Ich stand vor einem schwarzen, eisernen Tor. Es gibt viele eiserne Tore, doch dieses hier stellte etwas ganz Besonderes vor:
Kalte Drohung und Grauen gingen von ihm aus. Denn es war das Eingangstor des Konzentrationslagers Sachsenhausen, 20 km
nordwärts von Berlin; Von Goldbronze überzogen leuchteten mir die Worte entgegen "Arbeit adelt und macht frei!"
Ich wusste, dieser Spruch stand über den Eingangstoren aller Konzentrationslager. Doch bis zu diesem Frühlingstage des Jahres 1941 kannte ich noch nichts davon aus eigener Anschauung. Ein Befehl führte mich hierher, Himmler selber hatte ihn gegeben. Es sollte eine Sonderaufgabe sein, die hinter diesem schwarzen Tor auf mich wartete, eine geheimnisvolle Angelegenheit, von der ich nur wusste, dass ich mit einem Gefangenen zu tun haben würde, dem Hitler größte Wichtigkeit beimaß.[...]
Der Mann hinterm Schreibtisch riss mich aus meinen Gedanken. Als wolle er meine Bestätigung hören, fragte er immer noch
in die Akten blickend: "Sind Sie Hauptsturmführer gewesen, also Offizier der Waffen-SS und wegen Verletzung der
Unterordnungspflicht degradiert worden. Der Reichsführer der SS hat Sie für die Sonderaufgabe bei uns abgestellt, damit Sie sich
bewähren und wieder rehabilitieren können?"
Der Frager wartete gar nicht auf meine Zustimmung, sondern fuhr mit kurzen abgehackten Worten fort: "Ich habe Sie in Ihre
Aufgabe einzuweisen. Nachher werden Sie mit Ihrem Namen unterschreiben, dass Sie sich zu strengstem Stillschweigen verpflichten,
andernfalls die Todesstrafe fällig ist. Sie werden bald merken, dass es hier bei uns gefährlicher zugeht, als draußen an der
Front. Bei uns heißt es nur gehorchen oder Sie werden aus der Liste der Lebenden gestrichen. Ein Zwischending, wie im Felde,
'verwundet' oder 'kampfunfähig' gibt es bei uns nicht. Wir, die Bewacher der Häftlinge, leben genau so wie diese im Dunkel.
Kein Mensch draußen vor den Toren des Lagers darf erfahren, wie es hier drinnen aussieht und was hier geschieht. Für
uns gibt es nur eines, das ist unsere Bindung an unseren Eid. Jeden Befehl von oben haben wir ohne Fragen und Zögern
auszuführen, als wären wir Roboter. Ihre Aufgabe besteht darin, Bewacher eines Häftlings zu sein, der unserem Führer
Adolf Hitler besonders viel bedeutet. Sie haften mit Ihrem Kopf dafür, dass er keine Dummheit macht. Sein Name ist geheim,
niemand darf ihn erfahren. Er heißt für das Wachpersonal nur 'Nr. 13', für uns Eingeweihtere nur 'Georg', Mehr zu
wissen ist laut Befehl des Reichsführers der SS verboten. Und jetzt unterschreiben Sie, dass Sie unter Androhung der
Todesstrafe belehrt worden sind!" Damit schob mir der Hauptscharführer ein Blatt Papier zu, auf dem ich mich also um den
Preis meines Kopfes zum Stillschweigen zu verpflichten hatte. [...]
Mittlerweile waren wir an einer Tür angekommen, auf der die Nummer 13 zu lesen stand.
Karsius drückte auf einen Knopf neben der Tür. Das Licht einer grünen Birne zuckte auf.
"Das heißt weitermachen! für den ganzen Betrieb in der Baracke", erläuterte er mir,
während er die Tür zu Nr. 13 öffnete. Als wir den Raum betraten, erhoben sich zwei Männer.
Einer von ihnen trug SS-Uniform, der andere einen blauen Schlosseranzug. Karsius stellte mich vor. Der SS-Mann war wie ich
Unterscharführer. Auf den Mann im blauen Anzug weisend sagte Karsius: "Das ist Georg".
Beiden, dem Bewacher, wie dem mysteriösen Häftling Nr. 33, dem Sondergefangenen Hitlers, gab ich die Hand. Wir wechselten einige belanglose Worte. Auch Karsius zeigte dem Häftling gegenüber ein fast zuvorkommendes Wesen. Einige Minuten später verließ er die Zelle. Meine Sonderaufgabe hatte begonnen. Forschend ließ ich meine Blicke durch den Raum gehen.
