, auch in allen weiteren Ausgaben, übernahm erst in seiner vergleichenden Biographie von Hitler und Stalin, die deutsch 1991 erschien, die These der Alleintäterschaft.
"Widerstandsaristokratie"
Entsprechend lange brauchte auch die Anerkennung Elsers als Widerstandskämpfer in der Öffentlichkeit, obwohl seine politischen und moralischen Motive nunmehr klar ersichtlich waren. Die einflussreichen elitären Schichten, denen die Offiziere und Politiker des 20. Juli entstammten - gelegentlich als "Widerstandsaristokratie" bezeichnet - hatten kein großes Interesse, den kleinen Mann aus kleinbürgerlich-proletarischen Verhältnissen an ihre Seite gestellt zu sehen.
Schon gar nicht, weil er zu einer Zeit zur Tat geschritten war, in der weitere Verbrechen und Blutvergießen hätten verhindert werden können, während sich die Offiziere, die sich lange Zeit zumindest mit den Anliegen Hitlers identifizierten, erst zum Attentat entschlossen, als sich die Verbrechen der Nazis auf ganz Europa ausgedehnt hatten und der Krieg für Deutschland verloren war.
Damit soll die mutige Tat der Männer des 20. Juli nicht geschmälert werden, aber gerade der Zeitpunkt von Elsers Tat verdient seine Einreihung in den deutschen Widerstand an hervorragender Stelle.
Fehlende Pressure Group für Elser
Verzögernd kam hinzu, dass kein Widerstandskreis den Einzelgänger für sich vereinnahmen konnte: Weder die kommunistische oder gewerkschaftliche, noch die bürgerlich-liberale, noch die kirchliche Opposition beider Konfessionen, auch kein jüdischer Verfolgtenverband. Selbst in der DDR wurde Elser totgeschwiegen, da er nicht dem organisierten kommunistischen Widerstand zuzurechnen war.
Manfred Bühl (Elsers Sohn) und Lothar Gruchmann 1997 bei der Einweihung des Georg-Elser-Platzes in München
Folglich gab es aus diesen Richtungen keine Pressure Group und keine Lobby, die sich für die öffentliche Anerkennung und Ehrung Elsers einsetzten. Das ist den rührigen Elser-Initiativen in Heidenheim, Bremen und München zu verdanken.
Durchbruch 1994
Einen wirklichen Durchbruch brachte erst die Gedenkrede des Bundeskanzlers Kohl zum 50. Jahrestag des 20. Juli im Jahr 1994.
Seitdem hat Elser erfreulicherweise zahlreiche Ehrungen erfahren. In verschiedenen Städten und Ortschaften sind Straßen und Plätze nach ihm benannt worden, in München eine Gedenkplatte am Platz des ehemaligen Bürgerbräukellers, die 1989 eingeweiht und der Georg-Elser-Platz an der Türkenstraße, der 1997 getauft wurde. 2003 hat die Bundespost eigens eine Sondermarke für Elser herausgegeben.
Quelle: Vortrag anlässlich der Fotodokumentation zum 65. Jahrestag des Bürgerbräuattentats vom 12. Oktober bis 8. November 2004 in München
Dr. Dr. h.c. Lothar Gruchmann war Historiker und Politologe und lebte in München. Er war von 1960 bis 1992 Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München. 2002 wurde Gruchmann wegen seiner Verdienste um die Erforschung der NS-Justizgeschichte mit der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität München ausgezeichnet.
1964 entdeckte Gruchmann in den Akten des ehemaligen Reichsjustizministeriums in Bonn das 203 Seiten umfassende Protokoll von Elsers 5-tägiger Vernehmung durch die Gestapo vom 19. bis 23. November 1939 in Berlin. Die Veröffentlichung erfolgte in:
Lothar Gruchmann (Hrsg.), Johann Georg Elser. Autobiographie eines Attentäters. Aussage zum Anschlag im Bürgerbräukeller, Stuttgart 1970.