Der Mann, der es tat

Leben und Nachleben des Widerstandskämpfers Georg Elser - des ersten und (neben Stauffenberg) einzigen Deutschen, der versucht hat, Hitler zu töten. - Teil 1

Von Peter Steinbach und Johannes Tuchel


Berlin, 5. April 1945: Während sich sowjetische Truppen der Reichshauptstadt nähern, beschließt die NS-Führung den Mord an prominenten Gefangenen des Regimes. Hitlers und Himmlers Entscheidungen sollen von Gestapo-Chef Heinrich Müller in die Tat umgesetzt werden, der den Auftrag gleich an den SS-Standartenführer Walter Huppenkothen weitergibt. Zunächst fährt Huppenkothen ins KZ Sachsenhausen. Hier ist er am 6. April "Ankläger" eines Standgerichts, das dem Mord an dem Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi einen justizförmigen Anschein verleihen soll. In derselben Funktion beteiligt sich Huppenkothen im KZ Flossenbürg zwei Tage später an der Ermordung des Theologen Dietrich Bonhoeffer, des ehemaligen Abwehrchefs Wilhelm Canaris, des Abwehroffiziers Ludwig Gehre und des Chefs der Heeresjustiz, Karl Sack. Sie alle werden am Morgen des 9. April gehenkt. Von Flossenbürg aus fährt ein Begleiter Huppenkothens nach Dachau, einen weiteren Mordbefehl in der Tasche. Es ist ein Brief Müllers an den Kommandanten des KZ Dachau, SS-Sturmbannführer Eduard Weiter: "Auch wegen unseres besonderen Schutzhäftlings 'Eller' wurde erneut an höchster Stelle Vortrag gehalten. Folgende Weisung ist ergangen: Bei einem der nächsten Terrorangriffe auf München bezw. auf die Umgebung von Dachau ist angeblich 'Eller' tötlich verunglückt. Ich bitte, zu diesem Zweck 'Eller' in absolut unauffälliger Weise nach Eintritt einer solchen Situation zu liquidieren. Ich bitte besorgt zu sein, dass darüber nur ganz wenige Personen, die ganz besonders zu verpflichten sind, Kenntnis erhalten. Die Vollzugsmeldung hierüber würde dann etwa an mich lauten: Am ... anlässlich des Terrorangriffs auf ... wurde u. a. der Schutzhäftling 'Eller' tötlich verletzt." Damit verfügt der Kurier über ganz konkrete Mord- und Tarnanweisungen des Schreibtischtäters Heinrich Müller, als er am Abend des 9. April in Dachau eintrifft. Die Methode hatte sich bereits bei der Erschießung des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann am 23. August 1944 im KZ Buchenwald "bewährt".

Doch die Führung des völlig mit verhungernden Häftlingen überfüllten KZ Dachau hat andere Sorgen als die sorgfältige Vertuschung eines einzelnen Mordes und wartet nicht erst einen Luftangriff ab. Noch am selben Abend wird der Häftling "Eller" aus seiner Doppelzelle geholt und in der Nähe des alten Krematoriums von einem SS-Oberscharführer erschossen, die Leiche am nächsten Tag verbrannt.

"Eller" - das war Georg Elser, der Mann, der noch in letzter Stunde ermordet wurde, weil er, als erster und neben Stauffenberg einziger Deutscher, dem Ziel, Hitler zu töten, denkbar nahe gekommen war: Am Abend des 8. November 1939 hatte seine Bombe den Diktator im Münchner Bürgerbräukeller nur um 13 Minuten verfehlt. Elser "durfte" als Häftling bis April 1945 überleben, weil ihm nach einem gewonnenen Krieg ein großer Schauprozess gemacht werden sollte. Denn seit Ende 1939 galt die NS-Propagandaversion, dass der britische Geheimdienst Urheber des Attentats und der Schreiner Elser nur ein Werkzeug gewesen sei. Erst als der Münchner Historiker Lothar Gruchmann in den sechziger Jahren ein ausführliches Vernehmungsprotokoll Elsers in den Akten des Reichsjustizministeriums fand, wurden Motive, Überzeugungen und der biografische Hintergrund des Widerstandskämpfers deutlich.