Es war ein sehr geräumiges Zimmer. Die Fenster waren auch hier wie überall im Lager vergittert,
doch vor den Gittern standen blühende Topfblumen. An der einen Seite des Raumes befand sich eine Hobelbank
mit Tischlerwerkzeug, ein Tisch stand in der Mitte, um ihn herum vier Stühle. Den Platz an den anderen
Zimmerwänden nahmen drei Betten ein. Neben einem dieser Betten sah ich ein kleines Tischchen mit einem
Radioapparat darauf. Ein Frauenbildnis in einer Winterlandschaft war neben dem Radio aufgestellt.
Über dem Bett hing an der Wand eine Zither. Zwischen Bett und Radio stand, beinahe wie ein Harmonium
aussehend ein Pult mit erhöhtem Sitz.
Nach diesem Rundblick setzte ich mich mit den beiden an den Tisch. Die Blumen, die auf diesem in einer Vase standen, erfüllten
das Zimmer mit einem angenehmen Duft und ihre Farben erwärmten das eintönige grauweiß der Wände.
Wir setzten uns zusammen und rauchten jeder eine Zigarette, wobei wir ein belangloses Gespräch versuchten. Dann erhob
sich der SS-Mann und verließ uns. Ich war mit "Georg", dem Mann im blauen Monteuranzug allein.
Sein Alter schätzte ich auf 43 Jahre, er war nur etwa 1,60 m groß und wirkte klein und recht schmächtig. Sein Gesicht war hager und bleich, es halte jene Blässe, die das Leid bei allen Gefangenen erzeugt. Sein dunkles Haar fiel in die zerfurchte Stirn. Er zündete sich erneut eine Zigarette an und begann mich forschend zu betrachten. Unsere Augen begegneten sich und mein Gegenüber zeigte nun ein leises Lächeln.
Plötzlich fragte er zu meiner größten Verwunderung: "Wissen Sie, wer ich bin?" Ich erschrak über diese Frage, denn ich hatte es ja auf meinen Kopf genommen, mich für nichts anderes zu interessieren, als für meine Bewachungsaufgabe. Jede überflüssige Frage konnte ein Verstoß gegen meine Schweigepflicht sein. Wusste dieser Mann überhaupt, unter welchem Druck ich als sein Bewacher stand? Und dann schoss es mir sogar durch den Kopf, ob diese Frage nicht eine Falle für mich sein konnte. War es denn unmöglich, dass Karsius dem Häftling geboten hatte, mich zum Reden zu verführen und mich dann preiszugeben, um sich dadurch vielleicht irgendeine Annehmlichkeit zu verschaffen? So wandte ich mich auf die Frage des anderen
ab und tat, als hätte ich sie nicht gehört. Der geheimnisvolle Gefangene schien auch gar nicht die Absicht gehabt zu haben, mir Aufklärung über seine Person zu geben, denn er trat jetzt schweigend an die Hobelbank und begann zu arbeiten.
In diesem Augenblick wurde von draußen die Tür geöffnet und der andere Bewacher trat pfeifend wieder herein.
Mit einem Sprung sah ich "Georg" plötzlich dem Eintretenden entgegenschnellen. In sich überschlagendem Tonfall brüllte er: "Aufhören mit dem Gepfeife!" Erblassend gehorchte der SS-Unterführer, während der Tobende einen Hammer ergriff und mit voller Wucht auf die Holzbretter schlug, die neben der Hobelbank lehnten. Unter ohrenbetäubendem Krach stürzte der Holzstapel zusammen, Staub wirbelte auf. Ich trat schnell einige Schritte zurück, denn mir war klar, der Häftling hatte einen Anfall von Haftpsychose. Seine Augen funkelten, das Gesicht war entstellt. Als sei nichts vorgefallen, sprach ich den SS-Kameraden an und begann eine belanglose Unterhaltung, indem ich den erregten Häftling betont nicht beachtete.
Dieser beruhigte sich und ging zum Radio. Vor dem Apparat blieb er eine Weile ganz still stehen, dann schaltete er ihn ein. Doch er schien gar nicht hinzuhören, sondern blickte abwesend auf das Frauenbildnis, das neben dem Radio stand. Mit einer heftigen Handbewegung brachte er den Apparat wieder zum Verstummen und griff nach der Zither. Zaghaft fuhren seine Hände über die Saiten, Melodien aus dem Süden, aus Bayern und Österreich erklangen. Unauffällig beobachtete ich den Spielenden, der ganz weit fort entrückt schien. Als das Saitenspiel aussetzte, sah ich dass ein paar Tränen des Gefangenen auf das Instrument fielen. Als fürchtete er meinen Blick, wandte er sich ab.
