Gedächtnisfeiern sind nicht immer die besten Anlässe, um zur historischen Wahrheit zu gelangen, denn
sie fördern oft die Bildung von Mythen - ich aber spreche zu Ihnen als einer, der von der
Universität kommt und der also schon zunftmäßig seine Aufgabe darin sieht, für
menschliche Taten und Motive vor allem vernünftige Erklärungen zu suchen. Wollen wir Johann
Georg Elser ehrlich feiern, so dürfen wir uns auf keine falsche Pietät einlassen, sondern ihn und
seine Tat so wahrheitsgetreu wie möglich aus dem auf uns überkommenen dokumentarischen Material zu deuten
und zu erklären versuchen.
Tun wir überhaupt recht daran, Georg Elser zu feiern? Die verschiedenen Verdächtigungen und Gerüchte, die in den ersten Nachkriegsjahren mit seinem Namen verbunden wurden, brauche ich hier nicht mehr zu widerlegen - es ist dies einmal vor der Münchener Staatsanwaltschaft II (im Jahre 1950), und zum zweiten Mal in dem sehr genau belegten Artikel von Anton Hoch (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte XVII, 1969) ausführlich getan worden; wen diese Argumente nicht überzeugen, kann die von Himmler entgegengenommenen Akten des Gestapo-Verhörs, dem Georg Elser in Berlin unterzogen wurde, in Koblenz selbst einsehen - und wen auch diese Beweise nicht überzeugen, dem ist halt nicht zu helfen.
Trotzdem - so muss ich mit tiefem Erstaunen feststellen: die Akten, die mir Herr Hauser nach dem gestrigen Podiumsgespräch zeigte, beweisen es - wurde die Bitte der Mutter Georg Elsers um Wiedergutmachung von dem Münchener Gericht abgelehnt.
Doch abgesehen von diesen grundlosen Verdächtigungen kann wohl kaum bestritten werden, dass mit Elsers Tat gewisse zweifelhafte Umstände verbunden sind, die ausgesprochen werden müssen. Ich will sie hier aufzählen:
Georg Elser war ein Attentäter. Bei seinem misslungenen Anschlag sind acht unschuldige Menschen ums Leben gekommen und mehr als sechzig verwundet worden. Wir alle glauben - können in unserem täglichen Leben nicht umhin zu glauben -, dass unter gewissen Umständen der Zweck die Mittel heiligt oder jedenfalls entschuldigt, hier aber wurde der Zweck nicht erreicht. Die Tötung dieser Menschen bleibt - blieb auch für ihn - ein unabdingbares Übel, und Elser hat - sogar aus dem bureaukratisch formulierten Gestapo-Protokoll ersehen wir das - über die unbeabsichtigte aber vorhersehbare Folge seiner Tat seine tiefe Trauer und Reue ausgesprochen.
Auch das Opfer, das er bewusst gebracht hat - es war ihm ganz klar, was ihm bevorstand, wenn er ertappt würde - auch das Opfer an sich dürfen wir nicht preisen. Opferbereitschaft an sich, so scheint mir, ist wertlos; ihr Wert zuzuschreiben einer der argen Aberglauben unseres Jahrhunderts. Elser lebte in einem Zeitalter, in dem die Opferbereitschaft als absoluter Wert, das Opfer ohne die Frage wozu und wofür, gerade vom Nationalsozialismus unaufhörlich propagiert wurden - ja, in diesem Appell an die absolute, wahllose Opferbereitschaft selbst der breiten Massen scheint mir das innerste Wesen und die geheime Anziehungskraft der nationalsozialistischen Ideologie zu liegen.
Weiter muss gesagt werden, dass für uns das Bild eines solchen Attentäters etwas tief Erschreckendes hat. Es ist das Bild eines Mannes, der sich ein ganzes Jahr lang, vom Herbst 1938, vom Herbst des Münchener Abkommens, bis heute vor vierzig Jahren, mit dem Gedanken dieses Attentats trug und alle seine täglichen Sorgen und Erwägungen auf die Vorbereitung des tödlichen Apparats und auf seine Unterbringung konzentrierte.