Mit dem Anschlag will er den Krieg aufhalten

Geboren 1903 im württembergischen Hermaringen, wächst Georg Elser in Königsbronn unter schwierigen Verhältnissen auf. Der Vater trinkt, die Familie verarmt. Schon früh gilt Elser als handwerklich und zeichnerisch besonders begabter Schüler. Nach siebenjähriger Schulzeit und einer Lehre im Hüttenwerk Königsbronn, die er aus gesundheitlichen Gründen abbrechen muss, wird er Schreiner. Elser arbeitet exakt, überprüft immer wieder das Geschaffene. Er empfindet Stolz auf seinen Beruf, verlangt aber auch angemessenen Lohn; sein Sinn für Gerechtigkeit ist wach und empfindlich. Sowohl im Berufs- als auch im Privatleben legt er Wert auf seine Unabhängigkeit: Er fällt seine eigenen, von anderen nicht immer akzeptierten Entscheidungen. Mehrfach muss er in den wirtschaftlichen Wirren der späten zwanziger Jahre seinen Arbeitsplatz wechseln. Dies wurde später fälschlich als Unrast ausgelegt, tatsächlich ist die schlechte Auftragslage die Ursache, denn er wird überall wegen seiner perfekten Arbeit geschätzt.

Georg Elser gilt als ein zwar schweigsamer, aber dennoch geselliger Mensch. Seit seiner Schulzeit musiziert er. Er spielt Zither, im Gesangsverein von Königsbronn auch den Kontrabass und musiziert oft auf Tanzabenden. Zusammen mit Freunden wandert er über die Alb und durch den Schwarzwald. Die Frauen mögen ihn, und er mag die Frauen. Seine Freundin Mathilde Niedermann bringt 1930 einen Sohn, Manfred, zur Welt.

Politische Anregungen und Anstöße scheint Elser erst während seiner Lehrzeit erhalten zu haben. Er wird Mitglied im Holzarbeiterverband und tritt 1928/29 dem kommunistischen Roten Frontkämpferbund bei, ohne sich in beiden Organisationen stark zu engagieren. Bis 1933 wählt er nach eigener Aussage die KPD, weil er sie für die beste Vertretung der Arbeiterinteressen hält.

Die nationalsozialistische "Bewegung" lehnt Elser von Anfang an entschieden ab. Den braunen Aufzügen geht er aus dem Weg; er verweigert konsequent den Hitlergruß und nimmt auch nicht an den gemeinsamen Sitzungen vorm Volksempfänger teil, wenn der Führer spricht. Schon das zeigt, wie sich ein Einzelner den Zumutungen der NS-Herrschaft selbst im überschaubaren dörflichen Milieu entziehen konnte.

Elsers Politikverständnis ist stark geprägt von seinem eigenen Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit. Daher bleibt auch ein erstes und wichtiges Motiv für seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den Jahren nach 1933. Vor der Gestapo sagt er dazu später: "So z. B. habe ich festgestellt, dass die Löhne niedriger und die Abzüge höher wurden. ... Der Stundenlohn eines Schreiners hat im Jahr 1929 eine Reichsmark betragen, heute wird nur noch ein Stundenlohn von 68 Pfennigen bezahlt." Auch andere Missstände bedrücken Elser: "Der Arbeiter kann z. B. seinen Arbeitsplatz nicht mehr wechseln, wie er will; er ist heute durch die HJ nicht mehr Herr seiner Kinder."

1937/38 tritt ein anderes Motiv in den Vordergrund: Elser beobachtet die umfangreichen Kriegsvorbereitungen. Er erlebt, dass die Westmächte den territorialen Forderungen Deutschlands im September 1938 auf der Münchener Konferenz nachgeben: Deutsche Truppen marschieren in der Tschechoslowakei ein und besetzen das "Sudetenland". Doch dies ist für die aggressiven Pläne von Wehrmacht und NS-Führung nur ein Aufschub. Für Elser ist "ein Krieg unvermeidlich". Selbst in der geschraubten Sprache des Gestapo-Protokolls vom November 1939 bleibt dieses Motiv noch deutlich: "Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die 'Obersten', ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser 3 Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, 'die kein fremdes Land einbeziehen wollen' und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden." Der konsequente Kriegsgegner Elser ist zum Tyrannenmord entschlossen.

Um einen geeigneten Ort für den Anschlag zu finden, fährt er am 8. November 1938 nach München zum Jahrestag des Hitlerputsches von 1923. Nach Hitlers Rede kann er am selben Abend den unbewachten Bürgerbräukeller besichtigen. Am 9. November beobachtet Elser den Erinnerungsmarsch der NS-Spitze durch München und fährt nach Königsbronn zurück. Sein Entschluss steht fest: Das Lokal ist der Ort, wo es geschehen soll.

Elser bereitet die Tat zielstrebig vor. An seinem Arbeitsplatz in der Heidenheimer Armaturenfabrik kann er sich mindestens 250 Presspulverstücke und einige Zünder beschaffen. Er versteckt sie zu Hause im Kleiderschrank, später in einem Holzkoffer mit doppeltem Boden. Mit zwei Uhrwerken baut er einen Zeitzünder. Im Herbst 1938 prüft er auch Fluchtmöglichkeiten in die Schweiz; im April 1939 besucht er erneut München, um die Bewachung des Saales und seine Zugänge zu überprüfen. Zudem misst er die Säule aus, in die er die Bombe einbauen will - sein Versuch allerdings, eine Anstellung im Bürgerbräu zu erhalten, scheitert.

Seit April 1939 arbeitet Elser in einem Königsbronner Steinbruch, wo er mehr als 100 Sprengpatronen und über 125 Sprengkapseln entwenden kann. Im Juli unternimmt er Zündversuche im Obstgarten seiner Eltern, kurz darauf zieht er nach München.

In Schwabings Türkenstraße, bei Karl und Rosa Lehmann, findet er Quartier. Tagsüber arbeitet er gelegentlich für einige Handwerker, die auch (ohne ihr Wissen) einzelne Teile für den Sprengkörper fertigen. Abend für Abend versteckt er sich auf der Galerie des Saales im Bürgerbräu und lässt sich nach Lokalschluss unbemerkt dort einschließen. Mit einfachen Werkzeugen gelingt es ihm, in mehr als 30 Nächten zwischen August und November die Säule hinter dem Rednerpult zu präparieren.

Die Arbeit ist mühsam, Elser arbeitet im Knieen. Einige Male wird er im Saal überrascht. Er fängt den Schutt in einem selbst gefertigten Sack auf, sammelt das Ganze in einem Karton und beseitigt es tagsüber unter den Augen der Kellnerinnen. Wenn der Karton "voll war, bin ich um die Mittagszeit mit einem Handkoffer von der Kellerstrasse aus durch den rückwärtigen Eingang in den Saal gegangen, begab mich in mein Versteck und schüttete den Inhalt des Kartons in den Koffer. Dann verliess ich mit dem Koffer den Saal auf dem gleichen Weg und begab mich damit zu Fuss in die Anlagen hinter dem Volksbad, wo ich im Hochwasserbett der Isar bei dem dort befindlichen Schutthaufen den Koffer entleerte. ... Auf diese Weise habe ich ungefähr 2 - 3 mal den durch meine Arbeit anfallenden Schutt aus dem Bürgerbräu gebracht."

Er arbeitet im Wettlauf mit der Zeit, denn bis zur Kundgebung im November müssen die Vorbereitungen abgeschlossen sein. Den Krieg, den Deutschland am 1. September mit dem Überfall auf Polen beginnt, kann Elser nicht mehr verhindern. Aber dies bestärkt ihn in seinem Vorhaben. Mit seiner Tat will er "noch größeres Blutvergießen" - die Ausweitung des Krieges im Westen - vermeiden.

Die meisten Bestandteile seines Sprengkörpers fertigt Elser selbst. Lediglich einzelne Metallstücke lässt er in verschiedenen Werkstätten bearbeiten. In der Nacht vom 2. auf den 3. November baut er die Bombe in die Säule ein und verfüllt den restlichen Hohlraum zusätzlich mit Sprengstoff und Pulver. Seinen komplizierten Zündapparat, der sechs Tage im Voraus eingestellt werden kann, installiert er (nach einem am Abend zuvor gescheiterten Versuch) in der Nacht vom 5. auf den 6. November. Am Morgen des 6. November stellt er beide Uhrwerke auf den Abend des 8. November ein. Er lässt, wie er später bekennt, "damit der Sache ihren freien Lauf". Nach einer letzten Überprüfung des Uhrwerks in der Nacht zum 8. November verlässt Georg Elser München.

Doch eine unerwartete Wendung scheint den gesamten Plan gleich zu durchkreuzen: Hitler ist zunächst fest entschlossen, wegen des Krieges und des aus seiner Sicht unmittelbar bevorstehenden Angriffs deutscher Truppen im Westen erstmals bei den Feiern zum Jahrestag des Putsches nicht selbst zu reden. Statt seiner soll Rudolf Heß auftreten. Aber dann entschließt sich Hitler doch noch zu einer grundsätzlichen Rede, gewürzt mit Attacken gegen Großbritannien. Er spricht erheblich kürzer als bei früheren Feiern, weil er unmittelbar darauf nach Berlin zurück will. Wegen des Wetters kann Hitler die Reise nicht per Flugzeug antreten, sondern muss seinen Sonderzug nehmen. Gegen 21.07 Uhr verlassen der Diktator und andere hohe NS-Führer den Saal, 13 Minuten später explodiert die Bombe.