[...]
Als ich mich in Zelle 13 wieder eingefunden hatte und mein Kamerad gegangen war, merkte ich, dass "Georg" schon auf mich gewartet hatte. Das mochte daran liegen, dass wir uns im Laufe der Monate menschlich näher gekommen waren. Er hatte längst gemerkt, dass ich mich in der Aufgabe, die mir Himmler zugewiesen hatte, äußerst unwohl fühlte. Mit dem Feinempfinden eines besonders sensiblen Menschen hatte er gespürt, dass ich in einem ständigen Konflikt zwischen der kalten Pflicht und der Menschlichkeit stand.
An diesem Herbsttag lüftete der Mann, der mir bis dahin nur als Häftling Nr. 13 auf der Abteilung Z bekannt war, und den wir "Georg" nannten, sein Geheimnis. Ich wurde zum Mitwisser dessen, was nach Hitlers und Himmlers Willen niemals jemand erfahren durfte. Es war, wie ich geahnt hatte: "Georg" war kein Verbrecher, sondern das Opfer seines eigenen Gehorsams im blinden Glauben an Hitler. Er sagte mir, dass ich sein Schicksal erfahren sollte, um einstmals vielleicht zeugen zu können, wenn er selber längst nicht mehr am Leben sei. Dann berichtete er folgendes, das ich mir Wort für Wort eingeprägt habe:
"Georg" war der Mann, der das angebliche Attentat auf Hitler mit der Höllenmaschine im Münchener Bürgerbräukeller am 8. November 1939 beging. Aber er hatte diesen Anschlag auf Hitlers persönlichen Wunsch und auf den Befehl Himmlers ausgeführt. Er hieß Georg Elser, stammte aus Schwaben und war von Beruf Modelltischler.
Hin und wieder arbeitete er auch in den Steinbrüchen seiner Heimat und hatte dabei Umgang mit Sprengstoffen. Stets war er ein lebensfroher Mensch und hing sehr an seiner engeren Heimat. Wie es nun einmal
bei den Deutschen ist, gehörte auch Elser einem Verein an, einem Gesangverein. Mit den Vereinsbrüdern machte er Wanderungen und sie sangen dabei.
Aber bald war ihm dieser Verein zu wenig, er füllte Georg nicht aus und so wurde er Mitglied in der allgemeinen SS. Nun erst fühlte er sich als vollwertig, jetzt machte ihm das Wandern und Singen in der neuen militärischen Form Freude. Er lebte ja in einer Zeit, von der den jungen Deutschen Immer wieder gesagt wurde, dass in ihr Großes vorginge. Deshalb wollte er nicht tatenlos abseits stehen. So geriet er langsam und unmerklich in die Maschen eines Netzes, aus dem er nicht wieder loskam.
Bei einem Besuch des Reichsführers SS in seiner Heimat wurde Georg Elser jenem vorgestellt. Dabei war auch die Rede von seiner Tätigkeit als Modelltischler und seiner Sprengarbeit in den Steinbrüchen. Himmler nickte nur, mehr ließ er sich nicht anmerken. Doch bald wurde es offenbar, dass er Georg im Gedächtnis behalten hatte. Er wurde eines Tages nach Berlin befohlen, wo er sich beim Reichssicherheitshauptamt zu melden hatte. Hier wimmelte es von höchsten SS-Führern, die alle sehr freundlich und kameradschaftlich zu ihm waren.
Wieder wurde er von Himmler persönlich empfangen. Der schlug Georg vor, er solle längere Zeit in Berlin bleiben, natürlich auf Kosten der SS-Führung. Freude und Glück erfüllte den jungen Menschen, denn Berlin imponierte ihm gewaltig. Er war ganz betäubt von all dem, was er da zu sehen bekam. Am tiefsten beeindruckte ihn die Reichskanzlei, deren großartige innere Pracht ihn einfach überwältigte.
Elser war bereits länger als ein Jahr in Berlin und der Krieg hatte gerade begonnen, da wurde ihm eröffnet, dass ein besonders schwieriger Auftrag auf ihn warte, für den nur jemand in Frage käme, der sich als hervorragend zuverlässig erwiesen habe. Die Wahl sei nach eingehender unbemerkter Prüfung von Georgs Person und Verhalten auf diesen gefallen. Der Auftrag sei nicht nur schwierig zu erfüllen, es müsse auch die höchste Opferbereitschaft von dem Ausführenden erwartet werden. Nach einem feierlichen Appell an seine Vaterlandsliebe und seine Einsatzbereitschaft als Gefolgsmann des Führers wurden ihm Einzelheiten seiner Aufgabe eröffnet.
