Eine Bombe im Bürgerbräukeller und eine gewaltsame Entführung
VON WILLIAM L. SHIRER
William Lawrence Shirer (* 23. Februar 1904 in Chicago; 28. Dezember 1993 in Boston) war ein US-amerikanischer
Historiker, Journalist und Publizist. Er gilt als der bekannteste jener unabhängigen Zeitzeugen, die als Journalisten,
Diplomaten oder Geschäftsleute über das Leben im Dritten Reich berichteten.
Seine wichtigsten Bücher, sein "Berliner Tagebuch" (1947) und sein knapp 1200 Seiten starkes Standardwerk
"Aufstieg und Fall des Dritten Reiches" (1960) wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt.
Seine Darstellung des Bürgerbräu-attentats folgt der bei den anglo-amerikanischen Historikern damals verbreiteten
Deutung, die haupt-sächlich auf
The Venlo Incident,
den Memoiren von Sigismund Payne Best basierte.
Alle aus heutiger Sicht eindeutig falschen Stellen sind grau dargestellt.
Am Abend des 8. November hielt Hitler nach alljährlichem Brauch zum Gedenken des Putsches von 1923 vor den
"alten Kämpfern" im Münchner Bürgerbräukeller eine Rede, die in diesem Jahr
kürzer war als sonst. Zwölf Minuten nachdem er geendet hatte, explodierte unmittelbar hinter dem
Rednerpult eine Bombe, die in einer der Säulen eingebaut war, tötete sieben und verwundete 63 Personen.
Zu dieser Zeit hatten alle prominenten Parteiführer, darunter Hitler, das Lokal verlassen, während sie
in früheren Jahren noch bei einem Glas Bier Erinnerungen mit alten Parteigenossen auszutauschen pflegten.
Am nächsten Morgen brachte als einzige Zeitung der Völkische Beobachter eine Darstellung des
Attentats auf den Führer. Er machte den "britischen Geheimdienst" und sogar Chamberlain für
die Untat verantwortlich. Wie sollte, außer in Goebbels' lebhafter Phantasie, eine Verbindung
zwischen dem britischen Geheimdienst und dem Anschlag bestehen? Dennoch versuchte man sofort eine herzustellen.
Ein oder zwei Stunden nach der Bombenexplosion im Bürgerbräukeller rief Heinrich Himmler den
jungen SS-Obergruppenführer Walter Schellenberg, Chef der Abwehrabteilung der Gestapo, in Düsseldorf an
und erteilte ihm den Auftrag, auf Befehl des Führers am nächsten Tag über die Grenze nach
Holland zu gehen und zwei englische Geheimdienstagenten zu entführen.
Himmlers Befehl veranlasste
eines der bizarrsten Unternehmen des Krieges. Seit mehr als einem Monat stand
Schellenberg, wie Alfred Naujocks, ein akademisch gebildeter intellektueller Gangster, mit zwei Offizieren
des britischen Secret Service, Hauptmann S. Payne-Best und Major R. H. Stevens, in Verbindung und
traf sich mit ihnen in Holland. Er gab sich ihnen als "Hauptmann Schemmel" vom OKW und Gegner
des Regimes aus (es gab tatsächlich einen Major dieses Namens) und schilderte ihnen überzeugend,
dass die deutschen Generale Hitler stürzen wollten. Nur wünschten sie Zusicherungen seitens der englischen Regierung, sagte er, dass die Engländer das neue, nichtnationalsozialistische Regime fair behandeln würden. Da die Briten, wie wir sahen, bereits aus anderen Quellen von einer deutschen Militärverschwörung gehört hatten, deren Teilnehmer die gleiche Art Zusicherung wünschten, war London daran interessiert, die Kontakte mit "Hauptmann Schemmel" weiter zu pflegen.
Best und Stevens rüsteten ihn mit einem kleinen Sende- und Empfangsgerät aus, es gingen Funknachrichten hin und her, und man traf sich ferner in verschiedenen holländischen Städten. Am 7. November, bei einer Zusammenkunft in dem holländischen Venlo nahe der deutschen Grenze, konnten die britischen Agenten "Schemmel" eine recht vage gehaltene Mitteilung aus London für die Führer des deutschen Widerstands übergeben, worin in allgemeinen Ausdrücken die Grundlage für einen gerechten Frieden mit einem nichtnationalsozialistischen Regime umrissen war. Man kam überein, dass "Schemmel" einen der Widerstandsführer, einen deutschen General, zwecks Einleitung von Verhandlungen am nächsten Tag mit nach Venlo bringe. Diese Zusammenkunft wurde indes auf den 9. November verschoben.
