Ein Augenzeuge des 20. Juli urteilt über Georg Elser
Der Zeuge kann nur Wissen aus zweiter Hand vortragen. Und er ist auch nicht unumstritten. Dennoch lohnt es sich, seine Aussagen über Georg Elser näher zu betrachten. Denn nach anfänglicher Skepsis war er stets von der Alleintäterschaft des Widerstandskämpfers aus Königsbronn überzeugt. Die Rede ist von Hans Bernd Gisevius, einem Chronisten des 20. Juli 1944. Sein Nachlass wird im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH Zürich verwahrt.
VON ULRICH RENZ (2003)
Ulrich Renz
Gisevius, 1904 im westfälischen Arnsberg geboren, wurde wie sein Vater Jurist, 1929 promovierte er in Marburg zum Dr. jur. Der konservativ eingestellte Akademiker suchte schon in den zwanziger Jahren die Nähe zu Rechtsparteien, trat im deutschen Schicksalsjahr 1933 in den preußischen Verwaltungsdienst ein und war im Polizeipräsidium Berlin tätig. Dabei erlebte er aus nächster Nähe die Schaffung der Geheimen Staatspolizei mit, die danach unter dem Begriff Gestapo Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreitete. Ihm wurde nachgesagt, dass er selbst gern dieses Machtinstrument geleitet hätte, allmählich aber beobachtete er zunehmend kritisch den beginnenden staatlichen Terror und knüpfte Kontakte zur Abwehr der Wehrmacht, um die Streitkräfte über die Umtriebe der Gestapo zu informieren. Er selbst arbeitete noch in der Polizeiabteilung des Reichs- und Preußischen Innenministeriums und danach im Landeskriminalpolizeiamt in Berlin, ehe er aus dem Polizeidienst entlassen wurde. Seine wachsende aufsässige Haltung hatte ihn an höchster Stelle unbeliebt gemacht.
Gisevius wurde Regierungsrat in Münster und Potsdam und schloss sich dem deutschen Widerstand an, wobei er sich weiterhin der Beobachtung der Gestapo widmete. Vor allem aber hielt er engen Kontakt zu Hans Oster, einem führenden Kopf des Widerstandes innerhalb der Abwehr, und auch zu dessen Chef Admiral Wilhelm Canaris. Bei Beginn des Krieges wurde er als Sonderführer zur Abwehr einberufen und, als Vizekonsul getarnt, an das Generalkonsulat in Zürich versetzt, "um zur außenpolitischen Vorbereitung eines Umsturzes nützliche Verbindungen anzuknüpfen", wie das biographische Nachschlagewerk Munzinger-Archiv seine Aufgabe umschrieb. Derartige Kontakte nahm er besonders zum Leiter des amerikanischen Geheimdienstes in der Schweiz, dem in Bern residierenden Allen Dulles, auf.
Die Tragödie des 20. Juli 1944 erlebte Gisevius in Berlin mit, wo er sich zeitweise in der Bendlerstraße, der Zentrale der Verschwörer, aufhielt. Nach dem Scheitern des Aufstandes gelang ihm die Flucht in die Schweiz, die ihm Asyl gewährte. Gleich nach dem Krieg war er wieder in Deutschland: Beim Nürnberger Prozess sagte er gegen den ehemaligen Reichsmarschall Hermann Göring, aber für den früheren Reichsbankpräsidenten und Finanzminister Hjalmar Schacht und den einsägen Innenminister Wilhelm Frick aus. Später verbrachte er Jahre in den USA und Westberlin und ließ sich schließlich in der Schweiz nieder. 1974 starb er auf einer Reise in Südbaden.
