Ende 1939 gab es nur zwei Möglichkeiten, Hitler zu stürzen: Ein Staatsstreich von oben, das heißt
ein Angriff aus dem Inneren der Leitung des Regimes, der von jenen ausging, die Zugang zu politischer oder
militärischer Macht hatten oder, was der Diktator niemals ausschloss, ein Attentatsversuch von unten,
durchgeführt von einem Außenseiter, der gänzlich auf eigene Faust operierte. Er musste außerhalb
aller bekannten, inzwischen winzigen und in Bruchstücke zerfallenen, vollkommen machtlosen linksgerichteten
Widerstandsgruppen im Untergrund stehen, die von der Gestapo so leicht infiltriert werden konnten. Während Generäle
und führende Beamte darüber nachdachten, ob sie handeln durften und konnten, es ihnen jedoch an Willen und
Entschlossenheit fehlte, handelte ein Mann ohne Zugang zu den Korridoren der Macht, ohne politische Verbindungen,
ohne eine strikte Ideologie: ein schwäbischer Schreiner namens Georg Elser. Anfang November 1939 kam Elser dem Ziel,
Hitler zu töten, näher als irgend jemand bis zum Juli 1944. Nur ein Zufall rettete den Diktator. Elsers Motive,
die sich auf elementare Gefühle gründeten und nicht aus dem gequälten Gewissen der Gebildeten und
Kenntnisreichen hervorgingen, spiegelten nicht die Interessen von Leuten in hohen Stellungen wider, sondern
zweifellos die Sorgen zahlloser gewöhnlicher Deutscher zu jener Zeit. [...]
Die Verschwörer in hohen Stellungen von Abwehr, Außenministerium und Generalstab waren ebenso erstaunt wie alle anderen Deutschen, als sie von einem Angriff auf Hitlers Leben erfuhren, der am Abend des 8. November 1939 im Bürgerbräukeller zu München stattgefunden hatte. Sie vermuteten, das Geschehen sei von jemandem aus ihren Reihen oder von nationalsozialistischen Dissidenten ausgegangen, beziehungsweise sei irgendeine andere Gruppierung von Gegnern im Spiel gewesen: Kommunisten, Geistliche oder "Reaktionäre", und Hitler habe eben rechtzeitig einen Wink erhalten. Tatsächlich saß Hitler zum Zeitpunkt des Anschlags mit Goebbels in einem Abteil seines Sonderzugs. Die beiden sprachen darüber, dass die letzte große Abrechnung mit der Geistlichkeit bis zum Ende des Kriegs würde warten müssen. Hitler erfuhr überhaupt nichts von dem Vorfall, bis seine Reise nach Berlin in Nürnberg durch die Meldung unterbrochen wurde. Seine erste Reaktion lautete, dass der Bericht falsch sein müsse. Goebbels hielt ihn für eine "Mystifikation". Die offizielle Version, die bald verbreitet wurde, behauptete, der britische Secret Service stehe hinter dem Attentatsversuch, und der Täter sei "eine Kreatur" von Otto Strasser. Die Verhaftung der beiden britischen Agenten Major R.H. Stevens und Captain S. Payne Best an der holländischen Grenze am nächsten Tag wurde propagandistisch genutzt, um diese weit hergeholte Version zu stützen.
Die Wahrheit war weniger sorgfältig konstruiert, dafür um so erstaunlicher. Der Attentatsversuch war von einem einzelnen durchgeführt worden, einem ganz gewöhnlichen Deutschen, einem Mann aus der Arbeiterklasse, der ohne die Hilfe oder das Wissen von irgend jemand anderem handelte. Wo Generäle gezögert hatten, unternahm er den Versuch, Hitler in die Luft zu sprengen, um Deutschland und Europa eine noch größere Katastrophe zu ersparen.
Der Name des Mannes war Johann Georg Elser. Er war ein Zimmermann aus Königsbronn in Württemberg. Zu dem
Zeitpunkt, da er versuchte, Hitler zu töten, war er 36 Jahre alt. Er war von kleiner Gestalt und trug dunkles,
welliges, zurückgekämmtes Haar. Die ihn kannten, und das waren nicht viele, schätzten ihn. Er war ein
Einzelgänger mit wenig Freunden: ruhig, zurückhaltend, fleißig und ein Perfektionist bei der Arbeit.