Der Schreck über das. was man ihm zumutete, hielt sich zunächst die Waage mit der Freude, dass man ihn zum wissenden Vertrauten in einer so gewagten Angelegenheit gemacht hatte. Sein Wille, gehorsam zu sein, trug ihn aber über alle Zweifel hinweg, die ihn beschleichen wollten. Der Auftrag lautete: er sollte im Münchener Bürgerbräukeller eine Zeitzünderbombe einbauen und mit ihr ein Attentat auf Hitler auslösen.
Der Führer würde trotzdem mit heiler Haut davonkommen, aber er würde auf diese Weise durch Georgs
Hilfe ein Mittel in die Hand bekommen, um die noch vorhandenen gegnerischen Kreise in Deutschland endgültig
auszuschalten. Das sei die Voraussetzung, um den Krieg zu gewinnen. Eigentlich schien Georg, dass an solchem
großen Ziele gemessen, sein Auftrag gar nicht so gefährlich sei. Um Menschenleben brauche er sich
keine Sorge zu machen, so wurde ihm versichert, es würde niemandem etwas zustoßen. Und um die paar
Wände und Decken des Bürgerbräukellers lohne es sich nicht, ein Aufheben zu machen.
So fuhr Georg Elser kurze Zeit später nach München. In seinem Gepäck hatte er die vom
SD ausgelieferte Zeitzünderbombe mit allem Zubehör. Die Zeit, auf welche die Uhr
der Bombe für die Explosion eingestellt werden sollte, war Georg genau auf die Sekunde angegeben worden.
Alles andere, so hieß es beim Abschied, sei Sache seiner Treue und seines Glaubens an den
Führer.
In München angekommen, begab Elser sich in die Nähe des Bürgerbräukellers, um sich in diesem Stadtviertel
zunächst ein Zimmer zu mieten. Bald hatte er Erfolg. Bei seiner Wirtin glaubte Georg eine gewisse Ähnlichkeit mit
seiner Mutter zu erkennen. Da erfasste ihn plötzlich ein großes Weh, unheimliche Gedanken beschlichen ihn,
obwohl man ihm nicht gesagt hatte, was aus ihm werden würde, wenn er seinen Befehl ausgeführt hatte,
so drängten sich ihm doch düstere Ahnungen auf. Zwar hatte man Georg lediglich gesagt, er solle sich
nach dem Attentat still verhalten und in München bleiben, denn er sollte zum Schein von der Gestapo gesucht
und verhaftet werden.
Wenn er dann aber den Blicken der Öffentlichkeit entzogen sei, dann würde er vom
Führer persönlich belohnt werden. Alle diese abenteuerlich klingenden Zusicherungen begannen Georg nun
plötzlich zu bedrücken. Doch er riss sich zusammen. Er hatte zu gehorchen und sich nicht sentimentalen
Gedanken hinzugeben. Er sagte sich, dass es nur Lampenfieber sei, das ihm diese zweifelnden Gedanken eingegeben
hatte. [...]
Leise kam er aus seinem Versteck in der Toilette hervor. Um ihn herrschte tiefste Dunkelheit und Stille. Er blieb stehen, atmete tief durch und fühlte sein Blut sich langsam beruhigen. Von der draußen vorbeiführenden Straße drang helles Mädchenlachen an sein Ohr. Nach und nach verklang es. Wieder erfasste ihn eine unheimliche Sehnsucht nach dem Leben. Doch er hatte eine Aufgabe! Langsam gewöhnten sich seine Augen an die ihn umgebende Finsternis. Es schien ihm verwunderlich, dass er in dieser Dunkelheit seinen Weg durch Türen, sowie um Tische und Stühle herum fand. ohne Geräusche zu machen. Er blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Es war 1 Uhr 40 Minuten.
Seine rechte Hand tastete nach dem Vorsprung der Holzvertäfelung in der gerillten Wand. Dann hatte er die Stelle, die ihm angegeben war. Er kniete nieder, öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr das Handwerkszeug. Ganz ruhig war er jetzt. Kurz ließ er die abgeblendete Taschenlampe aufflammen, tastete mit ihrem Schein die Stelle ab. Dunkelheit umgab ihn dann wieder, als er nun begann, die Holzvertäfelung zu lösen. Ab und zu hielt er bei seiner Arbeit inne und lauschte in die Stille. Aber nur das Pochen seines Blutes verspürte er, wie es pulsend durch die Adern jagte. Schweiß trat ihm auf die Stirn und sickerte durch seine Augenbrauen auf die Augenlider. Mit dem Rockärmel wischte er ihn ab, dann arbeitete er weiter.
Er legte einen dicken, breiten Filzstreifen unter die Einbruchstelle an die Wand und begann, nachdem er Hammer und Stemmeisen mit Tuch umwickelt hatte, Steine und Kalk zu lösen. In einer weiteren Stunde hatte Georg in die Wand eine Öffnung gebrochen, in die seine geballte Faust hineinpasste. Wieder schaute er auf die Uhr. Jetzt musste er mit dem Brechen aufhören, um die Holzvertäfelung wieder über dem Loch zu befestigen, sowie die Spuren seiner nächtlichen Arbeit zu verwischen, bevor der häusliche Betrieb wieder begann.
Kalk und Steine verschwanden in seiner Aktentasche. Mit einer weichen Bürste und einem Stückchen Blech fegte er den Staub und den Rest des Mörtels, auf. Die feinen Staubteilchen, welche noch nicht von der Bürste erfasst waren, wurden mit einem leicht angefeuchteten Schwamm aufgesogen. Nun begann das Einsetzen der Holzvertäfelung. Es war eine schwere Arbeit im Dunkeln. Endlich hatte er das letzte Stück der Täfelung wieder eingefügt.
Dass Elser seine nächtliche Arbeit mit Handschuhen ausführte, war selbstverständlich. Das gehörte zu den Einzelanweisungen, die er aus Berlin mitgebracht hatte.
Am Vortage hatte er festgestellt, dass der Fußboden frisch geölt worden war. Also mussten die Stellen, wo Georg gearbeitet hatte, von ihm nachgeölt werden. Da nach der ersten Fußbodenölung inzwischen 24 Stunden vergangen waren, musste er die Saugfähigkeit des Holzes einkalkulieren. Keine frisch geölten Stellen durfte er zurücklassen, welche den mit ihrer Arbeit vertrauten Reinmachefrauen durch ihre "Frische" auffallen konnten. Daher saugte er das überflüssige Bodenöl mit einem Stück Filz auf.
Stunden waren bei diesem Tun vergangen. Endlich befand sich Georg wieder auf der Toilette. Als das Schließen eines Schlosses zu ihm drang. Es war das Küchenpersonal und er wusste, dass nun durch die aufgeschlossenen Türen sein Weg auf die Straße hinauf frei war. Ungesehen konnte er das Haus verlassen. Bald darauf betrat er sein Zimmer. Im Haus schlief noch alles und selbst die Wohnungsinhaberin hatte sein Kommen nicht gehört. Georg Elser legte sich ins Bett mit dem Gefühl, den Anfang seines Geheimauftrages zufriedenstellend begonnen zu haben und schlief bald ein.
[...]
Auch die weiteren Nächte vergingen ungestört mit eifrigem Schaffen. [...]
Erst spät in der Nacht vom 7. zum 8. November gelang es ihm, sich noch einmal in den Saal des Bürgerbräukellers einzuschleichen. Das war besonders schwierig, weil das Gebäude nun bereits unter scharfer Bewachung der Gestapo stand. [...]
Lauschend beugte er sich in die Öffnung. Eine leises, gleichmäßiges Ticken gab ihm die Gewissheit, dass seine Sorge unberechtigt gewesen war, das Uhrwerk funktionierte. Schnell ließ er seine Taschenlampe aufblitzen, um einen Blick auf die
Einstellung des Zünders zu werfen, die die Explosion auslösen sollte. Auch das war in Ordnung. Er hatte seine Arbeit verrichtet, wie es Hitler von ihm erwartete. Die Bombe würde erst explodieren, wenn Hitler den Saal verlassen hatte.
Aufatmend machte er sich daran, die Hölzvertäfelung wieder zu befestigen.
Als Elser sich aus dem Hause schlich, erklangen in den Straßen Münchens die Schritte der ersten Frühaufsteher. Während er durch die noch dunklen Straßen zu seinem Quartier eilte, überfielen ihn nun nach vollendetem Werke bedrückende Gedanken. Wie, wenn Hitler und Himmler nicht Wort halten würden, wenn sie, anstatt ihn zu belohnen, ihn als lästigen Mitwisser beseitigen würden? Zwar hatte Himmler an Elsers Treue und an dessen Glauben zum Führer appelliert.
Aber gehörte es eigentlich nicht zum Wesen der Politik, dass zuerst Versprechungen gegeben wurden, um hernach nichts mehr von einer Zusage und gegebenem Wort zu wissen? Hatte Himmler nicht von "Opferbereitschaft" gesprochen, als er ihn zum letzten Male vor der Fahrt nach München empfing? Konnte das nicht eine Andeutung gewesen sein. dass Elser hernach als "Attentäter" seinen eigenen Kopf opfern müsse, um vor der Weltöffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, der Bombenanschlag sei ein "echtes" Attentat und keine bestellte Arbeit gewesen?