Hitlers Rednerpult liegt unter einem meterhohen Schutthaufen begraben. Die Explosion zerstört nicht nur die Säule hinter dem Podium, sondern auch die gesamte Saaldecke, sieben "alte Kämpfer" und eine Kellnerin sterben, es gibt viele Verletzte.

Sofort beginnt die Fahndung. Die Polizei löst Großalarm aus. Alle Grenzkontrollen werden verstärkt. Für die Ergreifung der Täter ist eine hohe Belohnung ausgesetzt, was Hunderte von Denunziationen zur Folge hat. Erst nach Tagen gehen konkretere Hinweise auf einen noch unbekannten "Handwerker" ein, der in den Wochen vor dem Anschlag oft im Bürgerbräukeller gesehen worden sei.

Die Flucht über die Grenze misslingt im letzten Augenblick

Elser ist am 8. November nach Konstanz gefahren, um dort illegal die Grenze zur Schweiz zu passieren. Es ist unklar, wie er auf der anderen Seite behandelt worden wäre. Auch wer die sorgfältigen Ermittlungsergebnisse liest, welche die schweizerische Polizei nach einem umfangreichen Fragenkatalog des Reichssicherheitshauptamtes Anfang 1940 zusammenstellte (von Ulrich Renz gefunden und publiziert und jüngst auch von Hellmut G. Haasis in seiner spannend geschriebenen Elser-Biografie ausgewertet), wird hierin keine Hinweise finden - dafür viele Lebensdetails bis hin zu Elsers einstigem Stundenlohn (1,20 Franken).

Aber Georg Elser erreicht die Schweiz nicht. Um 20.45 Uhr wird er von einer deutschen Zollstreife festgenommen und der Grenzpolizei übergeben. Er trägt eine Ansichtskarte des Bürgerbräukellers, ein Abzeichen des Roten Frontkämpferbundes, Aufzeichnungen über Rüstungsfertigungen sowie einige Teile des Zeitzünders bei sich: Dokumente, die seine Opposition gegen den Nationalsozialismus, möglicherweise auch seine Urheberschaft am Attentat beweisen und ihn vor einer Auslieferung nach Deutschland schützen sollen. Doch jetzt, bei seiner Festnahme, werden sie ihm zum Verhängnis. Der Zollassistent Xaver Rieger, der ihn verhaftet, darf übrigens zur Belohnung in den Rang eines Zollinspektors aufrücken, der ihn begleitende Hilfsgrenzangestellte Waldemar Zipperer wird zum Zollassistenten befördert. Zipperer ist nach 1945 als Unternehmer tätig und erhält noch im Jahr 1978 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland.

Bald darauf wird Elser nach München überführt, hier in der Staatspolizeileitstelle im Wittelsbacher Palais verhört und gefoltert. In der Nacht vom 13. auf den 14. November 1939 gesteht er seine Alleintäterschaft. Während er die ermittelnden Kriminalisten mit der Fülle seines Detailwissens überzeugen kann, schenkt die NS-Führung Elsers Behauptung, alleine gehandelt zu haben, zunächst keinen Glauben. Hitler persönlich vermutet hinter dem Anschlag den britischen Geheimdienst. Und so lesen es auch die Volksgenossen in allen deutschen Zeitungen - Ursprung jener Diffamierung des Widerstandskämpfers, welche die NS-Zeit noch um Jahrzehnte überdauern sollte.

Für Georg Elser aber beginnt ein Weg durch die Gefängnisse in München und Berlin, in das KZ Sachsenhausen und schließlich in das KZ Dachau, wo er am 9. April 1945 erschossen wird. Zurück bleibt nur seine selbst gebaute Zither, auf der er in der Einsamkeit seiner Haft gespielt hatte - bis zuletzt.