Und schließlich ist zu sagen, dass Georg Elsers Bindung an das kirchliche Christentum eine äußerst lose war; auch zum kirchlich indifferenten schwäbischen Pietismus hatte er selbst kaum eine Beziehung. Das Hauptzeugnis seines Lebens ist das sehr ausführliche Protokoll seines zweiten (Berliner) Gestapoverhörs - ein Zeugnis, das trotz seines Ursprungs eine unanzweifelbare innere Echtheit wie äußere Schlüssigkeit besitzt. Soviel wir nun aus diesem Protokoll ersehen können, war es nicht sein christlicher Glaube, der ihn zur Tat trieb, sondern im Gegenteil seine Tat, die ihn zum Glauben trieb - d. h. es war die Angst, eine für uns, die wir heute in den relativ freien Ländern des Westens leben, kaum vorstellbare Angst - die ihn auf der Suche nach Trost und Zuversicht in die Kirchen trieb, um dort (wie er sagt) "mein Vaterunser zu beten. Es spielt meines Erachtens keine Rolle" - so fährt er fort in seiner Aussage - "ob man dies in einer katholischen oder evangelischen Kirche tut... Es ist schon so, dass ich nach meinem Gebet immer wieder etwas beruhigter war." Worte wie dieses "Es ist schon so" lassen dem, der genau zuhört, keinen Zweifel an der Echtheit dieser Aussage. Soweit die dubiosen Aspekte des Menschen und seiner Tat.
Trotzdem, so glaube ich, tun wir recht daran, Georg Elser zu feiern, ja gerade die Umstände, die ich hier aufgezählt
habe, geben uns das Recht dazu. Elser war nicht einer der Märtyrer der Kirche. Jener absolute Glaube, für den,
wie wir wissen, manch Anderer in den Tod gegangen ist, hat ihn, soweit wir dies beurteilen können, nicht beseelt.
Was er tat, war von politischen Absichten erfüllt und zielte auf politische Wirkungen. Was er unternahm, weist die
Makel menschlichen Tuns auf. Doch eben sie sind es, die das menschlich Bedingte und menschlich Ansprechende seiner Tat
ausmachen, sie zeugen dafür, dass auch diese Tat, die ihn das Leben kostete, verflochten ist in dem vielfarbigen
Knäuel menschlicher Handlungen und die Signatur ihrer Zeit trägt - einer Zeit nämlich, in der wohl nur
das Erleiden und nur die Bereitschaft zur Rettung, nicht aber eine auf politische Wirkung ausgerichtete Tat, ganz rein
und ganz frei vom Übel sein konnten.
Georg Elser steht vor uns als ein freier, tätiger und vernünftiger Mensch, und sein Leben und Tod gewinnen ihren Sinn aus dieser dreifachen Bestimmung.
Er war ein freier Mensch. Die Bedingungen, aus denen seine Freiheit entsprang, waren seine persönliche Genügsamkeit, seine handwerkliche Fertigkeit und sein Nonkonformismus, seine geistige Unabhängigkeit - all dies zu einer Zeit, da die breiten Massen seiner Mitbürger die höchste Tugend im Gleichschritt - im Gleichdenken und Gleichfühlen mit einer mythologischen Volksgemeinschaft - erkannten oder zu erkennen vorgaben.
Verstehen wir ihn als einen freien, unabhängigen Menschen, so erkennen wir in ihm auch den fast absoluten Gegenspieler jenes Mannes, den er aus der Welt schaffen wollte. Es wird wohl kein allzu großer Unterschied bestanden haben zwischen dem bescheidenen Heim einer Zöllner-Familie 250 km östlich von hier, in Braunau im Oberösterreichischen, und dem nicht weniger bescheidenen Heim eines schwäbischen Holzhändlers; und wenn Georg Elser im Verhör die materiellen Sorgen und das übermäßige Trinken seines Vaters beschreibt, so erinnert uns dies an sehr ähnliche Beschreibungen in Mein Kampf, die vielleicht auch autobiographischen Ursprungs sind. Desto gewaltiger ist der Kontrast in dem Bereich, in dem die menschliche Freiheit waltet. Dort stehen Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit gegen grenzenlosen Machtanspruch und Selbstbehauptung, handwerkliche Gewissenhaftigkeit gegen Pfuscherei und Dilettantentum, ein sich selbst und Andere betrügender, rhetorisch hochgespielter Fanatismus gegen eine in stockenden, ungeübten Worten formulierte Unabhängigkeit des Geistes - ein Posaunist und Radaumacher steht gegen einen stillen Selbstdenker.
