Hitlers Hass gegen Strasser - Befehl zu seiner Liquidierung - Die zwei Teufelsfläschchen - Vergebliche Fahndung in Portugal
Seit dem Attentat im Bürgerbräukeller war zu erwarten, dass Hitler eines Tages zu einem Schlag gegen Otto Strasser
ausholen würde. Im April 1941 schien es soweit zu sein. Eines Morgens rief mich plötzlich Himmler auf der
Konferenzleitung an und befahl mir mit knappen Worten, mich für den Nachmittag zum Vortrag bei Hitler bereitzuhalten.
"Unterlagen?" - "Nein." - Ich wagte nichts mehr zu fragen und rief Heydrich an. Dieser wusste, worum es
ging, wollte aber am Telefon nicht darüber reden.
Als ich mich kurz darauf bei ihm einfand, saß er wie gewöhnlich hinter einem Stoß Akten. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, Aufträge zu erteilen und zugleich weiterzuarbeiten, schlug er den Aktendeckel zu und begann sogleich zu reden: "Seit einigen Wochen sind wir aus zuverlässiger Quelle darüber informiert, dass sich Otto Strasser in Portugal aufhält. Hitler hasst diesen Mann, wie Sie wissen, zutiefst und sieht in ihm nicht nur einen Abtrünnigen von der nationalsozialistischen Idee, sondern auch wie früher in seinem Bruder Gregor einen Verräter an seiner Person. Er ist davon überzeugt, der noch lebende Otto Strasser arbeite seit dem Anschlag im Bürgerbräu weiterhin mit allen Mitteln daran, ihn durch ein Attentat aus dem Wege zu räumen." Heydrich griff nach seinem Mantel, und während wir zusammen zur Neuen Reichskanzlei hinübergingen, erging er sich in auffallend hitziger Weise gegen die Schwarze Front, die, wie er behauptete, in Anlehnung an Moskauer Emigrantenkreise einem Nationalbolschewismus huldige. "Ich bin mir noch nicht im klaren, ob Strasser nicht ein doppeltes Spiel treibt und auch für Stalin arbeitet. Ich habe bereits einen früheren Angehörigen der Schwarzen Front sowie den Ihnen auch bekannten Standartenführer B. auf Strasser angesetzt. B. ist der Auffassung, dass sich Strasser zur Zeit in Portugal befindet." Ich fragte mich indessen, was ich mit der Sache zu tun haben könnte.
"Hitler ist mit unseren bisherigen Ermittlungen aber nicht zufrieden und drängt auf eine schnelle Liquidierung Strassers", erläuterte Heydrich weiter. "Himmler und ich sind uns nun einig geworden, Sie nach Portugal zu entsenden. Der Führer will aber zuvor noch mit Ihnen sprechen."
Ich erschrak. Auch vermochte ich mir nicht zu erklären, warum man gerade mich, der ich über die Einzelheiten nicht das geringste wusste, für diese Aufgabe ausersehen hatte. Der schon erwähnte Standartenführer B., ein besonderer Vertrauter Heydrichs, wäre weit besser dafür geeignet gewesen. Er hatte schon ähnliche Befehle zu aller Zufriedenheit durchgeführt, und ich wusste, dass er ein guter Kenner nicht nur der Schwarzen Front, sondern auch der Moskauer Emigrantenclique war.
Wir gingen den langen Gang in der Neuen Reichskanzlei entlang - eine tiefe Stille lag zwischen den Säulen, und nur ab und an hörte man ein dumpfes Sprechen oder das Zusammenklappen der Absätze salutierender Posten. Himmler saß bereits mit seinem Führer in einer Ecke des riesigen Arbeitszimmers, als uns Heydrich unter militärischer Ehrenbezeigung zum Rapport meldete. Beide blieben noch einen Augenblick über eine vor ihnen liegende Landkarte gebeugt, dann kam Hitler auf uns zu und begrüßte uns durch Handschlag. "Haben Sie in der Sache Strasser noch etwas Neues erfahren?" Heydrich verneinte. Hitler blickte nachdenklich vor sich hin. Plötzlich hob er den Kopf und sah mich durchdringend an. "In Ihrem Dienst unterstehen Sie wie jeder Soldat an der Front den Befehlen Ihrer Vorgesetzten", sagte er völlig unvermittelt. "Der Ihnen jetzt von mir erteilte Befehl unterliegt der strengsten Geheimhaltung und erfordert notfalls den Einsatz Ihres Lebens."