Er hatte kaum Bildung genossen, las keine Bücher und beschäftigte sich kaum mit Zeitungen. Selbst in den
Tagen unmittelbar vor seinem Attentatsversuch interessierte er sich kaum für die aktuellen Nachrichten. Sonst
hätte er mitbekommen, dass Hitler dringender Verpflichtungen wegen, die mit dem Krieg zusammenhingen, von
seiner Gewohnheit abzuweichen beabsichtigte, am Jahrestag des Bürgerbräuputsches eine Ansprache an die
"Alten Kämpfer" zu halten. Dies waren genau die Tage, da die Entscheidung für die Offensive im
Westen fiel und dann rückgängig gemacht wurde. Als Ersatzredner war Rudolf Heß bestimmt worden. Der
Bombenanschlag wäre daher überflüssig gewesen. Aber Elser wusste nichts davon; ebenso wenig erfuhr er
von Hitlers Entscheidung, die Rede schließlich doch selbst zu halten. Elser war, und das ist bemerkenswert,
nicht wirklich an Politik interessiert. Er beteiligte sich nicht an politischen Gesprächen, er war ideologisch
nicht beschlagen. Allerdings hatte er sich einst dem kommunistischen Roten Frontkämpferbund angeschlossen,
und er war Mitglied der Holzarbeitergewerkschaft gewesen, hatte jedoch in beiden Organisationen keine aktive Rolle gespielt.
Vor 1933 hatte er die KPD gewählt, weil sie seiner Ansicht nach dafür einstand, das Los der arbeitenden Klassen
zu verbessern. Ideologie spielte für ihn keine Rolle. Nach 1933, so behauptete er, habe er eine Verschlechterung
des Lebensstandards der Arbeiterklasse und die Einschränkung ihrer Freiheit beobachtet. Er nahm den Zorn zur Kenntnis,
der unter den Arbeitern über das Regime herrschte.
Mit Arbeitskollegen führte er Gespräche über die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen, und er
teilte ihre Ansichten. Elser fürchtete wie seine Kollegen auch einen bevorstehenden Krieg, den sie alle im Herbst
1938 erwarteten. Nach dem Münchener Abkommen blieb er davon überzeugt, so sagte er, "dass Deutschland
anderen Ländern gegenüber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Länder einverleiben wird und
dass deshalb ein Krieg unvermeidlich ist". Von niemandem dazu veranlasst, begann er intensiv darüber
nachzudenken, wie die Lage der Arbeiter zu verbessern und der Krieg zu verhindern sei. Er gelangte zu dem Schluss,
dass nur die "Beseitigung der augenblicklichen Führung" des Regimes, also Hitler, Göring und Goebbels,
dazu führen würde. Dieser Gedanke sollte ihn nicht mehr loslassen. Im Herbst 1938 entschied er sich dafür,
selbst die "Beseitigung der Führung" zu unternehmen.
Durch Zeitungslektüre fand Elser heraus, dass die nächste Zusammenkunft von Parteiführern Anfang November
im Bürgerbräukeller stattfinden sollte, und er reiste nach München, um die Möglichkeiten für sein
Vorhaben zu eruieren. Die Sicherheitsprobleme waren nicht groß. Die Verantwortung für die Sicherheit bei
Veranstaltungen dieser Art lag bei der Partei, nicht bei der Polizei. Er gelangte zu der Ansicht, die beste Methode würde
darin bestehen, in dem Pfeiler hinter dem Podium, auf dem Hitler stehen sollte, eine Zeitbombe anzubringen. Im Laufe der
nächsten Monate stahl er Sprengstoff aus der Rüstungsfabrik, in der er damals arbeitete, und entwarf den
Mechanismus für seine Zeitbombe. Anfang April reiste er erneut von Königsbronn nach München und kehrte
in den Bürgerbräukeller zurück. Diesmal sah er sich die Lage vor Ort noch sorgfältiger an. Er
fertigte genaue Skizzen an und nahm präzise Messungen vor. An seinem neuen Arbeitsplatz, einem Steinbruch, konnte
er Dynamit stehlen. In den nächsten Wochen konstruierte er ein bis in die Einzelheiten genaues Modell der Bombe und
führte im Garten seiner Eltern einen praktischen Test mit dem Zündmechanismus durch. Anfang August reiste er
wieder nach München.