Selbstdenken ist nie populär. Vor vierzig Jahren hieß es Isolierung von allem öffentlichen Umgang und Beschränkung auf eine rein private Sphäre der Freundschaft und der Familie. In den ersten Jahren des Dritten Reiches ist Elser dies vielleicht nicht schwergefallen, denn er war von Haus aus wohl kein sehr geselliger Mensch. Doch später, als der Plan zum Attentat in ihm reifte, wird er die erschreckende Einsamkeit seiner Lage empfunden haben. Zum Unterschied von den Verschwörern des 20. Juli 1944 konnte er auf keine Klassensolidarität rechnen, an kein mythisch unterfärbtes Klassenbewusstsein appellieren. Zum Unterschied von seinen Kameraden in der kommunistischen Partei hatte er für das Phänomen Hitler keine taktisch dialektische Erklärung. Und zum Unterschied von den rein religiös motivierten Opfern des Nationalsozialismus verfolgte er einen sehr klar erwogenen politischen Zweck.
Er war ein Mann allein. Und wenn er vielleicht doch einen Mitwisser hatte - hier in der Heimat oder in München, und nur in dieser Hinsicht mag das, was er im Protokoll angab, nicht aufs Wort stimmen - so können wir nur die Beständigkeit bewundern, mit der er, trotz schwerer körperlicher Misshandlung, sich weigerte, im Verhör die Namen irgendwelcher Helfer oder Mitwisser zu nennen.
Ich erwähne die Einsamkeit, in der er lebte - sie ist uns, obwohl wir in einer freien Gesellschaft leben, leider keineswegs unvorstellbar - ich erwähne sie deshalb, weil die wenigen Geschichtsschreiber, die Elsers Namen überhaupt nennen, hier einen falschen Schluss ziehen. Seine Vereinsamung ist die Folge, nicht Grund und Ursache seiner Tat. Die Historiker nennen ihn einen Sonderling und Einzelgänger. Ein Sonderling war er gewiss nicht, ein Einzelgänger nur deshalb, weil er meinte, sicher mit Recht meinte, niemandem trauen zu dürfen. Er war allein, wie ein Jude unter feindseligen Ariern. Sein Einzelgängertum brandmarkt nicht ihn, sondern die "Volksgemeinschaft" von Mitläufern und potentiellen Denunzianten, unter denen er lebte.
Er steht vor uns nicht nur als ein freier, sondern auch als ein vernünftig tätiger Mensch, d. h. als einer, der bereit war, seine innere Überzeugung mit Hilfe der ihm gegebenen Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn er sich je gefragt hat: Warum ich? Warum soll gerade ich das Risiko, die tödliche Gefahr auf mich nehmen?, dann lag seine Antwort nicht in irgendwelchen ideologischen Überlegungen, und schon gamicht in irgendeiner Berechnung persönlicher Vorteile. Die sehr konkrete Antwort auf jene Frage lag in seinen Händen, in seiner handwerklichen Fertigkeit. Wir dürfen es als sinnvoll und vernünftig ansehen, dass seine Tat von der Erfüllung seines Berufes als Tischler abhing - und es ist zugleich tragisch, dass diese Erfüllung die Form des Attentats annehmen musste; dass er mit dem Besten, das in ihm war, seine eigene Befreiung und die seiner Mitbürger durch einen Akt der Zerstörung suchen musste. Die paar Worte, die man ihm zur Erklärung erlaubte, zeigen deutlich, dass er die Tragik dieser Lage wohl verstand. Nicht die Praxis seiner Tat darf uns vorbildlich sein, sondern der Geist, in dem er sie vollbrachte.