Kein Denkmal für Elser

Wie der Widerstandskämpfer nach dem Krieg verleumdet wurde. - Teil 2


Tief verletzt kämpft Georg Elsers Mutter Marie (1879-1960) in der Nachkriegszeit um die Ehre ihres Sohnes und gegen abstruse Legenden, die selbst bedeutende Historiker über ihn verbreiten. Immer wieder erzählt der bekannte evangelische Theologe Martin Niemöller die Gerüchte über Georg Elser weiter, die er als Mithäftling im KZ gehört hatte - mit fatalen Folgen. "Einer, der nicht mehr am Leben ist, kann sich nicht mehr verteidigen." Diesen bitteren Satz schreibt Georg Elsers Mutter 1946 an den Theologen Martin Niemöller. Er hatte behauptet, Elser sei Mitglied der SS gewesen, der Anschlag ein Werk der Nazis. Diese "These" ist neben der Unterstellung, Elser habe im britischen Auftrag gehandelt, eine der häufigsten Deutungen der Tat.

Erklärungsmuster, hinter denen sich mehr verbirgt. Die deutsche Zusammenbruchsgesellschaft ist um Entschuldigungen und Ausflüchte nicht verlegen. "Nazis" hatte es nur wenige gegeben, "Mitläufer" oder "Entlastete" sind die häufigsten Kategorien der von den Alliierten verordneten und oft nur widerwillig durchgeführten Entnazifizierungsverfahren. Viele Deutsche sehen sich selbst nur als Opfer: von Hitler verführt und betrogen. Den wenigen Widerständlern wird dagegen noch lange Jahre das Odium des "Verrats" anhaften. Dies gilt übrigens auch für Stauffenberg und seine Mitverschwörer und ihren Anschlag vom 20. Juli 1944. Einzugestehen, dass die Tat in München viereinhalb Jahre zuvor von einem schwäbischen Handwerker geplant und begangen worden ist, brächte das deutsche Selbstbild gehörig ins Wanken. Solche Gedanken passen nicht in das Deutschland der fünfziger Jahre. Georg Elser verkörpert den ganz anderen Deutschen - der zugleich ein ganz gewöhnlicher Deutscher war, kein adeliger Offizier, kein Priester oder hochstehender Diplomat, sondern einer von Millionen, einer "aus dem Volke".

Dabei geht die Legende, Elser sei ein Werkzeug des britischen Geheimdienstes gewesen, noch auf NS-Propagandachef Joseph Goebbels selbst zurück, der sich bereits in der Nacht nach der Tat sicher ist, dass der Anschlag "zweifellos in London erdacht" worden sei. Die Organisation des Ganzen soll Otto Strasser, der Führer der Schwarzen Front, einer Oppositionsbewegung früherer Nationalsozialisten, übernommen haben. Strasser, im Pariser Exil, geht sofort in die Offensive: Er wittert im Attentat einen "außenpolitischen Reichstags-Brand", eine nationalsozialistische Provokation, und noch nach 1945 veröffentlicht er in seinem Buch Mein Kampf (!) die eidesstattliche Erklärung eines SS-Mannes, wonach Georg Elser SS-Unterscharführer gewesen sei. Fatalerweise wird Strassers Vermutung von vielen ausländischen Blättern sogleich für bare Münze genommen und weiter kolportiert.

Um ihre Verschwörungsthese zu stützen, lenkt die NS-Propaganda die Aufmerksamkeit auf zwei britische Geheimagenten, Best und Stevens, die am 9. November im holländischen Grenzstädtchen Venlo in eine langfristig vorbereitete Falle des deutschen SD-Auslandsgeheimdienstes gelaufen waren. Die beiden - über die Grenze nach Deutschland verschleppt - werden zu "Hintermännern" des Münchner Anschlags stilisiert, obwohl sie in Wirklichkeit nichts damit zu tun haben. Die NS-Führung plant gegen Elser und die beiden Offiziere für die Zeit nach dem Krieg ein großes Tribunal. Daher wird er von 1940 an ebenso wie die beiden Briten zum "Sonderhäftling". Im KZ Sachsenhausen, später in Dachau, bekommt er eine geräumige Zelle und darf sogar ein wenig tischlern. Zwei SS-Männer bewachen ihn rund um die Uhr, Kontakte zu den Mitgefangenen sind ihm strikt untersagt. Mehr als fünf Jahre verbringt er so in totaler Isolation - auch dies ein Grund dafür, dass unter den Häftlingen und Bewachern bald schon Gerüchte die Runde machen, der "Sonderhäftling" stecke mit den Nazis unter einer Decke.