Meine Gedanken wirbelten völlig durcheinander - blitzhaft tauchte auch das mir seinerzeit befohlene Kidnapping des Herzogs von Windsor vor mir auf. Ich ahnte, dass man mich hier für ähnliche Pläne gebrauchen wollte. Indessen erging sich Hitler in einer Schimpfkanonade gegen den "Verräter" Strasser, der Kerl sei eine latente Drohung und müsse, gleich mit welchen Mitteln, ausgelöscht werden.
"Ich erteile Ihnen hiermit den Auftrag, diese Aufgabe durchzuführen." Noch völlig verwirrt antwortete ich: "Jawohl, mein Führer." Das waren die einzigen Worte, die ich überhaupt zu äußern Gelegenheit hatte. Ohne die Augen von mir abzuwenden, fuhr er in demselben befehlenden Ton fort: "Sobald Sie seinen Aufenthaltsort festgestellt haben, ist Strasser zu beseitigen." Er wandte sich daraufhin an Heydrich: "Ich erteile Ihnen alle Vollmachten zur Durchführung dieses Befehls." Dann streckte er uns beiden die Hand hin und verabschiedete uns.
Draußen warteten wir noch auf Himmler, der uns dann bat, in sein Arbeitszimmer zu kommen. In dem nun folgenden Gespräch zwischen Himmler und Heydrich wurde mir deutlich, dass beide bereits einen fertigen Plan hatten, wie die "Mission" Strasser praktisch durchzuführen sei. Ich war wieder erstaunt, wie sehr sich Heydrich dabei ereiferte - wusste Strasser etwa über ihn persönliche Dinge, die ihm, solange dieser lebte, gefährlich werden konnten?
Nun meldete der Adjutant, dass Dr. St. bereits seit einer halben Stunde warte. Heydrich erklärte mir, Dr. St. sei Dozent einer Universität und eine der größten Kapazitäten auf dem Gebiet der Bakteriologie. Zur Zeit arbeite er an vorbereitenden Abwehrmaßnahmen für den Fall eines Bakterienkrieges. "Dr. St. wird Ihnen ein Mittel überreichen und eine Anleitung dazu geben. Was wir damit vorhaben, darüber darf in seiner Gegenwart nicht gesprochen werden."
Dr. St. war ein Mann von etwa Mitte dreißig. Er trat selbstsicher auf und begann sogleich mit seinem Vortrag - kühl und nüchtern wie in einer Vorlesung. Er habe auf Befehl ein besonders schnell wirkendes Bakterienserum hergestellt, von dem ein Tropfen genüge, um einen Menschen mit einem Sicherheitskoeffizienten von tausend zu eins vom Leben zum Tode zu befördern. Ein Spurennachweis sei ausgeschlossen. Das Mittel wirke, je nach der Konstitution des Betreffenden, innerhalb von zwölf Stunden durch Auftreten typhusähnlicher Erscheinungen. Auch bei Eintrocknung verliere das Mittel seine Wirkung nicht. Ein Tropfen, in ein Mundspülglas gebracht, genüge, um bei späterem Gebrauch des Glases die vertrocknete Masse wieder aktiv werden zu lassen.
Mir standen buchstäblich die Haare zu Berge, zumal wenn ich in die leuchtenden Augen des dozierenden Wissenschaftlers blickte, der - obgleich er recht kühl und sachlich sprach - sich förmlich an seinen Erläuterungen berauschte. Heimlich beobachtete ich Himmler - er schien ebenso wie ich den Ausführungen nicht ohne Schaudern zu folgen. Offenbar bekam er Angst vor der eigenen Courage. Heydrich hingegen zeigte sich unberührt. Zu meinem Entsetzen zog der Vortragende auch noch zwei Fläschchen aus der Tasche und stellte sie vor uns auf den Tisch. Erschrocken betrachtete ich die farblose Flüssigkeit und blickte ängstlich auf den Verschluss: es war ein gläserner Stöpsel, der als Tropfer benutzt werden konnte. Schließlich unterbrach Heydrich den Redefluss des noch Weiterdozierenden mit den Worten: "Danke, warten Sie draußen."