Zwischen dieser Zeit und Anfang November versteckte er sich mehr als 30mal die Nacht über im Bürgerbräukeller. Er arbeitete daran, in dem ausgewählten Pfeiler einen Hohlraum anzulegen. Früh am Morgen verließ er jeweils das Gebäude durch eine Seitentür. Elser war so penibel, dass er sogar die Höhlung mit Zinn auslegte, um jeglichen hohlen Klang zu vermeiden, sollte jemand an den Pfeiler stoßen oder etwa den Bombenmechanismus zerstören, indem er Dekorationen annagelte. Am 6. November war die Bombe an ihrem Platz und der Zeitzünder eingestellt. Elser überließ nichts dem Zufall. Er kehrte am Abend des 7. November nochmals zurück, um zu überprüfen, ob alles richtig funktionierte. Er drückte sein Ohr seitlich an den Pfeiler und hörte das Ticken. Nichts war schiefgelaufen. Am nächsten Morgen verließ er München in Richtung Konstanz, auf dem Wege, so meinte er, in die Schweiz und damit in die Sicherheit.
An jenem Abend versammelte sich, wie stets am 8. November, die Alte Garde der Partei. Hitler hatte am Vortag verkündet, dass er trotz allem seine jährliche Rede halten werde. Gewöhnlich dauerte seine Ansprache von etwa 20.30 Uhr bis gegen 22.00 Uhr. Es war jedoch bereits bekanntgegeben worden, dass die Veranstaltung wegen der Kriegslage in diesem Jahr früher beginnen und die normalerweise zwei Tage dauernde Gedenkveranstaltung an den Putsch abgekürzt werden würde. Hitler begann seine Rede kurz nach seiner Ankunft im Bürgerbräukeller um 20.10 Uhr und beendete sie bereits um 21.07 Uhr. Der Vortrag war eine lange Tirade gegen Großbritannien, im Ton höchst sarkastisch, gut abgestimmt auf sein rauhbeiniges Publikum von Parteifanatikern. Normalerweise verbrachte Hitler nach der Rede einige Zeit damit, sich zwanglos mit den Alten Kämpfern der Bewegung zu unterhalten. Diesmal verließ er, eskortiert von einer Anzahl an Parteibonzen, unverzüglich die Veranstaltung und begab sich zum Bahnhof, damit er um 21.31 Uhr den Zug zurück nach Berlin erreichen konnte.
Um 20 Minuten nach 21.00 Uhr wurde der Pfeiler unmittelbar hinter dem Podium, wo Hitler noch Minuten zuvor gestanden hatte, und ein Teil der Decke darüber durch Elsers Bombe zerfetzt. Acht Personen wurden bei der Explosion getötet. Weitere 36 waren verletzt, 16 davon lebensgefährlich. Hitler hatte noch keine zehn Minuten den Saal verlassen, als die Bombe hochging.
Hitler führte seine Rettung auf das Werk der "Vorsehung" zurück. Er sah darin ein Zeichen dafür,
dass er die Aufgabe erfüllen werde, die das Schicksal für ihn bestimmt habe. In seiner Schlagzeile sprach der
Völkische Beobachter am 10. November auf der ersten Seite von der "wunderbaren Errettung des Führers".