Gisevius widmete einen Großteil seines Lebens nach 1945 der Aufklärung über den deutschen Widerstand, den er aus seiner Sicht und seiner Bewertung schilderte - und dabei auch auf Einspruch und Widerspruch stieß. Er sparte nicht mit Kritik etwa an der Generalität und an führenden Schichten der Bürokratie im "Dritten Reich". Schon 1946 erschien in Zürich sein zweibändiges Werk "Bis zum bitteren Ende", in dem er die Entwicklung hin zum 20. Juli und die Zeit danach dramatisch schilderte. Mehr als 30 Jahre später resümierte Professor Klaus Urner, der Leiter des Archivs für Zeitgeschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, in seinem Buch "Der Schweizer Hitlerattentäter" über den Chronisten Gisevius: "Seine Berichte, getragen von einem ausgeprägten Geltungstrieb und auch gezeichnet von persönlichen Ressentiments, haben zu scharfer Kritik herausgefordert. Trotz aller Befehdung galt er vielen als kompetenter Anwalt des deutschen Widerstandes, eigenwillig und wenig durchschaubar zwar, dennoch authentisch als eine treibenden Kraft im Kampf zur Beseitigung Hitlers. Als Anfang der sechziger Jahre die wissenschaftliche Erforschung zur Widerstandsthematik allmählich an Tiefe gewann, lag das Erinnerungswerk von Gisevius bereits in vierzehn Sprachen übersetzt vor."
1966 veröffentlichte Gisevius ein Buch, das er einem Freund widmete: Dem ehemaligen Reichskriminaldirektor Arthur Nebe, der zugleich ein Massenmörder war und lose Verbindung zu Angehörigen des Widerstandes unterhielt. Über ihn urteilt Michael Wildt in seinem Standardwerk: "Generation des Unbedingten - Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes" so: "Seine persönliche Beteiligung an den Verbrechen des Regimes ist vielfach bewiesen. Unter seiner Leitung hat die Einsatzgruppe B in der Sowjetunion von Juni bis November 1941 mehr als 45 000 Menschen ermordet. Nebes Kontakte zum Widerstand gegen Hitler waren hingegen viel zu vorsichtig, distanziert, absichernd, um ihn zum Kreis der Widerständler zählen zu können." Nach dem 20. Juli tauchte Nebe zunächst unter, wurde gefasst und im März 1945 in Berlin hingerichtet.
Im Buch "Wo ist Nebe?" schildert Gisevius eingehend, welch wichtige Rolle der damalige Chef der Kriminalpolizei nach dem Attentat auf Adolf Hitler am 8. November 1939 im "Bürgerbräukeller" in München spielte. Nach seiner Darstellung wurde Nebe mit seinen Kriminalisten und nicht nur die eigentlich zuständige Gestapo auf Anweisung Hitlers mit den ersten Ermittlungen beauftragt: "Noch in der Nacht musste Nebe eine Sonderkommission zusammenstellen." Und die erfahrenen Ermittler fanden heraus, dass der an der Grenze in Konstanz festgenommene schwäbische Handwerker Georg Elser ganz allein dem Diktator nach dem Leben trachtete und sein Ziel fast erreicht hätte. Die Führung des Regimes wollte dies freilich nicht wahrhaben und hielt an der unmittelbar nach der Explosion im "Bürgerbräukeller" verbreiteten Fiktion fest, hinter dem Anschlag von München steckten der britischen Geheimdienst und Hitler einstiger innerparteilicher Gegner Otto Strasser, der die Nazis inzwischen aus dem Ausland bekämpfte und sich öfter in der Schweiz aufhielt 1.
Gisevius bekennt, ebenso wie andere Angehörige des Widerstandes habe er zunächst geglaubt, bei Elser handele sich um "Lubbe 2". Denn sie waren
überzeugt, dass die Nationalsozialisten selbst im Februar 1933 den Reichstag in Brand gesteckt hatten,
um einen Vorwand für großangelegten Terror gegen die Gegner im Innern zu schaffen. Der
am Tatort festgenommene und später hingerichtete Niederländer
Marinus van der Lubbe
hatte nach dieser Meinung den wahren Brandstiftern nur als Werkzeug gedient. Nun geriet Elser nicht nur bei deutschen Emigranten, sondern auch innerhalb des Widerstandes im Lande in den Verdacht, eine ähnliche Rolle wie seinerzeit van der Lubbe gespielt zu haben.