Als er den Raum verlassen hatte, wandte sich Heydrich an Himmler: "Ich glaube, Reichsführer, weitere Erörterungen sind überflüssig. Schellenberg muss sehen, wie er in der Praxis mit der Sache fertig wird." Wir erhoben uns. Ich nahm behutsam die beiden Fläschchen, hielt sie krampfhaft senkrecht in meiner Tasche und verschwand. In mein Büro zurückgekehrt, verschloss ich sie sogleich in meinem Panzerschrank. Ich schaltete Meldelicht sowie Telefon ab und ließ mich erschöpft in meinen Lehnstuhl fallen. Was sollte ich tun? Meine Gedanken kreisten wie ein Karussell. Zwischendurch begab ich mich mindestens noch zwei- oder dreimal zum Panzerschrank und überzeugte mich, ob die Teufelsflaschen noch dort waren. Plötzlich kam mir die Frage, warum hat dir dieser Schreckensmensch zwei von diesen Flaschen gegeben, wo doch ein Tropfen genügt...? Will man dich etwa als Versuchskaninchen für die Erprobung eines Mittels zum künftigen Bakterienkrieg benützen?
Ich setzte mich nun mit dem schon genannten Standartenführer B. in Verbindung, der auch sogleich erschien und mir mit seiner näselnden Stimme einen systematisch aufgebauten Vortrag über die Schwarze Front hielt. Er war ein wirklich mit allen Wassern gewaschener Spezialagent Heydrichs, der über eine umfangreiche Personalkenntnis, vor allem in russischen Agentenkreisen, verfügte. Ich hätte ihm gern über meinen unheimlichen Auftrag Mitteilung gemacht, und es lag mir dies auch schon auf der Zunge. Dann merkte ich aber, dass er von Heydrich nur den Befehl erhalten hatte, mich über den Sachstand aufzuklären, und nicht einmal wusste, dass ich nach Portugal reisen sollte. Schließlich traf ich stumpfsinnig meine Vorbereitungen. Diesmal gab es keinen Diplomatenpass. Ich erhielt einen ganz billigen Agentennamen. Und was geschieht, so fragte ich mich, wenn man beim Zoll die beiden Fläschchen bei dir findet? Sie einfach irgendwo hinzustellen oder in einen Fluss zu werfen, war nicht möglich - das wäre ein Verbrechen gewesen. Der Inhalt reichte aus, um die gesamte Wasserversorgung einer Millionenstadt tödlich zu infizieren.
Allmählich wurde mein Kopf klarer, und ich baute mir folgenden Plan auf: Zuerst mussten die Fläschchen mit einer sicheren Stahlhülle gegen Druck und Stoß versehen werden. Ein solcher Panzer bot mir gegebenenfalls auch die Möglichkeit, sie einfach während des Fluges ins Meer zu werfen. Der Auftrag konnte hernach auf andere Weise erledigt werden. Mochte ein gekaufter Agent dann die Beseitigung Strassers übernehmen. Der Gedanke, die Flaschen ins Meer zu versenken, schaffte mir einige Beruhigung. Dr. St. hatte erläutert, dass der Inhalt höchstens zwei Jahre "lebensfähig" sei. Die Stahlmäntel besaßen eine Lebensdauer von zwanzig bis dreißig Jahren. Demnach konnte ich sie ruhigen Gewissens dem Meer übergeben.
Ich setzte mich sofort mit dem Chef der technischen Abteilung des Geheimdienstes in Verbindung. Er betrachtete sinnend die beiden Fläschchen, die ich behutsam auf meinem Schreibtisch vor ihm aufgebaut hatte. Nach einer Weile meinte er, die Sache mit den Stahlhüllen ließe sich schon machen, nur brauche er sechsunddreißig Stunden Zeit dazu. Der Vortrag, dem ich nun folgte, war mir weit sympathischer als jener vor wenigen Stunden. - "Ich werde Ihnen zwei Stahletuis liefern, die innen mit einer Rohgummipolsterung versehen sind. Die elastische Gummimasse schützt vor jedem Stoß und umgibt Stöpsel und Flaschenhals so innig, dass ein Aufgehen des Verschlusses unmöglich wird. Sollte die Gefahr eines Auslaufens doch eintreten, so wird die Flüssigkeit durch die poröse Masse aufgesaugt. Im übrigen wird das Stahletui so verschraubt, dass ein Sperrriegel ein zufälliges Aufgehen unmöglich macht."
"Und wie lange widersteht ein solches Etui dem Einfluss des Meerwassers?"
"Wenn wir Edelstahl verwenden, fast unbegrenzt."