An diesem Gerede beteiligt sich auch ein integrer Mann wie der langjährige KZ-Häftling und spätere Kirchenpräsident Martin Niemöller. In einer Ansprache vor Göttinger Studenten erzählt er am 17. Januar 1946: "In Sachsenhausen und Dachau habe ich in demselben Zellenbau zusammengesessen mit dem Mann, der 1939 das Attentat im Bürgerbräukeller auf Hitlers persönlichen Befehl durchzuführen hatte: Dem SS-Unterscharführer Georg Elser. Mit diesem Mann sollte ein zweiter Reichstagsbrandprozess durchgeführt werden." Kurz darauf schreibt ihm, tief verletzt, Elsers Mutter Marie aus Königsbronn: "Mein Sohn war bis zu seiner Festnahme Nov. 39 nicht bei der SS, noch viel weniger SS-Scharführer. Davon weiß ich nichts. ... Das ganze Dorf war empört über diesen Bericht. ... Das einzige, was mich interessiert, wird nie berichtet, ob er noch lebt oder nicht."

Doch in seiner Antwort vom 23. März 1946 legt Niemöller sogar noch nach: "Dass Ihr Sohn zur SS gehört habe, ist mir schon in Oranienburg wie auch später in Dachau von SS-Angehörigen mitgeteilt worden. Er verkehrte mit ihnen auch durchaus kameradschaftlich und stand auf Du und Du mit ihnen. ... Ich persönlich hatte ebenso wenig wie irgendein anderer Gefangener Erlaubnis, mit ihm zu sprechen, traf ihn aber einmal in einem unbewachten Augenblick in der Wachstube des Zellenbaus in Dachau, wo wir aber nicht von dem Attentat oder den Begleitumständen miteinander gesprochen haben." Mit anderen Worten: Niemöller gibt nur Lagerklatsch wieder.

Erneut setzt Elsers Mutter sich gegen die Unterstellungen zur Wehr: "Wir alle bedauern sehr, dass mein Sohn und unser Bruder nicht mehr am Leben sein soll, aber der Zeit nach hätte er ja schon kommen sollen, wenn er noch leben täte. Wissen Sie, Herr Pfarrer Niemöller, es ist sehr belastend für uns, dass alle Zeitungen und der Rundfunk in alle Welt hinaus posaunen, dass mein Sohn bis 1939 bei der SS (war). Eine Zeitung brachte SS-Scharführer, die andern SA. Das alles ist nicht wahr, er war bis zu seiner Festnahme 1939 in keiner Formation im Hitler-Regime. Das ganze Dorf kann es bezeugen ... Einer, der nicht mehr am Leben ist, kann sich nicht mehr verteidigen. Da kann man ruhig noch mehr auf ihn abladen."

Doch so ganz kann Niemöller es immer noch nicht lassen. Selbst nachdem in den sechziger Jahren Anton Hoch und Lothar Gruchmann die grundlegenden Quellen zu Elser veröffentlicht hatten, wiederholt er seine alten Geschichten. Noch im Mai 1971 gesteht er zwar, Elser "kaum" gesprochen zu haben, "aber ich habe aus der Behandlung, die man ihm von der SS danach zuteilwerden ließ, geschlossen, dass man ihn als 'guten' Kameraden betrachtete. An die Echtheit des 'Attentats' habe ich nie geglaubt, und glaube auch heute nicht daran, weil ich beide 'Mitangeklagte', die Engländer Best und Stevens, gut gekannt habe und beide wußten von Elser - ihrem angeblichen Komplizen - nichts! ... Meine Theorie: Das 'Attentat' war eine Dichtung, mit der man den Kampfeswillen des deutschen Volkes nach dem Ende des 'Polenfeldzuges' neu anheizen wollte; die Engländer kidnappte man an der holländischen Grenze, um ihnen später einen Schau-Prozeß zu arrangieren."

Die Reaktionen von Strasser und Niemöller zeigen die Wirksamkeit der NS-Propaganda über das Jahr 1945 hinaus. Sie offenbaren zugleich die Unfähigkeit oder den Unwillen anderer prominenter Regimegegner, die Tat Elsers als einen eigenständigen Akt des Widerstandes zu akzeptieren. Gegen das Wort eines Kirchenpräsidenten kann sich eine einfache Handwerkerfamilie nur schwer wehren.

Schon gleich nach dem Anschlag waren die Elsers festgenommen und in Berlin verhört worden. Während Georg inhaftiert ist, stirbt am 11. August 1942 sein Vater. Die NS-Bürokratie wird in Gang gesetzt. Nachdem das Reichssicherheitshauptamt feststellt, "dass die Bestrebungen des Johann Georg Elser volks- und staatsfeindlich gewesen sind", wird der Oberfinanzpräsident München im April 1943 "mit der Verwaltung und Verwertung des zu Gunsten des Reichs eingezogenen Vermögens des Volksfeindes Georg Elser beauftragt". Sein gesamtes Erbe in Höhe von 200 Reichsmark und 47 Pfennigen wird damit beschlagnahmt.