Doch unter dem Einfluss der Pakten, die ihm sein Freund Nebe schilderte, wandelte sich Gisevius zum überzeugten Anhänger der These von der Alleintäterschaft Elsers. In den Erinnerungen
"Bis zum bittern Ende" widmete er diesem Widerstandskämpfer unter der Überschrift "Der Zitherspieler" ein eigenes Kapitel und schrieb darin: "Elser behauptete. Alleintäter gewesen zu sein. Fast alles sprach dagegen. Trotzdem kamen die Kriminalisten zuletzt zu diesem Ergebnis. Nicht nur was seine Schilderung von der Konstruktion und dem Einbau der Bombe betraf, die sich in allen Punkten richtig erwies, nein, auch psychologisch schenkte Nebe diesem Manne Glauben. Da war tatsächlich ein fanatischer Kommunist zum Entschluss gekommen, den Tyrannen zu ermorden, und was Unzählige nicht fertiggebracht hatten, war ihm geglückt: er hatte die Antwort auf die entscheidende Vorfrage nach einer präzis zu errechnender Gelegenheit gefunden." Und an anderer Stelle heißt es: "Nein, es war schon so, Elser, dieser Autodidakt, hatte selbständig Vorsehung zu spielen versucht. Nicht nur versucht, er hatte sie gespielt!" Über die Haftzeit von Elser, dieses "Privatgefangenen des Führers", berichtet Gisevius: "Er hatte zwei Räume für sich, in denen eine Kunsttischlerwerkstatt eingerichtet war, damit der Bastler an neuen Einfällen arbeiten konnte. Eine weitere Lebensfreude, die ihm verstattet wurde, war seine Zither, auf der er wehmütige Weisen spielte. 'Der Zitherspieler' hieß er fortan im Kreise seiner Mitgefangenen." Am 9. April 1945 wurde Elser, dessen tatsächliches Leben in der jahrelangen Isolationshaft freilich sehr viel härter war als in dieser Schilderung, im KZ Dachau ermordet.
Die Erinnerungen von Gisevius an den Widerstand sind später mehrmals neu aufgelegt worden, auch in gekürzter Form. In einer Ausgabe aus dem Jahre 1954 bekräftigte der Verfasser seine Überzeugung vom Alleintäter Elser noch einmal etwas ausführlicher. Und in dem zwölf Jahre später folgenden Buch über Nebe überlieferte Gisevius etliche Zitate, die von der Hochachtung des Kripochefs für den Widerstandskämpfer aus Königsbronn künden und die in den letzten Jahren, bei der fortschreitenden Rehabilitierung des Attentäters, schon vielfach zitiert worden sind. So sagte Nebe zum Freund: "Nimm diesen Elser - das ist ein Kerl! Das ist der einzige unter uns, der es erfasst hatte und demgemäß handelte. Das ist ein Held unserer Zeit - und deswegen werden die Nazis, nein, gerade deine feinen Leute alles tun, um jede Erinnerung an ihn auszulöschen." Er wiederholte seine Prophezeiung mit anderen Worten: "Und du wirst sehen, den Mann machen sie noch hinterher fertig; den schweigen sie tot." Schließlich meinte er: "Aber weißt du, was mit ihm wirklich los war? Dieser Mann aus dem Volke liebte das einfache Volk; er legte mir leidenschaftlich und in simplen Sätzen dar, Krieg bedeute für die Massen aller Länder Hunger, Elend und millionenfachen Tod. Kein 'Pazifist' im üblichen Sinne, dachte er ganz primitiv: Hitler ist der Krieg, und wenn dieser Mann weg ist, dann gibt es Frieden." Viele Jahre später hat Elsers Biograph Hellmut G. Haasis diese Äußerung mit den Worten bewertet, kaum jemand habe "eine so bewegende Würdigung dieser moralischen Haltung" Elsers formuliert wie gerade Arthur Nebe. [...]
Details der Schilderungen von Gisevius bedürfen der Korrektur - wenn er beispielsweise Elser einen fanatischen Kommunisten nennt oder die Haftbedingungen des Attentäters zu rosig zeichnet. Wichtig bleibt jedoch sein Beharren auf der Alleintäterschaft und seine Einordnung des Königsbronners in den deutschen Widerstand.
1) Siehe Schriftenreihe der Georg Elser Gedenkstätte, Band 1: "Die Akte Elser"
Quelle: Ulrich Renz, In der Sache Gisevius. Ein Augenzeuge des 20. Juli urteilt über Georg Elser., Schriftenreihe der
Georg Elser Gedenkstätte Königsbronn Band 4, Königsbronn 2003, S. 3-6 u. 12
Ulrich Renz: "Eine kommunistische Bombe". Gisevius beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess über das Bürgerbräuattentat.