Ich war zufrieden.
Nach achtundvierzig Stunden schob ich die beiden Flaschen in den hellglitzernden Etuis in meine Hosentasche und machte mich auf den Weg nach Portugal. Vorsorglich hatte ich einen unserer Agenten zum Flughafen bestellt, um im Falle einer Leibesvisitation in Lissabon die Fläschchen an ihn "abtreten" zu können. Aber der portugiesische Zoll ließ mich unbehelligt. Die Etuis deponierte ich sogleich im Safe einer unserer Nebenstellen. Ein paar Tage später hatte ich bereits eine Großfahndung nach Otto Strasser eingeleitet, dessen Steckbrief ich innerhalb eines Kreises von etwa tausend Personen zirkulieren ließ. Die mir von Heydrich angegebenen Adressen wurden besonders überwacht. So hätte ich Strasser, wenn er sich überhaupt in Lissabon aufhielt, ins Netz bekommen müssen. Nach zwölf Tagen hatten wir aber noch nicht die geringste Spur von ihm. Die Finanzierung einer so umfangreichen Fahndung kostete täglich eine ansehnliche Summe Geldes. Jeden zweiten Abend hielt ich in der Wohnung eines portugiesischen Freundes Zahltag. Hätte die Angelegenheit nicht einen so unsympathischen Hintergrund gehabt, wäre das Ganze für mich eine interessante Abwechslung gewesen. Ich konnte an einem solchen Zahltag nämlich recht gute Erfahrungen sammeln, auf welch geschickte Art man geschröpft werden kann.
So hatte beispielsweise ein Polizeibeamter seine Freundin zur Fahndung mit herangezogen, worauf ich auch Wert legte, denn je breiter die Ermittlungsbasis, desto besser. Dass er aber für sie zusätzlich zwei Paar Schuhe, die für unsere Zwecke durchgelaufen sein sollten, als Entgelt verlangte, erschien mir ebenso kurios wie geschäftstüchtig.
Nach zwei Wochen begann ich Berlin vorsichtig darauf aufmerksam zu machen, dass sich Strasser unmöglich in Portugal aufhalten könne. Dabei schlug ich vor, die von mir aufgebaute Organisation ohne mich weiterlaufen zu lassen. Mit Spannung sah ich einer Antwort entgegen. Nach zwei Tagen kam per Funk: "Mit Vorschlag einverstanden, Heydrich."
Ich machte einen Luftsprung. Dem Leiter unserer Dienststelle in Lissabon gab ich Anweisung, noch drei Wochen zu warten und - sofern Strasser nicht aufgetaucht sei - einen Motorbootausflug in die See zu unternehmen, die beiden Stahletuis mitzunehmen und sie möglichst weit von der Küste entfernt ins Meer zu werfen. Er musste mir dies mit seinem Ehrenwort versprechen.
Quelle: Walter Schellenberg, Aufzeichungen. Die Memoiren des letzten Geheimdienstchefs unter Hitler, München 1979, S. 154 ff (Erstveröffentlichung London 1956)
Walter Schellenberg (* 16. Januar 1910 in Saarbrücken; 31. März 1952 in Turin, Italien)
war zuletzt Chef des SD (Sicherheitsdienst Ausland) und der Militärischen Abwehr im Dritten Reich
im Rang eines SS-Brigadeführers und Generalmajors.
Nach Jurastudium und Referendartätigkeit trat Schellenberg 1933 der SS bei. Im SD-Hauptamt unter
Reinhard Heydrich begann er in der Organisationsabteilung. 1939 übernahm er im
Reichsicherheitshauptamt
(RSHA) die Gruppe "IV E Abwehr Inland" innerhalb vom "Amt IV Gestapo". 1941 wurde er
Leiter von "Amt VI SD Ausland". 1944 wurde das Amt Ausland/Abwehr (Canaris) aufgelöst und
weitgehend in ein neues "Amt Mil" ins RSHA überführt, das dem von
Schellenberg geleiteten "Amt VI" zugeordnet war.
Der Text stammt aus seinen 1956 in London posthum erschienenen Memoiren.
Im April 1941 war
Otto Strasser
nicht mehr in Portugal. Strasser flüchtete im November 1939 von der Schweiz nach Frankreich. Nach dem
deutschen Sieg über Frankreich gelang ihm im August 1940 die Weitereise nach Portugal, von wo er im Oktober
1940 nach Nordamerika entkam.