Angstgejagt erreichte Elser sein Zimmer, packte hastig ein paar notwendige Sachen zusammen und eilte zum Bahnhof. Er hatte plötzlich den Drang, sich in Sicherheit zu bringen vor dem, das ihm eventuell drohte, wenn am Abend dieses 8. November 1939 um 21.20 Uhr im Münchener Bürgerbräu die Bombe explodieren würde so, wie Hitler es verlangt hatte. Seine einzige Chance erblickte er in schleunigster Flucht über die Schweizer Grenze. Dabei vergaß er ganz, dass ja nicht nur seine nächtliche Tätigkeit im Bürgerbräukeller überwacht worden war, sondern dass alle seine Schritte unauffällig beschattet wurden. Wie konnte er annehmen, dass das Netz, welches um ihn zusammengezogen worden war, an irgendeiner Stelle einen Durchschlupf böte? Doch soweit dachte der Gehetzte nicht.
Aufatmend setzte er sich im Zuge zurecht, als die Häuser Münchens aus dem Blickfeld entschwanden. Sein Reiseziel war Konstanz, genauer gesagt, ein Grenzabschnitt nahe dieser Stadt, wo Elser sich von früher auskannte und wo er unauffällig in die Schweiz zu gelangen hoffte. Als er nach einer ihm endlos erscheinenden Bahnfahrt in Konstanz ankam, machte er sich sofort auf den Weg zur Grenze. Er hatte keine Zeit zu verlieren, wollte er noch rechtzeitig auf neutralen Boden gelangen.
Aber er kam nicht weit. Ein paar schwerbewaffnete Grenzer und Gestapoleute traten ihm entgegen, als ob sie auf ihn gewartet hätten, und fragten, wohin er wolle. Elser war völlig überrascht, obwohl er mit einem derartigen Zwischenteil hätte rechnen müssen. Wortlos vor Verwirrung zeigte er in die Richtung, die er eingeschlagen hatte und ebenso wortlos fügte er sich, als die Beamten ihn festnahmen. Noch immer kam ihm nicht in den Sinn, dass vielleicht seine fluchtartige Abreise aus München beobachtet sein konnte.
Erst ein paar Tage später dämmerte ihm die furchtbare Gewissheit, dass seine düsteren Ahnungen richtig gewesen waren. Unterdessen war nämlich in München der Bombenanschlag auf Hitler am Abend des 8. November "planmäßig" vor sich gegangen. Nach einer in sichtbarer Nervosität gehaltenen kurzen Rede hatte Hitler den Bürgerbräukeller früher verlassen, als offiziell vorgesehen war. Elsers Auftrag aber hatte gelautet, die Zündung der Höllenmaschine so aufzustellen, dass die Explosion zu einem Zeitpunkt erfolgen musste, wo Hitler programmgemäß noch am Sprechen gewesen wäre.
[...]
Erst am Morgen des 10. November reichte man dem Untersuchungsgefangenen Elser eine Zeitung. [...] Noch am gleichen Tage wurde Elser aus der Zelle geholt. Unter starker Bewachung ging die Fahrt direkt nach Berlin. Im Keller des SD-Hauptquartiers in der Prinz-Albrecht-Straße fand er sich wieder. Die Wochen, die nun folgten, waren für ihn furchtbar.
Pausenlose Verhöre musste er über sich ergehen lassen, bei denen es oft grausam zuging. Kein Wort war mehr davon die Rede, dass er nach der Tat nur pro forma verhaftet werden und eine Belohnung erhalten sollte. Es war dem Gefangenen, als liefe er gegen eine Mauer an, wenn er erklärte, er hätte auf Befehl Himmlers gehandelt. Man brachte ihn soweit, dass er es bald nicht mehr wagte, sich auf diesen zu berufen. Stattdessen wurde ihm immer wieder eindringlich nahegelegt zu "gestehen", dass er im Auftrage des britischen Geheimdienstes gearbeitet habe, um Hitler aus der Welt zu schaffen und damit die deutsche Kampfkraft zu lähmen, weil die Briten allein in der Person Hitlers Deutschlands stärkstes Bollwerk sähen.
