Zur Ergänzung der Geschichte jener Herbstmonate muss noch eine seltsame, aber faszinierende Episode erwähnt werden - der Anschlag auf Hitlers Leben am 8. November 1939 in München.
Während die Verschwörer der Widerstandsgruppe um Beck und Oster langsam die Hoffnung aufgaben, das Oberkommando zu einer Aktion zu bewegen, überraschte sie die Nachricht, dass im Bürgerbräukeller in München eine Bombe explodiert war, kurz nachdem Hitler seine Rede zum Jahrestag des Putsches von 1923 beendet hatte. Zwei Agenten des englischen Geheimdienstes, die im Verdacht standen, von dem Komplott gewusst zu haben, wurden über die holländische Grenze gelockt und abgefangen. Gleichzeitig wurde ein Tischler mit Namen Georg Elser an der Schweizer Grenze verhaftet; in seinem Besitz fand man eine durch Zeichen markierte Aufnahme vom Innern des Saales.
Dass die Widerstandsgruppe von dieser Nachricht überrascht war, ist nicht verwunderlich, denn das Attentat auf Hitler wurde in Wahrheit von der Gestapo organisiert: es sollte dazu dienen, des Führers Popularität im Lande zu steigern. Elser, ein geschickter Kunsttischler, der unter die Kommunisten geraten war, wurde von der Gestapo aus dem Konzentrationslager Dachau, wohin man ihn zur "Umschulung" geschickt hatte, herausgeholt. Man versprach ihm die Freiheit, falls er tun würde, was man ihm sagte. Zweimal wurde er nachts in den Bürgerbräukeller in München geführt. Dort befahl man ihm, in einer Säule, unweit der Stelle, an der Hitler während seiner Rede stehen würde, eine Ladung Explosivstoff einzubauen. Mit dem Sprengstoff wurde ein Wecker eingebaut, aber nicht mit dem Zünder verbunden; dieser konnte nur von außerhalb durch elektrischen Strom in Funktion gesetzt werden.
Der 8. November war einer der besonderen Tage im Nazikalender;
ein Tag, an dem Hitler nie versäumte, zum Jahrestreffen mit seinen Alten Kämpfern in München zu erscheinen. Auch diesmal wohnte er wie gewöhnlich der Feier im Bürgerbräukeller bei, kürzte jedoch seine Rede ab und ging frühzeitig fort. Bald nach seinem Fortgang wurde der Saal durch eine gewaltige Explosion zerstört, wobei mehrere Parteigenossen getötet und viele andere verletzt wurden.
Hitlers Sekretärin, die mit dem Führer im Zug nach Berlin zurückfuhr, beschreibt das Eintreffen der Nachricht in dem Augenblick, als sie nach Nürnberg kamen. Es ist möglich, dass Hitler über den ganzen Plan nicht unterrichtet war. Jedenfalls nahm er sofort die Gelegenheit wahr, in seiner Rettung einen Beweis für das Walten der Vorsehung zu sehen. In seinen Augen loderte die Erregung, als er sich im Sitz zurücklehnte und ausrief: "Jetzt bin ich völlig ruhig. Dass ich den Bürgerbräu früher als sonst verlassen habe, ist mir eine Bestätigung, dass die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will 606)."
Goebbels nutzte den Zwischenfall weidlich aus, um den Groll gegen die Defaitisten zu schüren und Hitler als den begnadeten Führer darzustellen, dessen Intuition allein ihn vor dem Tode bewahrt habe. Elser wurde 400 Meter vor der Schweizer Grenze freigesetzt, aber sofort wieder verhaftet, als er versuchte, sie zu überschreiten. Die deutsche Presse schlachtete seine kommunistischen Beziehungen aus und entwarf das düstere Bild einer Verschwörung, in der sowohl Otto Strasser wie der englische Geheimdienst hervorragende Rollen spielten. Eine Zeitlang war davon die Rede, dass ein großer Prozess gegen die beiden entführten englischen Agenten stattfinden und Elser als sorgfältig dressierter Kronzeuge, beweisen sollte, dass der Anschlag von den Engländern organisiert worden sei. Die Tatsache, dass es niemals zu dem Prozess gekommen ist, deutet darauf hin, dass am Spiel der Gestapo irgend etwas nicht gestimmt hat. Es war ein wenig zu fahrplanmäßig verlaufen. Das deutsche Volk blieb bei seiner gleichmütigen Skepsis der von der göttlichen Vorsehung gewollten Rettung seines Führers 607).
606) A. Zoller: Hitler privat, S. 181. 607) Diese Darstellung beruht auf dem Bericht von Captain Payne Best, einem der an
der holländischen Grenze entführten englischen Offiziere. Captain Best erfuhr Elsers Geschichte von diesem selbst
während ihrer gemeinsamen Gefängnishaft. Siehe
S. Payne Best, The Venlo Incident. London, 1950, S. 128-136.
Quelle: Alan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Düsseldorf 1959, S. 572 ff (Erstausgabe London 1952)
Alan Louis Charles Bullock, Baron Bullock of Leafield (* 13. Dezember 1914 bei Bath, England; 2. Februar 2004)
war ein britischer Historiker.
Bullock studierte in Oxford Geschichte und graduierte 1938, um dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter
von Winston Churchill an dessen Buch "History of the English-Speaking Peoples" mitzuarbeiten.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er für den Europa-Dienst der BBC.
Nach dem Krieg lehrte er in Oxford und gründete das St. Catherine's College.
Mit dem Buch "Hitler: A Study in Tyranny" veröffentlichte Bullock 1952 die erste große Biografie
über Adolf Hitler, die lange Zeit das Standardwerk der Hitlerforschung blieb.
1991 legte Bullock die Doppelbiografie "Hitler and Stalin: Parallel Lives" vor.
Bullock war sein Leben lang ein Anhänger der Labour Partei. Seine gemäßigten sozialistischen
Ansichten beeinflußten seine historischen Arbeiten.
Wegen seiner Verdienste wurde Bullock 1972 geadelt und im Jahre 1976 als Lord auf Lebenszeit in das britische
Oberhaus berufen.