Auch nach dem Krieg noch hat die Familie die Folgen der Tat zu erdulden. Der Antrag von Elsers Schwester Maria Hirth auf Haftentschädigung wird 1951 brüsk abgelehnt: "Ihre Unterstützung Elsers bestand darin, dass Sie ihm die Möglichkeit der Übernachtung in Ihrer Wohnung gaben und dass Sie über die Dauer der angeblichen Reise nach der Schweiz verschiedene harmlose Gegenstände für ihn aufbewahrten. Außerdem gaben Sie Ihrem Bruder noch RM 30,- Reisegeld mit. Aus politischen Gründen haben Sie aber nicht gehandelt. Es ist vielmehr kaum anzunehmen, dass Sie Elser gegenüber eine gleiche Haltung eingenommen hätten, wenn Sie von dem geplanten Attentat gewußt hätten." So erteilt die Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung in Stuttgart der Schwester auch gleich noch eine moralische Ohrfeige.

Von den Lagergerüchten, die Niemöller kolportiert, ist es nicht weit zu ihrem Niederschlag in Memoiren oder in der wissenschaftlichen Literatur. Besonders fatal sind die 1950 erscheinenden Erinnerungen von Elsers Mithäftling in Sachsenhausen und Dachau, Captain S. Payne Best, The Venlo Incident. Er habe zwar mit Elser nie sprechen können, mit diesem aber zwei Jahre lang Kassiber ausgetauscht. Elser sei vor 1939 Häftling im KZ Dachau gewesen und habe das Attentat im Auftrag "alter Kämpfer" der NSDAP ausgeführt. Bests Darstellung wimmelt von Fehlern, Abstrusitäten und Lagerklatsch. Dennoch wird seine Version in den kommenden Jahren selbst für Historiker wie Gerhard Ritter, Hans Rothfels, Alan Bullock und andere maßgeblich sein. Elser als Werkzeug der Nazis, der Anschlag eine NS-Provokation wie der Überfall auf den Sender Gleiwitz bei Kriegsbeginn - das passt nur zu gut in die gängigen Erklärungsmuster für den Nationalsozialismus.

Hellmut G. Haasis hat in seiner gerade erschienenen Elser-Biografie darauf hingewiesen, dass die Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft zwischen 1950 und 1954 in der Öffentlichkeit fast völlig unbeachtet bleiben. Dabei gelingt es dem beharrlichen Landgerichtsrat Nikolaus Haaf, nicht nur Elsers mutmaßlichen Mörder zu finden (dieser ist einen Monat nach seinem Opfer gestorben, ob durch Selbstmord oder Krankheit, bleibt unklar), sondern auch eine Vielzahl von Aussagen zum wahren Hergang der Tat zusammenzutragen.

Doch in jenen Jahren, in denen gerade mal zaghaft die späte elitär-konservative Opposition gegen Hitler gewürdigt, jeder Widerstand aus der Arbeiterbewegung aber ignoriert wird, passt der Einzeltäter und überzeugte Kriegsgegner nicht ins Bild. Im Übrigen steht Elser für überhaupt keine Gruppe des Widerstands: Er wählte kommunistisch, folgte aber nicht der Parteilinie. Er war Christ, engagierte sich aber nicht in der Kirche. Er passt weder in das konservativ-nationale noch in das bürgerlich-liberale Schema vom Kampf gegen die Diktatur. Und auch dem Arbeiter- und Bauern-Staat DDR war Elser keine Erinnerung wert.

In den sechziger Jahren kommen weitere Spekulationen auf. Ein ehemaliger Wächter Elsers fantasiert über gemeinsame Fluchtpläne aus Sachsenhausen, während ein SS-Mann aus Dachau meint, endlich die "Wahrheit" über Elsers Tod zu enthüllen. Doch alle Spekulationen und Diffamierungen verlieren Mitte der sechziger Jahre an Wirkung, als der Historiker Lothar Gruchmann Elsers Verhörprotokolle in den Akten des Reichsjustizministeriums findet. Auch wenn sich in ihnen über weite Strecken die Sprache der Gestapo spiegelt, werden die Motive und Details der Tat deutlich. 1969 veröffentlicht Anton Hoch zudem eine Auswertung aller damals bekannten Quellen zum Anschlag, die ebenfalls die Alleintäterschaft Elsers belegen.

Heute zählt er - fast wie selbstverständlich! - zu den bedeutendsten Gestalten des deutschen Widerstands. Ein Theaterstück (von Peter-Paul Zahl, 1982), ein eindrucksvoller Spielfilm (von Klaus Maria Brandauer, 1989) und zahlreiche Bücher feiern seine einzigartige Tat. Seit 1997 gibt es zudem eine Ausstellung der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die in Zusammenarbeit mit dem Heidenheimer Georg-Elser-Arbeitskreis umfassend das Leben des Widerstandskämpfers dokumentiert; sie ist inzwischen in mehr als 20 in- und ausländischen Städten zu sehen gewesen. Doch selbst hier noch kann man im Besucherbuch Sätze wie diese lesen: "Ich finde es bedrückend, wie in dieser Ausstellung ein Terrorist bedenkenlos verherrlicht wird. Das Attentat hat vielen Menschen (schuldigen/unschuldigen?!) das Leben gekostet. Außer dem Drang zum terroristischen Handeln besaß Elser kein politisches Konzept (Hitler ist tot - was dann?). Folgt als nächstes eine Ausstellung über Andreas Baader oder die ETA?"

Elsers Heimatort Königsbronn selbst hatte lange Zeit ein zwiespältiges Verhältnis zu ihm. Die Erinnerungen an die Gestapo-Verhöre 1939, die damals umlaufende Verhöhnung als "Attentatshausen" und wirre Verschwörungstheorien verdeckten sein Bild. Nur langsam gelingt es dem Georg-Elser-Arbeitskreis um Manfred Maier aus Heidenheim, hier eine Revision einzuleiten: 1995 kann Königsbronns neuer Bürgermeister Michael Stütz dafür gewonnen werden, sich um Elsers ideelles Erbe zu kümmern. Vor allem der Hauptamtsleiter Joachim Ziller engagiert sich seither für eine Gedenkstätte, die gegenüber dem Rathaus im Februar 1998 endlich, endlich eröffnet wird. Atemlos hören über 400 Menschen in der überfüllten Turnhalle des Dorfes, unter ihnen auch Georg Elsers jüngerer Bruder Leonhard (nach dem Tod des Sohnes Manfred einige Monate zuvor der letzte Überlebende der engeren Familie), aus dem Mund des Stuttgarter Staatssekretärs Christoph Palmer das späte Bekenntnis der Regierung: "Das Land Baden-Württemberg ist stolz auf einen seiner größten Söhne."

Anders ist der Umgang mit der Erinnerung an Georg Elser in München. Seit 1994 fordert die Aktion Maxvorstadt um die engagierte Autorin Hella Schlumberger, ein namenloses Plätzchen an der Türkenstraße nach dem Widerstandskämpfer zu benennen; erst 1997 wird dies möglich. Der Plan dagegen, Elser ein Denkmal zu errichten, scheitert. An der Stelle des abgerissenen Bürgerbräukellers steht heute - ein Monstrum in Beton - das Kulturzentrum Gasteig. Hier findet sich, nahezu unsichtbar ins Pflaster eingelassen, eine kleine Bronzetafel. Eine Ausstellung über Elser kommt 1998 nur unter Schwierigkeiten zustande. Und auf den Vorschlag, der einsamen Tat jährlich zu gedenken, reagiert die Stadtverwaltung im Oktober 1998 mit einem allerdings unvergesslichen Schreiben: "Ihre Anregung, alljährlich des Hitler-Attentäters Johann Georg Elser an seinem Todestag, dem 9. April, durch Niederlegung eines Blumengebindes an der ihm gewidmeten Bodenplatte im Gasteig-Bereich an der Stelle des ehem. Bürgerbräukellers zu gedenken, wurde Herrn Oberbürgermeister Ude vorgetragen. Herr Oberbürgermeister Ude möchte von diesem jährlichen Gedenken absehen. Es ist jedoch beabsichtigt, zum 60. Todestag Elsers am 9. April 2005 an der Bodenplatte ein Blumengebinde niederzulegen."

Die Autoren leiten die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Dort wie auch in der Georg-Elser-Gedenkstätte Königsbronn bei Heidenheim sind weiterführende Informationen zum Thema zu erhalten
Quelle: DIE ZEIT 44 und 45/1999 - www.zeit.de


Über die Autoren

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