Bis zu diesem Zeitpunkt war klar, was beide Seiten beabsichtigten. Die Engländer bemühten sich, in direkte Verbindung mit den deutschen Putschisten zu treten, um sie zu ermutigen und ihnen zu helfen. Himmler versuchte, über die Briten herauszufinden, wer die deutschen Verschwörer waren und welche Beziehungen sie zum feindlichen Geheimdienst unterhielten. Dass Himmler und Hitler einige Generale und auch Leute wie Oster und Canaris bereits verdächtig waren, ist klar. Aber nunmehr, in der Nacht vom 8. zum 9. November, hielten sie es für notwendig, eine neue Absicht zu verfolgen: Best und Stevens zu entführen und sie des Attentats im Bürgerbräu zu bezichtigen.
Jetzt betrat eine uns bereits bekannte Gestalt den Schauplatz. Alfred Naujocks, der den "polnischen
Angriff" auf den deutschen Sender Gleiwitz inszeniert hatte, tauchte an der Spitze eines Dutzends SS-Leute
auf, die Schellenberg bei der Entführung helfen sollten. Die Sache ging glatt vonstatten. Am 9. November,
16 Uhr, während Schellenberg, auf einer Cafeterrasse in Venlo auf Best und Stevens wartend, einen
Aperitif schlürfte, kamen die beiden britischen Agenten in ihrem Buick angefahren, parkten ihn hinter dem Cafe und
rannten dann in einen Kugelregen, der aus
einem mit Naujocks SS-Männern besetzten Wagen kam. Leutnant Klop, ein Offizier des holländischen
Nachrichtendienstes, der die Engländer stets zu den Zusammenkünften mit Schellenberg begleitet hatte,
sank schwerverwundet zu Boden. Best und Stevens wurden zusammen mit dem verwundeten Klop "wie ein Bündel
Heu" - so Schellenberg - in den SS-Wagen geworfen und in schnellstem Tempo über die Grenze geschafft 32.
Und so gab Himmler am 21. November der deutschen Öffentlichkeit bekannt, der Mordanschlag gegen Hitler sei aufgeklärt worden. Er sei auf Anstiftung des britischen Intelligence Service erfolgt, und es seien zwei seiner Agenten, Stevens und Best, am Tage nach dem Anschlag "an der deutsch-holländischen Grenze" festgenommen worden. Die Tat selbst habe ein in München lebender Tischler, Georg Elser, ein deutscher Kommunist, ausgeführt.
Das Geheimnis der Bombenlegung ist niemals völlig
aufgeklärt worden. Elser war zwar ein Mann von
beschränkter Intelligenz, aber durchaus aufrichtig. Er
bekannte nicht nur seine Schuld, sondern brüstete sich auch noch damit, die Bombe gelegt zu haben.
Er hatte freilich Best und Stevens niemals vorher gesehen, doch
lernte er Best während der langen
Jahre im KZ Sachsenhausen kennen. Dort erzählte er dem Engländer eine komplizierte, wenn auch nicht
immer logische Geschichte.
Im Oktober war er eines Tages im Konzentrationslager Dachau,
wo er seit dem Sommer wegen kommunistischer Gesinnung inhaftiert war, in das Büro des Lagerkommandanten gerufen
und dort zwei ihm fremden Personen vorgestellt worden. Diese sagten ihn, es sei notwendig, ein paar
"verräterische" Parteigenossen zu beseitigen; man denke an eine Bombenexplosion im
Bürgerbräukeller, und zwar unmittelbar nachdem der Führer am 8. November
seine übliche Rede gehalten und das Lokal verlassen habe.
Die Bombe sei in einer Säule hinter dem Rednerpult anzubringen. Da Elser ein geschickter Tischler, Elektriker
und Bastler sei, habe man dabei an ihn gedacht. Wenn er die Sache übernähme, würde man ihm
dazu verhelfen, mit einer großen Geldsumme in die Schweiz zu entfliehen. Zum Zeichen, dass sie es
ernst meinten, versprachen sie ihm unterdessen bessere Behandlung im Lager, bessere Ernährung,
Zivilkleider, eine Menge Zigaretten - Elser war Kettenraucher - und eine Hobelbank und Werkzeug.