Das Organ für theoretisch-politischen Auseinandersetzung hat ihm gewiss gefehlt - er war ein Mann ohne Ideologie - und was ihn zu seiner Tat führte, waren recht einfache Erwägungen, wie sie ein jeder von uns anzustellen vermag. Es war jene anspruchslose Anständigkeit der einfachen Leute, die sich in Sätzen von großer Schlichtheit und Eindringlichkeit äußert: "Ich wollte ja auch durch meine Tat ein noch größeres Blutvergießen verhindern", sagt er zu seinen Peinigern. Doch diese Grundanständigkeit, die etwas von dem veralteten Ideal des gentleman hat, finden wir auch in seinem täglichen Leben, noch lange vor dem Entschluss zur Tat. Wir finden sie in seiner allgemein bekannten Hilfsbereitschaft und Freigebigkeit, aber auch in seiner Weigerung, den Hitlergruß zu geben; in der Beklemmung und in dem fast physischen Übel, die ihn überkamen, wenn er in einem Wirtshaus zuhören musste, wenn eine Hitlerrede übertragen wurde.
Gewiss, er war ein praktischer Mensch, ein Handwerker. Doch wir wollen aus ihm keinen geistlosen Eiferer machen und auch seine Einfalt wollen wir nicht übertreiben - er war und blieb ein intelligenter Schwabe, der sich über die Welt Gedanken machte. Aus seinem mangelnden Interesse an weltanschaulichen Auseinandersetzungen dürfen wir keineswegs schließen, dass es ihm an der Fähigkeit zum theoretischen Denken fehlte. Im Gegenteil: das einzige Mal, da er während seines Verhörs einen persönlichen Stolz zeigte, ist der Augenblick, wo er den Mechanismus seiner selbst konstruierten Höllenmaschine zu erklären beginnt. Nur im Anfangsstadium seiner Arbeit - dies betont er - habe er im väterlichen Garten Experimente mit verschiedenen Zündungen angestellt; alles andere - also die technisch recht komplizierte Anordnung der Zeit- und Zündmechanismen - habe er "zeichnerisch", will sagen theoretisch, gelöst. (Und wieder wünschen wir vergebens, seine ausgesprochen technische Begabung hätte anders verwirklicht werden können, doch wir wissen, dass es für den Mann in dem historischen Augenblick nur eine Richtung gab, die er frei wählen konnte.)
Es fehlte ihm also, wie gesagt, nicht die geistige Fähigkeit, sondern ein jedes Interesse an ideologischen Erwägungen; so heißt es im Protokoll:
"Dem Beschuldigten werden einige Begriffe aus der nationalsozialistischen Weltanschauung auseinandergesetzt. Diese Gedankengänge sind ihm angeblich unbekannt."
- man kann ihm das mangelnde Interesse kaum übelnehmen. Doch heißt dies keineswegs, dass er politisch uninteressiert oder ahnungslos war. (Es ist eine eigenartige Anmaßung mancher Intellektueller, dass es ein politisches Verständnis ohne ideologisches Engagement nicht gäbe.) Die Kommunisten wählte er, wie er sagte, ohne sich um ihre revolutionären Pläne oder weltanschauliche Kasuistik zu kümmern, aus dem gleichen Grund, aus dem er der Gewerkschaft der Holzarbeiter beitrat und ihre Zeitschrift las: einfach deshalb, weil diese Organisationen versprachen, die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft - ihren Lohn und ihr Arbeitsverhältnis - zu bessern. (Es ist selbst heute nicht genügend bekannt, dass die wirtschaftlichen Erfolge der ersten Jahre des Nationalsozialismus durch eine radikale Senkung der Löhne und eine nicht weniger radikale Einschränkung der Rechte der Arbeiterschaft erkauft wurden.) Und wenn Elser sagt, er sei auf Grund seiner Beobachtungen zu dem Ergebnis gekommen, "dass die deutsche Regierung die in Deutschland bestehenden Kirchen, d. h. die Religionen abschaffen will"; "dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch die Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten"; "dass durch die Beseitigung dieser drei Männer" - er meint Hitler, Göring und Goebbels - "andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen [werden], die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für die Besserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden", und wenn er schließlich von seiner Überzeugung spricht, "dass es bei dem Münchener Abkommen nicht bleibt, dass Deutschland anderen Ländern gegenüber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Länder einverleiben wird, und dass ein Krieg unvermeidlich ist, d. h. ich hatte die Vermutung, dass es so kommen wird" - wenn Elser all dies recht umsichtig, ja fast pedantisch genau ins Protokoll sagt, dann zeugen diese Überlegungen nicht nur von einer recht genauen Einsicht in die tatsächliche Lage Deutschlands in den späten dreißiger Jahren, sondern auch von einem überraschenden Verständnis für die unmittelbar bevorstehende Entwicklung in Europa. Wenn Sie meinen, dies alles sei ja selbstverständlich und zu jener Zeit kaum überraschend gewesen, so muss wohl hinzugefügt werden, dass weder die deutschen Generäle noch auch der britische Premierminister ein solches Verständnis besaßen.
