Maria Strobl: Georg Elser
Man gibt mir immer wieder Spritzen. Aber die helfen auch nicht. Man hat es schon oft probiert. Das Dröhnen bleibt. Es wird mich immer an diese schrecklichen Minuten von damals erinnern. Solange ich lebe. Die Ärzte glauben auch nicht mehr daran, dass es in meinem Kopf jemals wieder still werden wird.
Die Detonation der Bombe hatte mein Trommelfell zerstört. Meine linke Kopfseite dröhnt seither wie ein Express im Tunnel. Und am Sonntag, am 8. November, sind es genau 20 Jahre, dass dieses Dröhnen begann. Ich werde an diesem Abend wieder weinen. Weinen um meine Gesundheit, die ich beim Hitler-Attentat im Bürgerbräu-Keller unschuldig verloren habe.
Ich hatte ihn [Elser] schon oft bei uns gesehen. Er war mir aufgefallen, weil er sehr ärmlich gekleidet war und immer das Arbeiteressen bestellte, das bei uns damals 60 Reichspfennig kostete. Besonders seltsam aber war, dass er sich nie etwas zu trinken bestellte. Im Bürgerbräu und nichts trinken? Na wissen Sie!
Ich habe ihm alles haarklein erzählt. Wie ich das schon tausendmal bei anderen Gästen getan hatte. Ich merkte ja, dass er nicht aus München war.
Zuerst kamen immer die Mitarbeiter von Hitler in den Saal und nahmen Platz. Erst ganz zuletzt kam der Führer in Begleitung von Rö[?], Heß, Goebbels und Himmler. Acht Tage vorher schon war der Raum polizeilich abgesperrt und überwacht worden. Tag und Nacht patrouillierten Wachen mit Polizeihunden. Türen, Schlösser, elektrische Leitungen und Telefonkabel wurden genau unter die Lupe genommen.
1939 war alles ganz anders. Der Saal wurde nicht vorher abgesperrt. Wir mussten damals nämlich jeden Tag 500 Personen im Saal verpflegen, die gerade in München eine Luftschutzübung mitmachten.
Wir mussten natürlich vor der Rede Adolf Hitlers servieren. Der Führer trank immer nur mitgebrachten Sprudel, den sie vorher untersucht hatten. Die anderen nahmen Tee und Kaffee.
Wenn Hitler mit seiner Rede begann, sind wir Serviererinnen immer in den Vorraum gegangen. Wir haben uns eine Zigarette angesteckt und ein Plauderstündchen gehalten. Wir hatten die ganze Rede über nichts zu tun. Erst hinterher schenkten wir nach. Oder kassierten dann schon ab. - Wir haben die Reden nie gehört.
Wenn das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied gesungen wurden, sind wir Kellnerinnen immer in die Toilette gegangen. Wir haben so getan, als würden wir uns vor dem Spiegel zurechtmachen. Sie müssen verstehen: Vom Servieren der vielen schweren Maßkrüge waren unsere Arme natürlich müde. Wir wollten sie nicht auch noch ein paar Minuten ausgestreckt halten müssen.
Dann hörten wir schon, dass im Saal die Stühle gerückt wurden. Das war für uns immer das Zeichen des Aufbruchs. Wir Kellnerinnen gingen dann wieder in den Saal.
Gleich nach dem Horst-Wessel-Lied ist der Führer mit seinen engsten Mitarbeitern gegangen. Er hat den Saal direkt durch den Haupteingang verlassen. Sein Auto wartete bereits vor unserem Portal an der Rosenheimer Straße.
Die meisten Tische im großen Saal hatten sich geleert. Auch auf der Galerie war kaum noch jemand. Insgesamt blieben etwa 150 Männer im Saal. Sie hatten sich in kleineren Gruppen zusammengesetzt und diskutierten die Rede Adolf Hitlers. Sie tranken auch noch was und redeten wie der Goebbels persönlich.
Die Herren verließen mit dem Hitler den Saal so plötzlich, dass ich gar nicht mehr kassieren konnte. Ich musste nach den ganzen Aufregungen dieses 8. November noch neunmal in das "Braune Haus" in der Briennerstraße, bis ich mein Geld bekam. Nie war jemand da, der bezahlen wollte. Schließlich hat Herr Niepold - das war ein früherer Gauleiter - mir das Geld für sich und seine Kameraden gegeben.
Ich hatte gerade zwölf Maßkrüge in der Hand. Ich stand genau vor der Säule vom Hitler, weil ich ja da bedient habe. Ich glaube, diese Fahne ist in 15 Jahren nicht einmal gewaschen worden. Sie war steif vor Schmutz. Aber immer wieder kamen Leute, vor allem Frauen, die Blumen an die Fahne steckten oder sie begeistert küssten.
Als ich die zwölf Maßkrüge gerade in der Hand hatte und mir so die "Führer-Säule" anschaute, kam ein furchtbarer Luftdruck. Er hat mich durch die Pendeltüren geschleudert bis zum Haupteingang. Steine flogen mir um den Kopf und der ganze Dreck. Und dann habe ich gar nichts mehr gemerkt.
Die Explosion schleuderte mich aus dem Saal. Als ich wieder zu mir kam, lag ich zwischen zersplitterten Maßkrügen, zerschmetterten Tischen, zerfetzten Blumengirlanden und blutenden Männern. Ich war mit Mauersteinen und Ziegelstaub zugedeckt. Hinter mir war die schwere Saaldecke mit den fünf mächtigen Leuchtern herabgestürzt. Sie hatte die Männer, deren Bierkrüge ich gerade neu füllen wollte, unter sich begraben.
Die SS-Leute haben sich furchtbar gestritten. Keiner wusste, was wirklich losgewesen war. Alles war in sich zusammengefallen. Man musste erst die ganzen Trümmer wegräumen, bevor man die Toten bergen konnte.
Das ganze Personal des Bürgerbräu-Kellers, das bei der Explosion nichts abbekommen hatte, wurde verhaftet. Alles haben sie mitgenommen. Unseren Pächter Payerl und seine Frau, die Kellnerinnen, die Mädchen aus der Küche, die Putzfrauen, sogar die Toilettenwärterinnen. Es waren fast fünfzig Leute.
Quelle: Günter Peis, Zieh' dich aus, Georg Elser!, Bild am Sonntag (8.11.1959, 15.11.1959, 22.12.1959), Hamburg 1959
Maria Strobl war seit 1930 im Bürgerbräukeller als Kellnerin beschäftigt. Beim Attentat wurde sie als 45-jährige verletzt und litt ihr Leben lang an den Folgen.