Doch "Vorsehung" oder ein Wunder spielten keine Rolle. Hitler hatte Glück gehabt. Seine Gründe,
unverzüglich nach Berlin zurückzukehren, waren ernsthaft genug. Die Entscheidung, den Westen anzugreifen, war
am 7. November vorübergehend verschoben worden, und eine endgültige Entscheidung sollte am 9. fallen. Hitler
musste bis dahin wieder in der Reichskanzlei sein. Dies war wichtiger als die Pflege von Erinnerungen an alte Zeiten mit
Parteiveteranen im Bürgerbräukeller. Elser konnte über die Gründe für die Verkürzung von
Hitlers Blitzreise nach München nichts wissen. Nur aus bloßem Zufall hatte der schwäbische Handwerker
keinen Erfolg mit etwas, woran die Generäle gescheitert waren, ja nicht einmal einen Versuch gewagt hatten. Ob die
Generäle gehandelt haben würden, wäre Elsers Versuch erfolgreich gewesen, sobald also das Hauptziel ihrer
Putschpläne beseitigt gewesen wäre, ist fraglich. Mit dem Scheitern von Elsers Attentatsversuch war es mit der
Möglichkeit vorbei, dass eher "gemäßigte" Kräfte die Macht übernahmen und am Rande
eines umfassenden Kriegs mit dem Westen einen "Rückzieher" machten.
Als die Bombe explodierte, befand sich Elser bereits im Arrest in einer Zollstation in der Nähe von Konstanz. Er war bei dem Versuch aufgegriffen worden, illegal die Grenze zur Schweiz zu überschreiten. Es schien sich um eine Routineverhaftung zu handeln. Erst einige Stunden nach der Detonation begannen die Grenzbeamten zu erkennen, dass die Inhalte von Elsers Taschen, darunter eine Postkarte aus dem Bürgerbräukeller, ihn mit dem Attentatsversuch gegen Hitler in Verbindung brachten. Am 14. November legte Elser ein Geständnis ab. Wenige Tage später gab er eine vollständige Schilderung seiner Handlungen und der ihnen zugrundeliegenden Motive. Er wurde ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht und dort immerhin als privilegierter Gefangener behandelt. Möglicherweise beabsichtigte Hitler, der weiterhin glaubte, dass Elser der Strohmann einer internationalen Verschwörung, nach dem Krieg einen Schauprozess durchzuführen, um den britischen Secret Service des Verbrechens zu beschuldigen. Ende 1944 oder Anfang 1945 wurde Elser nach Dachau verlegt. Es sollte keinen Schauprozess gegen ihn mehr geben. Als der Krieg so gut wie verloren war, war er für das Regime wertlos geworden. Kurz bevor die Amerikaner Dachau befreiten, wurde er aus seiner Zelle geholt und ermordet.
Elser hatte vollkommen allein gehandelt. Aber die Sorgen, die ihn motiviert hatten - Sorgen um den Lebensstandard, Ängste wegen der Ausweitung des Kriegs -, waren im Herbst 1939 weit verbreitet. Zu dieser Zeit liefen viele Berichte über Unruhe in der Arbeiterklasse um. Die Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September hatte sogleich zur Verschlechterung des Lebensstandards, zu höheren Steuern, zur Abschaffung bestimmter Zuschläge für Mehrarbeit und Wochenendarbeit und zu anderen Restriktionen geführt. Es folgte dann ein Einfrieren der Löhne. Mängel an Disziplin in der Industrie, etwa "Krankfeiern" und Verweigerung von Überstunden, zwangen das Regime schließlich zum Nachgeben. Doch längere Arbeitszeiten, ein Anstieg der Nahrungsmittelpreise und eine akute Knappheit an Kohle trafen in diesem Herbst vor allem die ärmeren Schichten der Gesellschaft. Für jene, die aus der Reihe tanzten, bedeutete die erhöhte Polizeipräsenz in den Fabriken eine ständige Erinnerung daran, dass ihnen das Arbeitslager drohte.
