In der Tat: von der Spitze der Armee selbst durfte das Attentat nicht ausgehen - das hätte ihre
moralischpolitische Autorität sofort zerstört. Wie aber, wenn es, ohne Wissen der Heeresleitung, von anderer
Seite herkam?
Eben dies wird der Gedanke gewesen sein, der Oster in dieser kritischen Woche bewog, nach einem Attentäter zu
suchen, um die große Aktion in Gang zu bringen. Er fand ihn ohne lange Mühe. Schon am 1. November hatte
ihn Erich Kordt aufgesucht und ihm angeboten, bei einem seiner nächsten Besuche in der Reichskanzlei Hitler durch
Bombenwurf zu töten. Im Vorzimmer des Führers, zu dem er als Abgesandter des Auswärtigen Amtes ungehindert
Zutritt hatte, hoffte er bald Gelegenheit dazu zu finden. Es war ein mutiger, in schweren inneren Kämpfen errungener
Entschluss, der zugleich natürlich die Preisgabe des eigenen Lebens bedeutete. Aber auch dieser Entschluss blieb,
wie so viele spätere, vergeblich dank jener rätselhaften Fügung des Schicksals, die den Tyrannen bis
zuletzt immer wieder vor einem raschen Ende bewahrt hat. Nicht vor dem 11. November konnte Oster den nötigen
Sprengstoff auf Schleichwegen besorgen. Am 7. aber reiste Hitler schon nach München ab und befahl Verschiebung
der Offensive, zunächst um drei Tage - ob doch aus einer letzten Scheu vor dem Abenteuer, das ihm alle widerrieten,
oder unter dem Eindruck der Friedensbotschaft, die der belgische König und Königin Wilhelmine von Holland an
diesem Tag an die Welt richteten, ist nicht bekannt. Denkbar wäre immerhin, dass er sich scheute, diese Botschaft
unmittelbar durch Einmarsch in beide neutrale Länder zu beantworten.
Zwei Tage darauf geschah das bekannte Attentat im Bürgerbräukeller, dessen Inszenierung durch Himmlers Organe
als Propagandatrick heute kaum noch zweifelhaft ist 32 und das denn auch die erwünschte Wirkung tat:
eine Woge neuer Sympathiekundgebungen für den Führer ging durch das Land, verbunden mit
Ausbrüchen des Hasses gegen die angeblichen britischen Hintermänner.
Von jetzt an musste auf jeden künftigen Attentäter der Schatten des Verdachtes fallen,
er stünde im Dienst des britischen Secret Service.
Vor allem wurde jetzt die Sprengstoffausgabe so streng überwacht, dass auch Oster
und Canaris zunächst keine Möglichkeit mehr besaßen, die Sperre zu durchbrechen.
Und für ein Pistolenattentat war die Erfolgschance im Gewimmel der Adjutanten und Wachen im Vorzimmer viel zu gering.
Trotzdem blieb der Verschwörerkreis um Beck und Oster auch weiter eifrig um einen Staatsstreich bemüht. Alle möglichen Anschläge wurden hier ausgeheckt. Wie immer, brachte auch diesmal Gisevius seinen alten Plan wieder vor, die Gestapo auszuheben unter dem Vorwand eines angeblich geplanten Putsches der SS. Vielleicht ließ sich das Münchner Attentat dazu verwenden? Da Halder über den Mangel an einem entschlossenen Draufgänger klagte, den man zur Durchführung des Putsches einsetzen könnte, fuhr Oster, in Begleitung von Gisevius, nach Kreuznach, wo General von Witzleben als Truppenkommandant sein Stabsquartier hatte, und suchte ihn zu einer Reise nach Berlin zu bewegen. Aber was sollte er als einzelner, ohne seine Truppe, in Berlin praktisch ausrichten? Übrigens war er auch überzeugt, dass sein Offizierkorps, besonders in den unteren Rängen, keinen Putsch mitmachen würde. Schließlich wurde die ganze Aktion noch durch eine grobe Unvorsichtigkeit Osters gefährdet. Sie veranlasste Canaris, ihm jede weitere Aktivität zu verbieten, und Halder war über sein Herumreisen an der Front in Begleitung eines längst verdächtigen Zivilisten so ärgerlich, dass er zunächst keine Botschaft von Gisevius mehr annehmen wollte und Oster ernstlich vor weiteren Unvorsichtigkeiten warnen ließ.
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Wheeler-Bennett 482 ff. bringt sehr interessante Mitteilungen des in Venlo am 9. n. durch Kidnapping gefangenen
britischen Captains S. Payne Best, der mit dem Attentäter Elser im KZ Sachsenhausen zusammen war, aus Bests Schrift:
Venlo incident (London 1950, mir nicht zugänglich).
Quelle: Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954
Gerhard Ritter (* 6. April 1888 in Bad Sooden an der Werra; 1. Juli 1967 in Freiburg im Breisgau) war
ein namhafter Historiker.
Der Sohn eines lutheranischen Pfarrers studierte an den Universitäten von München, Heidelberg und Leipzig.
Ab 1912 war Ritter als Schullehrer tätig. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er als Infanterist.
Er war Professor an den Universitäten Heidelberg (1918-1923), Hamburg (1923-1925) und Freiburg (1925-1956).
Ritter veröffentlichte Biographien u.a. von Martin Luther, Karl Stein und
Friedrich dem Großen. In den Fünfziger Jahren schrieb er eine Biographie seines
Freundes Carl Goerderler, der nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet worden war. Die Schwerpunkte von
Ritters Arbeit schlossen die politische, militärische, und kulturelle Geschichte Deutschlands ein.
Ritter gehörte zu den Nationalkonservativen. Er befürwortete für Deutschland eine aristokratische Staatsform.
Am Anfang der NS-Zeit billigte Ritter das neue Regime und seine Außenpolitik. Jedoch brach er mit den Nazis
und schloss sich der Bekennenden Kirche an. Er gehörte der konservativen Opposition an und war
in den gescheiterten Staatsstreich vom 20. Juli 1944 gegen Hitler eingeweiht. Ritter wurde vorübergehend festgenommen.
Ritter vertrat 1954 den Standpunkt, dass "die Inszenierung des Attentats durch Himmlers Organe als
Propagandatrick heute kaum noch zweifelhaft ist" und bezog sich in seiner Fußnote auf
Sigismund Payne Best: The Venlo Incident.
Der von ihm genannte Hans Bernd Gisevius
wusste hingegen schon damals, dass Elser ein Einzeltäter war.