Doch immer wieder weigerte Elser sich, solches Phantasiegespinst als Wahrheit anzuerkennen. Bald wusste er keinen Ausweg mehr und unternahm einen Selbstmordversuch. Doch blitzschnell griff seine Bewachung ein und man hütete ihn von diesem Tage an wie einen Augapfel. Kurze Zeit später fand er sich dann in Zelle 13 der Abteilung Z im Konzentrationslager Sachsenhausen als Sonderhäftling wieder. Das gewünschte Geständnis hatte er nicht abgelegt. Er wusste nichts davon, dass inzwischen die deutschen Zeitungen berichtet hatten: Das Attentat im Münchener Bürgerbräukeller sei von einem Agenten des britischen Geheimdienstes angezettelt worden.
Damit aber war die traurige Geschichte des Georg Elser keineswegs zu Ende, des einstmals gehorsamen SS-Mannes. Er berichtete weiter, dass nicht lange nach seiner Einlieferung in Sachsenhausen ein hoher SS-Führer in seiner Zelle erschienen sei. Der Bewacher hätte den Raum verlassen müssen, und nicht einmal von der Lagerleitung durfte jemand diesem Gespräch unter vier Augen beiwohnen.
Im Auftrage Himmlers und mit dem ausdrücklichen Einverständnis Hitlers, wie der Besucher betonte, habe er folgendes mitzuteilen. Elser sei nach wie vor SS-Mann, sei also zum Gehorsam gegenüber seinem höchsten Führer verpflichtet. Seine Inhaftierung im KZ entbinde ihn nicht von dieser Treuepflicht. Man erwarte von ihm, dass er sich dessen bewusst bliebe. Würde der Krieg gewonnen, woran kein Zweifel sei, dann werde Elser noch einmal in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu treten haben. Ein großer Schauprozess werde erfolgen und bei diesem habe er als Angeklagter und Kronzeuge zu gestehen, dass er das Attentat auf Hitler im Auftrage des britischen Geheimdienstes begangen hätte.
Danach winke ihm die Freiheit und ein neues Leben unter anderem Namen. Würde er jedoch vor Gericht etwas anderes aussagen, als man ihm vorher einstudiert hätte, so sei vorgesorgt, dass er als geisteskrank erklärt würde und sein Ende am Galgen fände.
Ginge aber etwa der Krieg wider Erwarten verloren, so müsse Elser auf alle Fälle sterben, bevor die Sieger Gelegenheit fänden, ihn zu befreien und zu erfahren, wer in Wirklichkeit das Münchener Attentat veranlasst hätte. Es bliebe ihm also keine Wahl mehr. Erkläre er sich jedoch schon jetzt bereit, im Sinne Hitlers und Himmlers zu handeln, so solle er während seiner Haftzeit im Konzentrationslager mancherlei Vergünstigungen erfahren. Elser hatte mit einem Wutausbruch geantwortet, worauf der andere gegangen war. [...]
Das Fest war vorüber, da überreichte mir "Georg" eines Tages ein Geschenk. Es war ein von Ihm selber mit seinem ihm gestatteten Tischler-Handwerkszeug angefertigter Nähkasten und eine große Schmuckschatulle. Beide Stücke stellten wahre Kunstwerke dar. Elser wollte damit zum Ausdruck bringen, dass er mich als Kameraden betrachtete im Gegensatz zu den anderen Bewachern, mit denen ich mich entweder in der Zelle ablöste oder mit denen ich gemeinsam Dienst tat.
Zeitweise mussten nämlich zwei Männer bei Elser in der Zelle sein, weil die Zellentür meist nicht verschlossen wurde, um der Lagerleitung jederzeit Zutritt zu ermöglichen. Vor allem während der Nachtzeit war die Anwesenheit zweier Bewacher erforderlich, einer von ihnen musste in der Zelle bleiben und den Gefangenen ständig im Auge haben, der andere war für eventuelle Gänge zur Lagerführung und zur Unterstützung des Wachenden vorgesehen, falls dem Häftling etwas zustoßen sollte oder dieser in einem Anfall von Haftpsychose gewalttätig werden würde. Ein Zwischenfall in diesem Winter 1942/43 zeigte, in welch gespannter Atmosphäre alle lebten, die mit Elser zu tun hatten.
Einer der Bewacher hatte nämlich geglaubt, er könne sich auf Kosten des Häftlings bei der Lagerführung in ein günstiges Licht setzen. Wegen einer Kleinigkeit hatte er Elser zur Meldung gebracht. Daraufhin war der Abteilungschef, Hauptscharführer Karsius, in unserer Zelle erschienen und hatte den Gefangenen zur Rede gestellt. Wenn das auch in sachlich-korrektem Ton geschah, so erfüllte es doch den Gefangenen mit heller Empörung über die Handlungsweise des SS-Bewachers. In der darauffolgenden Nacht hatte ich gemeinsam mit jenem SS-Mann bei Elser Dienst. Wie üblich blieb einer von uns am Tisch sitzen, um den schlafenden Elser im Auge zu behalten, während der andere sich auf eines der Betten legen und ebenfalls schlafen konnte.