Die Euphorie wegen des Siegs über Polen war bald verblasst. Neben die täglichen Sorgen traten jene um eine Ausdehnung des Kriegs. Der Sitzkrieg, der "Phoney War", wie amerikanische Journalisten die Herbst- und Wintermonate 1939/1940 bezeichneten, als im Westen nicht gekämpft wurde, ließ die Hoffnungen anwachsen. Vor allem wünschten die Menschen, dass der Krieg bald vorbei sei. In seinen Kriegsängsten sprach Elser für viele. Er konnte mit weit weniger Einverständnis rechnen, wenn er der NS-Führung die Schuld am Krieg zuschrieb. Vieles deutet darauf hin, dass es der Propaganda gelungen war, die meisten gewöhnlichen Deutschen davon zu überzeugen, dass die Westmächte die Schuld an der Verlängerung eines Kriegs trügen, den zu vermeiden Hitler alles Erdenkliche getan habe. Welche Kritik es auch immer geben mochte, und es kam zu vielen und bitteren kritischen Aussagen, die die Menschen gegen die Partei und das Regime vorzubringen hatten, so blieb Hitlers noch immer gewaltige Popularität davon unberührt. Die Ansicht eines großbürgerlichen Münchener Konservativen, der vor allem durch den Angriff auf das Christentum in den Widerstand getrieben worden war, es lebe niemand in der Stadt, der das Scheitern von Elsers Versuch nicht bedauere, stellte nicht mehr als Wunschdenken dar. Nur wenige würden einem erfolgreichen Attentatsversuch Beifall gespendet haben. Sehr viele wären entsetzt gewesen. Die Chancen für einen Rückschlag und eine neue Dolchstoßlegende wären groß gewesen. So wie die Dinge lagen, brachte das Scheitern des Versuchs, wie zu erwarten, einen neuen, starken Aufschwung der Unterstützung für Hitler und neuen, tief sitzenden Hass gegen Großbritannien von dem man annahm, es habe hinter dem Anschlag gestanden. Nicht nur Lageberichte aus dem Reich betonten, dass "die Liebe Führer noch mehr gewachsen" sei. Die Gegner des Regimes im Untergrund erkannten ebenfalls an, dass Elsers Bombe die Kampfentschlossenheit gestärkt habe. Viele Menschen meinten, wäre der Anschlag erfolgreich gewesen, so hätte dies zu inneren Wirren geführt. Das hätte Deutschlands Feinden genutzt und schließlich die Niederlage im Krieg zur Folge gehabt. Am Ende hätte ein schlimmeres Elend als das von "Versailles" und der Verlust all dessen gestanden, was seit 1933 erreicht worden sei.
Hitler hatte Deutschland so fest wie eh und je im Griff. Das Versagen jener, die mächtig genug waren, etwas gegen ihn zu unternehmen, und die Auswirkungen von Elsers Bombenanschlag zeigten, dass seine Autorität aus dem inneren Kreis der Eliten des Regimes nicht angreifbar war und dass er bei den Massen noch immer ungeheuer populär war. Er machte sich den letztgenannten Aspekt zunutze, als er um die Mittagsstunde des 23. November in der Reichskanzlei vor einer Zusammenkunft von etwa 200 kommandierenden Generälen und anderen hohen Wehrmachtsoffizieren sprach. [...]
Er sprach ganz offen über die zukünftige Politik gegenüber der Sowjetunion. Russland, so behauptete er, sei gegenwärtig
nicht gefährlich und beschäftige sich in erster Linie mit dem Ostseeraum. "Wir können Russland nur
entgegentreten, wenn wir im Westen frei sind. Ferner strebt Russland Stärkung seines Einflusses auf den Balkan an
und strebt nach dem Persischen Golf. Das ist auch das Ziel unserer Außenpolitik."
Dann kam er auf Italien zu sprechen. Dort, so meinte er, hänge alles von Mussolini ab. "Italien wird erst
eingreifen, wenn Deutschland selbst gegen Frankreich offensiv vorgegangen ist. Ebenso wie der Tod Stalins kann der
Tod des Duce uns Gefahr bringen", bemerkte er unter Hinweis auf Elsers beinahe gelungene Tat: "Wie leicht der Tod einen Staatsmann treffen kann, habe ich selbst vor kurzem erlebt." [...]
Hitler erfreute sich eines Maßes an Popularität, das von keinem anderen politischen Führer
jener Zeit übertroffen wurde. Er hatte recht, als er sagte, das deutsche Volk - gewiss eine überwältigende
Mehrheit - stehe hinter ihm. Seine Popularität hatte ihm bei seinen Konflikten mit dem Heer gewaltigen Auftrieb gegeben.