Der Ton dieser politischen Überlegungen ist recht charakteristisch: es ist darin weder der apolitische, idealistische, zutiefst ergreifende, im zeitgenössischen Kontext jedoch völlig unrealistische Heroismus der Münchener Aktion der Geschwister Scholl zu sehen, noch auch jenes fatale Kalkulieren von taktischen Möglichkeiten und territorialen Forderungen, wie wir sie etwa aus dem Memorandum des Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler kennen. Elsers Bestreben ging nicht danach, seine Klasse und ihr Komment vor der Geschichte zu rechtfertigen, den Begriff eines "heiligen Deutschland" noch ein letztes Mal aufleuchten zu lassen; ja selbst vom Begriff der parlamentären Demokratie hatte er wohl keine sehr ausgeprägte Vorstellung. Sein Wissen und seine Beweggründe waren von konkreterer, unmittelbarer Art: sie gingen aus von seiner Erfahrung der Infamie des Regimes, und von seiner Erfahrung der inneren wie außenpolitischen Dynamik des nationalsozialistischen Staates.
Noch einmal müssen wir Heutigen uns den Geist des Zeitalters vergegenwärtigen, in dem Elser die Intelligenz und den Mut zu solchen Einsichten fand. Terror brutalisiert und korrumpiert, doch er verdummt auch die meisten Menschen - einige jedoch macht er tapfer und schlau und stärkt ihr Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse; stärkt das, was Immanuel Kant die praktische Vernunft nannte. Georg Elser war ein solcher Mann.
Wenn nun bei den Philosophen diese Vernunft scharf vom religiösen Glauben getrennt erscheint, so entspricht eine solche Trennung und Gegenüberstellung nicht der Erfahrung Georg Elsers. Es selbst sagt:
"Ich glaube an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode und ich glaubte auch, dass ich einmal in den Himmel kommen würde, wenn ich noch Gelegenheit gehabt hätte, durch mein ferneres Leben zu beweisen, dass ich Gutes wollte,"
Diese Worte sind Ausdruck seines Glaubens an die Gültigkeit der guten Werke in ihrer Beziehung zum Seelenheil des Menschen, sie sind der Ausdruck seines Glaubens an das Transzendieren menschlicher Bestrebungen.
Hier aber scheint es besonders wichtig, kein pietätvolles Missverständnis aufkommen zu lassen. Ich glaube nicht, dass Elser sich als einen religiös motivierten Menschen verstand; auch im Religiösen fehlte ihm ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Auch im Religiösen war er sozusagen ein Mann ohne Ideologie. Wie Hiob in der Kant'schen Auslegung des biblischen Buches, so verschmäht es auch Elser, Trost in irgendeiner Theodizee zu suchen: d. h. es kommt ihm nicht in den Sinn, eine Erklärung der Übel in der Welt als Wirkungen der göttlichen Gerechtigkeit, "als so vieler Strafen für begangene Sünden" (wie es bei Kant heißt) zu suchen. Er gibt nicht vor, dort eine vernünftige Erklärung oder, wie Hitler selbst, die göttliche Vorsehung zu sehen, wo er nur den Zufall walten sieht.
Ich möchte Sie an die ironische Geschichte Hiobs erinnern. Da seine angeblichen Freunde ihm mit Fragen über sein sündiges Leben und Gottes Gerechtigkeit zusetzen, kann Hiob nichts anderes tun, als seine Unschuld und seinen Gottesgehorsam zu beteuern. Darüber hinaus weiß er nur, dass er nichts weiß: "Er ist einig, wer will ihm antworten? Und er machts, wie er will" (xxiii/13). Ähnlich lautet auch Elsers Bekenntnis. Auch ihn haben die Verhörer eingehend ausgefragt, wie er denn zu Gott stehe (und auch hier ist kaum anzunehmen, dass es ihnen dabei um sein Seelenheil gehe... was sie suchen, sind Verbündete und Mitwisser).