Nachdem ich zwei Stunden gewacht hatte, löste mich um Mitternacht der andere ab und ich legte mich nieder. Sehr bald schlief ich ein. Plötzlich schreckte ich von einem donnerartigen Geräusch empor. Es war ein Krach, als stürzte die Zellendecke ein. Mit einem Satz war ich von meinem Lager hoch und sah Elser mit einem Hammer in der Hand vor dem Tisch stehen. Der Gefangene hatte den Hammer ein paar mal auf die Tischplatte geschlagen, um den im Sitzen eingeschlafenen SS-Mann zu wecken. Mit aufgerissenen Augen und wie gelähmt starrte der Überraschte den Häftling an. Dieser beugte sein Gesicht zu dem Erstarrten vor und sagte höhnisch: "Siehst Du, jetzt habe ich Dich erwischt! Du schläfst ja im Dienst. In der Freizeit herumtreiben und während des Wachdienstes schlafen, weißt Du, was das gibt? Wenn Euer Führer wüsste, was er für eine Elitetruppe von Bewachern hat, er würde seine helle Freude an Euch haben."
Und dann senkte er die Stimme, sprach halblaut mit verbissenem Gesicht weiter auf den erschrockenen SS-ler ein: "Für Deine Angeberei habe ich mich revanchiert. Weißt Du, wo ich war, als Du, geschlafen hast, anstatt aufzupassen? Ich bin hinausgegangen und habe mir auf Zelle 43 Feuer für meine Zigarette geholt. Du weißt ja wohl, wer auf Zelle 43 brummt? Da sitzt der englische Major vom Secret Service, den der "Führer" nach dem Attentat im Münchener Bürgerbräukeller auf holländischem Boden verhaften ließ, obwohl dieser Mann mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte. Der Major hat einen genau so schlafmützigen Bewacher, wie Du es bist. Der Kerl hat ebenfalls am Tisch gesessen und gepennt. Den Major habe ich geweckt und er hat mir Feuer gegeben. Anschließend habe ich die Schlafmütze von Bewacher aufgescheucht und bin hierher zurückgekommen, um Dich munter zu machen. Du wirst mich in Zukunft nicht mehr bei der Lagerleitung verpfeifen, sonst erzähle ich, was heute nacht passiert ist, verstanden?"
Völlig verstört saß der Wachmann am Tisch. Er wagte nie wieder, gegen Elser etwas zu sagen, sondern behandelte ihn wie ein rohes Ei. "Georg" konnte sich ihm gegenüber erlauben, was er wollte.
Mit seinem Schicksal, d. h. mit der Gewissheit eines ihm bevorstehenden Tode hatte Elser sich abgefunden. Dennoch schien er im Jahre 1943 zeitweise auf ein Wunder zu hoffen. Durch den Rundfunkapparat. der in unserer Zelle stand, hörten wir die deutschen Berichte zur Kriegslage. Aber ich merkte, der Gefangene fieberte danach, mehr zu erfahren, vor allem die wirkliche Wahrheit zu erkunden, die nicht immer aus den geschickt frisierten deutschen Meldungen herauszuhören war. So gestattete ich ihm, ausländische Stationen einzustellen. Allerdings hatten wir uns vorher (wie des öfteren vor unseren Gesprächen) durch genaue Untersuchung der Zelle davon überzeugt, dass es keine Abhöranlage gab, durch welche die Lagerleitung dieses illegale Treiben hätte ermitteln können. Obwohl Elser wusste, was das für ihn bedeuten würde, wünschte er das Ende des Krieges sehnlich herbei. Er hasste Hitler abgrundtief, von dem er sich aufs schändlichste hintergangen fühlte. Und mit fieberhafter Triumphstimmung entnahm er den Auslandesendungen, dass das Kriegsglück des "Führers" sich längst ins Gegenteil verkehrt hatte.
[...]
Quelle: Der Geheimnisvolle von Zelle 13, Heim und Welt, Jg. 1956 Nr. 14 u. 15, Hannover 1956
Dieser Bericht mag bezüglich der Vorgänge im KZ Sachsenhausen authentisch sein. Die angeblich von Elser
stammenden Hintergrundinformationen stehen jedoch im eklatanten Widerspruch zu den heutigen Erkenntnissen der
Georg-Elser-Forschung.