Sie hatte die Entschlossenheit oppositioneller Gruppen bei vielen Gelegenheiten geschwächt. Ende des Jahres 1939
war seine Vorherrschaft gesichert. Elsers Bombe hatte lediglich erneut zu einer Demonstration seiner Popularität
geführt. Währenddessen war die Opposition im Inneren derart resigniert, dass sie nicht mehr handlungsfähig
war. Die Marine und die Luftwaffe standen hinter Hitler. Die Führung des Heeres würde, welche Bedenken sie auch
immer hegen sollte, ihre Pflicht erfüllen. Die Spaltung unter den Generälen, verbunden mit ihrem betonten
Pflichtbewusstsein, selbst wenn sie einen bestimmten Kurs des Handelns für katastrophal hielten, war Hitlers Stärke. [...]
Der schwäbische Tischler Georg Elser hatte, nur auf sich gestellt da Zögern jener nicht geteilt, die innerhalb der Machtstrukturen des Regimes operierten. Er hatte am Abend des 8. November 1939 im Bürgerbräukeller entschieden gehandelt und Hitler um Haaresbreite in den Tod geschickt. Nur ein schicksalhafter Zufall hatte Hitler gerettet. Aber abgesehen von den Taten eines einsamen Attentäters lag die einzige Hoffnung, Hitler zu stürzen, bei Personen, die zum engeren Führungskreis des Regimes gehörten. Die Widerstandsgruppen der Linken im Untergrund, die zwar nie völlig beseitigt wurden, waren schwach und isoliert und ohne jeden Zugang zu den Machtzentren.
Ian Kershaw (* 29. April 1943 in Oldham, England) ist ein britischer Historiker und
zählt zu einem der bedeutendsten Experten auf dem Gebiet der deutschen Geschichte
des 20. Jahrhunderts. Einem breiterem Publikum wurde er mit seiner zweiteiligen Hitler-Biografie bekannt,
die 1998 und 2000 erschien. Dieser Bestseller umfasst über 2.300 Seiten und gilt mittlerweile als Standardwerk zu Hitler.
Kershaw studierte in Liverpool und Oxford.
Nach seinem Abschluss war er zunächst als Dozent für mittelalterliche und moderne Geschichte an der Universität zu Manchester tätig.
1983-84 hatte er eine Gastprofessur an der Ruhr-Universität in Bochum inne.
1987 nahm er eine Professur für moderne Geschichte an der University of Nottingham an. Zwei Jahre später wechselte er an die Universität zu Sheffield, wo er bis heute als Professor für moderne Geschichte forscht und lehrt.
1994 wurde Kershaw für seine Verdienste um die deutsche Geschichte mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 2002 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen und darf sich seitdem Sir Ian Kershaw nennen.
Die Darstellung der Tat Georg Elsers in der Hitler-Biografie des Engländers Ian Kershaw ist im Vergleich
mit Joachim C. Fest (1973),
John Toland (1976) und
Ralf Georg Reuth (2003) die mit Abstand ausführlichste.
SPIEGEL: In welche Kategorie fällt das Scheitern aller Attentate auf Hitler?
Kershaw: Das war hauptsächlich Zufall. Anders kann ich nicht erklären, dass im November 1939 der
Bombenanschlag des Schreiners Georg Elser in München scheiterte, weil Hitler die vorgesehene Redezeit halbierte
und den Saal im Bürgerbräukeller 13 Minuten vor der Explosion verließ.
SPIEGEL: Ist Elser Ihr Held in dieser Zeit?
Kershaw: Einer von den wenigen sicherlich, vermutlich gerade deshalb, weil er ein Außenseiter war. Elser ist kein
politischer Mensch, er will Hitler töten, um den Krieg zu beenden, einfach so. Verglichen mit den Offizieren, die immer
wieder zögern, bis sie 1944 endlich einen Anschlag zu Stande bringen, ist Elser eine Lichtgestalt.
Quelle: Dem Führer entgegen arbeiten, Interview, Der Spiegel 34/2000 (21.8.2000), Hamburg 2000