Dort konstruierte Elser dann eine primitive, aber wirksame Bombe mit einem auf acht Tage eingestellten
Zeitmechanismus sowie eine Vorrichtung, durch die der Zünder auch elektrisch in Funktion gesetzt
werden konnte. Anfang November wurde Elser in den Bürgerbräukeller geführt, wo er
seinen Apparat in eine gut ausgewählte Säule einbaute.
Am Abend des 8. November, zu der Zeit, in der die Bombe losgehen sollte, wurde er, wie er erzählte,
von seinen Komplicen zur Schweizer Grenze gebracht. Man gab ihm einen Geldbetrag Bürgerbräukeller
und - interessanterweise! - eine Ansichtspostkarte vom Innern des Bürgerbräukellers,
auf der die Säule durch ein Kreuz gekennzeichnet war. Aber an der Grenze wurde er mitsamt Geld und
Postkarte von der Gestapo in Empfang genommen. Später wurde er von der Gestapo angehalten, in
dem kommenden Prozess Best und Stevens zu belasten.33
Zu einem Prozess kam es nie. Wir wissen heute, dass Himmler aus
Gründen, die ihm selbst am besten bekannt waren, einen Prozess nicht wagte. Heute wissen wir auch, dass
Elser in Sachsenhausen und Dachau verblieb, wo ihm, offenbar auf ausdrücklichen Befehl Hitlers,
der aus dem Bombenattentat soviel persönlichen Gewinn zog, eine unter den gegebenen Umständen
verhältnismäßig menschliche Behandlung zuteil wurde. Aber Himmler ließ
ihn bis zum letzten Tag nicht aus dem Auge. Es erschien ihm nicht ratsam, dass der Tischler den
Krieg überleben und dann seine Geschichte erzählen würde.
Kurz vor Kriegsende, am 16. April 1945, gab die Gestapo bekannt,
Georg Elser sei am Tage vorher durch einen alliierten Bombenangriff ums Leben gekommen. Wir wissen heute, dass
ihn die Gestapo ermordet hat 34.
32
Die verschiedenen Darstellungen der Venloer Entführung s. bei
S. Payne-Best, The Venlo Incident [London 1950];
Walter Schellenberg, Memoiren [Köln 1959], S. 798; Wheeler-Bennett, Nemesis, op. dt.
Eine amtliche holländische Darstellung ist in der Protestnote der niederländischen Regierung an Deutschland enthalten (DGFP, VIII, Nr. 344). Nach dieser Darstellung, die erst nach dem Krieg zutage kam, wurde der englische Wagen, mit Stevens, Best und Klop darin, von den Deutschen über die nur ein paar Meter entfernt gelegene Grenze abgeschleppt. Beginnend mit dem 10. November, stellte die holländische Regierung insgesamt neunmal das schriftliche Ersuchen, Klop und den holländischen Chauffeur des englischen Wagens auszuliefern sowie eine Untersuchung der Grenzverletzung einzuleiten. Die Antwort kam erst am 10. Mai 1940, als Hitler seinen Angriff auf Holland teilweise damit begründete, dass der Venloer Zwischenfall die Zusammenarbeit der Holländer mit dem britischen Secret Service erwiesen habe. Klop erlag einige Tage später seinen Verletzungen. Best und Stevens verbrachten fünf Jahre In Konzentrationslagern. S. a. IMT, X, S. 1206-8.
33
In Dachau erzählte Elser
die gleiche Geschichte
Pastor Niemöller, der, wie
er später feststellte, zu der persönlichen Überzeugung gelangte, Hitler habe das Attentat
sanktioniert, um seine Popularität zu vermehren und die Kriegsstimmung im Volke zu heben.
Die Gerechtigkeit verlangt, hinzuzufügen, dass
Gisevius,
ein Erzfeind Hitlers, Himmlers und Schellenbergs, der Meinung ist. Elser habe Hitler wirklich töten wollen und es habe keine Komplicen gegeben.
34
Die verschiedenen Darstellungen über das Attentat s. bei Best, op. dt.. Schellenberg,
op. dt., Wheeler-Bennett, op. dt., Reitlinger, The SS - Alibi of a Nation [New York 1957], Berlin Diary, op. dt.,
Gisevius, op. dt.
Quelle: William L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Köln 1961Der Venlo Zwischenfall