Und Elser antwortete ihnen sehr klar und unbefangen:
"Ich glaube, dass die ganze Welt und auch das menschliche Leben von Gott geschaffen wurde. Ich glaube auch. dass sich nichts in der Welt abspielt, von dem Gott nichts weiß. Die Menschen werden wohl einen freien Lauf haben, aber Gott kann sich dreinmischen, wann er will.
Er hat mir auch meinen freien Lauf gelassen. Ob er sich bei meiner Tat auch mit dreingemischt hat und den Führer früher weggehen ließ, weiß ich nicht."
"Ob er sich bei meiner Tat mit dreingemischt hat ... weiß ich nicht": die Vernunft, die aus diesen Worten spricht, ist keine Widersacherin des Glaubens. Und die religiöse Motivierung, die mir als die sinnvollste Deutung seines Entschlusses zur Tat erscheint, ist nicht als Alternative zum moralischen Motiv zu bewerten, sondern als eine Ergänzung des Moralischen. Sie bezeichnet jenen Augenblick, in dem seine Grundanständigkeit und Vernünftigkeit, in große Not geraten, ihre Stärkung im Glauben finden. Vielleicht ist es dies, was Paulus in jenen Worten des Römerbriefes (xii/1) meint, die den eigentlichen Text zu unserer Feier von Georg Elsers Andenken bilden mögen: Nicht das blutige Todesopfer auf dem Altar - das Opfer an sich - verlangt Paulus, sondern den vernünftigen Entschluss, das Leben in den Dienst Gottes zu stellen:
Ich ermahne Euch, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr euere Leibe begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott gefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst [logikein latreian umon].
Notgedrungen kommen wir zu einem argen Schluss: wir sollen die politische Tötung als vernünftig bewerten und billigen, als Teil eines Lebens, das jedenfalls an seinem Ende Hilfe und Trost im religiösen Bereich suchte und fand. Da aus allem, was wir über Elser wissen, weder an einen persönlich interessierten noch an einen pathologischen Beweggrund für seine Tat zu denken ist, muss auch er diesem argen Paradox gegenübergestanden haben. Ich sehe hier keine andere Lösung, als uns der vollen Tragik seiner Entscheidung zu stellen:
Der Zweck war die Verhütung, respektive Beendigung des Krieges. Dies war ein vernünftiger, durch die Tötung Hitlers nach menschlicher Voraussicht erreichbarer Zweck. Was diesen Zweck vernünftig macht, ist nicht zuletzt die Tatsache, dass Elser bei seiner Bewertung die Führerrolle und Autorität Hitlers mit einkalkuliert hat - dass also Georg Elser im Hinblick auf die politische Wahrscheinlichkeit, durch die Tötung den Krieg zu beenden, vernünftig gehandelt hat. Die Tatsache, dass dieser sowohl vernünftige wie moralische Zweck nicht erreicht wurde, ändert am Wert oder Unwert der Tat nichts. Und wenn auch der beabsichtigte Zweck das angewandte Mittel - also das Attentat - nicht heiligt, so erklärt und entschuldigt er doch dieses Mittel. Dieses Paradox trägt die Signatur seiner Zeit. Georg Elser nahm es freiwillig und bewusst auf sich - dies der Grund, warum wir heute sein Andenken ehren und künftig in Ehren halten sollen. Die praktische Ausführung seiner Tat ist zeitbedingt. Der Geist seiner Tat bleibt vorbildlich.
Quelle: Joseph Peter Stern, Johann Georg Elser zu Ehren, Heidenheim 1979
Joseph Peter Stern, 1920 in Prag geboren, emigrierte nach Hitlers Besetzung der Tschechoslowakei nach England.
In der Royal Airforce kämpfte er gegen Deutschland. Er war Professor für deutsche Literatur am University College in London.
Zahlreiche Veröffentlichungen über die deutsche Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts.