Hitlers wahren Antagonisten - sein moralisches Gegenbild - finden wir nicht unter den militärischen Führern oder den Junkern, die alle ein politisches Ziel oder ein patriotisches Anliegen mit ihm teilten; nicht unter dem Klerus der beiden Konfessionen, deren Märtyrer vorwiegend der - in der Offenbarung wurzelnden - kirchlichen Tradition der Selbstaufopferung folgten und daraus ihre Kraft zogen; auch nicht unter den Juden, die in der Mehrzahl die hilflosen Opfer des Regimes waren, verlassen von Gott und den Menschen.
Um Hitlers wahren Gegner zu finden, müssen wir nach dem "kleinen Mann" suchen: nach einem, der aus den gleichen sozialen Umständen kam wie er selbst und doch ohne religiösen oder ideologischen Hintergrund in einer ganz anderen moralischen Welt lebte und starb. Sein Name ist Johann Georg Elser. Ein Name, der in der Literatur des Widerstands wenig geehrt wird. Joachim Fest schreibt (wie fast alle Hitler-Biographen) von einem namenlosen "Einzelgänger", ohne sich auf Elsers politische Motivierung festzulegen, bei Bullock wird Elser erwähnt als eine obskure Gestalt in einer unwahrscheinlichen Gestapo-Intrige, betrogen von seinen Auftraggebern. Die Wahrheit sieht anders aus. ...
Die wenigen Parallelen und die viel zahlreicheren Gegensätze zwischen den beiden Antagonisten Hitler und Elser sind deutlich genug, und doch waren die beiden Zeitgenossen. Es gibt in Elsers Geständnis eine Stelle, an der er vor der Ideologie zu kapitulieren scheint und sich ihre Sprache zu eigen macht: einen Augenblick, da auch er gezwungen ist, seine Tat mit den Augen seiner Folterknechte zu sehen. In dem Katz-und-Maus-Spiel, das sie während des Verhörs mit ihm treiben, fragen sie ihn, was er im Falle seiner Freilassung tun würde, worauf er - verständlich genug -antwortet, er würde versuchen, seinen Platz in der "Volksgemeinschaft" wiederzufinden.
"Könnten Sie das?" wird er dann gefragt.
"Ich habe meine Ansicht geändert", antwortet er - und wer wollte es einem Manne in dieser Lage verdenken, dass er sein Leben retten will. Was ihn in diesem Moment zweifellos am schwersten bedrückt, ist nicht der Fehlschlag seines Unternehmens noch auch sein eigenes Schicksal, sondern die Tatsache, dass er acht Menschen getötet hat (eben erst hat die Gestapo ihm einen Film von ihrem Begräbnis vorgeführt) und sechzig weitere verwundet.
"Dadurch, dass sie festgenommen worden sind?"
"Nein", erwidert er schließlich. "Ich glaube bestimmt, dass mein Plan gelungen wäre, wenn meine Auffassung richtig gewesen wäre. Nachdem er nicht gelungen ist, bin ich überzeugt, dass er nicht gelingen sollte und dass meine Ansicht falsch war." Sagte er dies, um die eigene Haut zu retten und weil er meinte, sie wollten es so hören, oder glaubte er es tatsächlich? ...
Die Freiheit, die sich Elser durch seine Tat sicherte, war begrenzt, wie es unsere Freiheit stets ist, aber nicht befleckt; die Entscheidung, die er traf - gegen die Ideologie, für Anstand und Gerechtigkeit - war die Entscheidung eines freien Mannes.
Quelle: Joseph Peter Stern, Hitler: The Führer and the People, London 1975 (deutsch: Der Führer und das Volk, München 1978)
Joseph Peter Stern, 1920 in Prag geboren, emigrierte nach Hitlers Besetzung der Tschechoslowakei nach England.
In der Royal Airforce kämpfte er gegen Deutschland. Er war Professor für deutsche Literatur am University College in London.
Zahlreiche Veröffentlichungen über die deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts.