Die Schweiz spielt eine besondere Rolle im Leben und Nachleben von Johann Georg Elser. In dieses Nachbarland, mit dem ihn Beziehungen aus
früheren Jahren am Bodensee verbanden, wollte er fliehen, nachdem er den Plan für ein Attentat auf Adolf Hitler zielstrebig in die Tat umgesetzt hatte.
Doch noch ehe am Abend des 8. Novembers 1939 die Bombe explodierte, die Elser in eine Säule des Münchener "Bürgerbräukellers" eingebaut hatte,
wurde der Attentäter unmittelbar vor der Schweizer Grenze in Konstanz von zwei Zollbeamten festgenommen, denen er verdächtig vorkam.
VON ULRICH RENZ (2000)
Ulrich Renz
Erst danach verwandelte die Höllenmaschine den Saal des "Bürgerbräukellers" in eine Trümmerlandschaft. Acht Menschen starben. Doch Hitler entkam.
Er hatte die Traditionsveranstaltung seiner "alten Kämpfer" völlig überraschend 13 Minuten zuvor verlassen. Inzwischen weiß man, dass ihn nicht die "Vorsehung",
auf die sich seine Anhänger gerne beriefen, rechtzeitig aus dem Saal führte. Vielmehr war er an diesem Abend aus gutem Grund in Eile: Er wollte mit dem Sonderzug rasch nach Berlin zurückzukehren,
um weitere Vorbereitungen für den Angriff auf Frankreich zu treffen.
Umgehend verdächtigten Hitler und seine Umgebung den britischen Geheimdienst, Drahtzieher des Attentats gewesen zu sein. Zudem beschuldigten sie einen gewissen
Otto Strasser, als Verbindungsmann zwischen den Feinden in London und Elser fingiert zu haben. Den Königsbronner betrachteten
sie nur als willfähriges Werkzeug. Verdächtig war in ihren Augen nicht zuletzt, dass Strasser öfter in der Schweiz weilte. Dorthin wollte Elser flüchten, das Land konnte also auch mit ihm in Verbindung gebracht werden.
Strasser, der einst als einer der Repräsentanten des "sozialistischen" Flügels der NSDAP galt, hatte 1930 mit Hitler gebrochen und bekämpfte die Nazis später vom Ausland her.
Immer wieder tauchte er dabei in der Schweiz auf, denn seine Frau lebte mit den beiden Kindern, amtlich geduldet, im Kanton Zürich. Er selbst erhielt von der Fremdenpolizei keine ständige Aufenthaltserlaubnis.
Seit Jahren schon wurde Strasser von der Schweizer Polizei überwacht. Als die deutschen Ermittlungsbehörden dann eine verschwörerische Beziehung zwischen ihm und dem Attentäter von München konstruierten,
geriet auch Elsers Name in die einschlägigen Akten. Jetzt werden all diese Unterlagen - unter dem Namen Strasser - im Schweizerischen Bundesarchiv verwahrt. Sie widersprechen nicht zuletzt den Spekulationen über
mögliche Hintermänner Elsers, ganz im Sinne der Erkenntnisse aller ernsthaften Historiker. Auch sonst sind sie von Bedeutung für Nachforschungen über Elser, der ja keinerlei Aufzeichnungen
hinterlassen hat und über den relativ wenige Zeugnisse überliefert sind. So entwirft die Schweizer Polizei in ein paar Sätzen ein Charakterbild Elsers aus der Zeit, als er am Bodensee lebte -
Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre.
Schließlich vermitteln die Dokumente einen Eindruck von dem barschen Eifer, mit dem das Regime in Berlin damals Amtshilfe von der Schweizer Polizei forderte. Dahinter lauert eine Ahnung von der bitteren Enttäuschung, die Elser in der Schweiz sehr wahrscheinlich erwartet hätte, wäre ihm denn die Flucht gelungen.
Das Dossier Strasser im Bundesarchiv in Bern umfasst vier dicke Aktenbände. In erster Linie werden darin die intensiven und manchmal fast verzweifelten Bemühungen Schweizer Dienststellen geschildert, die verhindern wollten, dass Strasser von ihrem neutralen Land aus Widerstand gegen Adolf Hitler leistete.
Der ersten Jahre der Emigration verbrachte der Gründer einer Organisation namens "Schwarze Front" vor allem in Wien und in Prag. Vom 13. März 1939 an hielt er sich wieder einmal in der Schweiz auf. Im Laufe dieses Jahres wurde er den eidgenössischen Behörden endgültig so lästig, dass sie schließlich seine Abschiebung anordneten. Unterlagen im Archivdossier lassen erahnen, wie sich die Entwicklung zuspitzte. So wurden zwei Pressemeldungen vom September 1939 abgeheftet, wonach sich zeitgleich Sprengstoffanschläge - offiziell ist jeweils von "Explosionen" die Rede - im Luftfahrtministerium in Berlin sowie in einem Gaswerk und "im Polizeihauptquartier" ereignet hätten. Danach seien rund 30 Personen verhaftet worden, die Beziehungen zu Otto Strasser gehabt hätten. In einer der Meldungen wird Strasser selbst mit den Worten zitiert, die Inhaftierten seien tatsächlich Mitglieder seiner "Schwarzen Front" gewesen, er selbst habe "jedoch nicht mit ihnen in Verbindung gestanden".
Ganz konkret nahmen die Behörden Anstoß daran, dass Strasser die eindringlichen und wiederholten Ermahnungen in den Wind schlug, "hier in der Schweiz nicht politisch tätig zu sein", wie es in einem Vermerk der Zürcher Kantonspolizei vom Dezember 1938 formuliert worden war. Als der unbequeme Gast nun von der Schweiz aus in einer schwedischen Zeitung Angriffe auf Adolf Hitler richtete und sich auch über das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz äußerte, lief das Fass über. Heinrich Rothmund, Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, gab zu den Akten: "Wir verfügten deshalb, Strasser müsse die Schweiz so rasch wie möglich verlassen. Diese Verfügung war ihm noch nicht eröffnet worden, als das Münchener Attentat bekannt wurde. Das gab uns Veranlassung, am 9. November seine sofortige Ausweisung zu verlangen. Diese ist dann am 13. November erfolgt." Strasser wurde mit dem Auto an die französische Grenze gebracht und setzte sich schließlich über Portugal nach Kanada ab.
Damit wird klar, dass das Attentat im "Bürgerbräukeller" in München nicht der eigentliche Anlass für die ohnehin geplante Abschiebung Strassers war. Dass die Nazis prompt den Verdacht in die Welt setzten, hinter dem Anschlag steckten der britische Geheimdienst und Otto Strasser, beschleunigte aber die Ausweisung.
Dass die Vorwürfe der Nazis gegen Strasser aus der Luft gegriffen waren, zieht sich wie ein roter Faden durch das Dossier im Schweizer Bundesarchiv, soweit es das Attentat von München betrifft. Selbst nach dem Krieg, im Jahre 1946, bekräftigte die Schweizerische Bundesanwaltschaft noch einmal: "Deutscherseits wurde er (Strasser) zusammen mit dem englischen Nachrichtendienste als sachlicher Organisator des Attentatsversuchs in München beschuldigt. Ein objektiver Nachweis hiefür wurde aber u. E. nie erbracht."
Zunächst einmal ging die Schweizer Polizei freilich den deutschen Vorwürfen nach, zumal sie dann noch vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin offiziell um Hilfe bei den Nachforschungen gebeten wurde. Daher enthält das Dossier in Bern auch Unterlagen über Elser, die in Deutschland den Krieg nicht überstanden haben: Polizeifotos des Attentäters, der darauf kahlgeschoren oder mit Spuren von Misshandlungen zu sehen ist, ein amtliches Blatt mit Fingerabdrücken und "eigenhändiger Unterschrift" Elsers, ein "Personalbogen" der Gestapo mit der Beschreibung des Beschuldigten und eine "Situationsskizze des Festnahmeortes im Grenzgebiet Konstanz". All diese Dokumente wurden der Schweizer Polizei zusammen mit dem Ersuchen aus Berlin übermittelt.
Wichtigstes Schriftstück im zweiten Aktenband im Bundesarchiv ist der
Schweizer Ermittlungsbericht. Er kam zustande, nachdem die Polizeiabteilung im Justiz- und Polizeiministerium der Schweiz am 1. Februar 1940 einen Fragenkatalog "der Sicherheitspolizei Berlin" an die Bundesanwaltschaft in Bern weitergeleitet hatte. In einem Anschreiben dazu wurde dringend empfohlen, bei der Behandlung des Antrags "zurückhaltend und vorsichtig zu sein und die Beantwortung vorher mit uns und der Abteilung für Auswärtiges zu besprechen".
Die Frageliste (Requisitorial) aus Berlin umfasste 18 Seiten. Darin wurde auch behauptet, Elser habe in Vernehmungen erklärt, dass er 1939 Besuche eines Beauftragten von Otto Strasser wegen des Attentats erhalten habe. Ungeklärt ist, ob Elser, der gefoltert wurde, tatsächlich eine solch falsche Aussage gemacht hat, oder ob die Gestapo ihm diese Äußerung, aus welchen Gründen auch immer, unterschob. In dem erhalten gebliebenen Protokoll der polizeilichen Vernehmung Elsers, bis heute wichtigstes Dokument im Fall "Bürgerbräukeller", findet sich jedenfalls eine derartige Angabe nicht, Strasser wird darin gar nicht erwähnt.
Überhaupt bildet die lange Liste aus Berlin ein Sammelsurium an Tatsachen, Gerüchten, Unterstellungen und Mutmaßungen. Sie wirkt eher aufgeregt und bedrängt die Schweizer. Deren Antwort liest sich kühl und sachlich. Immer wieder erscheint im zwölfseitigen Ermittlungsbericht aus Bern die Mitteilung, dass keinerlei Beweise für die Angaben aus Berlin gefunden worden seien.
Auskunft wurde auch über den gebürtigen Königsbronner Karl Kuch erteilt, der in Spekulationen über vermeintliche Hintermänner Elsers heute noch eine Rolle spielt. Er zog, dem Ermittlungsbericht zufolge, in jüngeren Jahren in die Schweiz, wurde 1925 Schweizer Bürger, lebte als Musikalienhändler in Zürich und starb im Juni 1939, bei einem Autounfall in der alten Heimat. In Königsbronn wird überliefert, dass er dort öfter zu Besuch gewesen sei und sich als Gegner Hitlers zu erkennen gegeben habe. Umstritten ist, wie gut oder wie flüchtig sich die Landsleute Kuch und Elser gekannt haben.
Bern berichtete nun nach Berlin, der ausgewanderte Königsbronner sei zwar öfter nach Deutschland gereist, umgekehrt gebe es aber keine Hinweise auf einen Besuch Elsers bei Kuch. Auch lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Kuch mit Otto Strasser bekannt gewesen sei. Vorher schon hatte die Kantonspolizei Zürich das Ergebnis eigener Nachforschungen nach Bern gemeldet, "nachdem unser Dienst dahingehend informiert wurde, dass der Attentäter in München, Georg Elser, sich s. Zt. in Zürich im Freundeskreis des Dr. Otto Strasser aufgehalten haben soll". Wiederum war das Ergebnis negativ: "Wie Sie aus den beiliegenden Rapporten zu ersehen belieben, hat aufgrund der Haussuchungen und der protokollarischen Vernehmungen der erwähnten Personen ein Nachweis für eine Beteiligung am Attentat in München von seiten Dr. Otto Strassers nicht erbracht werden können." Strasser hat sich im übrigen des Attentats auch nie gerühmt. Und er versicherte, dass er Elser nicht gekannt habe.
Das Reichssicherheitshauptamt stellte in seinem Fragenkatalog auch noch eine Verbindung zwischen dem Münchener Attentat und einem Brand auf dem Dampfer "Deutschland" her, den es offensichtlich ebenfalls Elser und seinen angeblichen Hintermännern anlastete. In ihrem Ermittlungsbericht vom Februar 1940 reagierte die Schweizer Bundespolizei zunächst gar nicht auf die Fragen zu diesem Vorfall auf einem Schilf der HAPAG, der sich wohl schon im Herbst 1938 ereignet hatte. Es scheint, als habe Bern später aber doch noch geantwortet. Im zweiten Band der Akten im Berner Bundesarchiv findet sich jedenfalls ein zweieinhalbseitiger Bericht mit der Überschrift "Dampfer Deutschland" und dem Stempel der Schweizerischen Bundesanwaltschaft.
Diesem Dokument lässt sich nach einem handschriftlichen Vermerk vom 21. Mai 1940 entnehmen, dass die deutsche Polizei Ermittlungen im Fall "Deutschland" vorübergehend mit denen im Fall Elser verband, weil ein Teil der Ladung des Schiffes - unter der Sprengstoff vermutet wurde - aus der Schweiz kam. Detailliert berichtete die Schweizer Polizei über diese Ladung und über angeblich verdächtige Personen,
fügt aber auch hier den Satz ein: "Verbindungen zu Strasser konnten bei keinen der erwähnten Personen festgestellt werden." Und an einer Stelle heißt es: "Verbindungen mit Elser konnten keine festgestellt werden." Danach ist vom "Dampfer Deutschland" in den Akten nicht mehr die Rede.
Im übrigen besteht ein nicht geringer Teil des Materials in den vier Archiv-Bänden aus Medienberichten vor allem über Strasser, aber auch über das Münchener Attentat. Dazu findet sich ein Vermerk der Polizei im Kanton Thurgau, von der Festnahme Elsers im benachbarten Konstanz habe man erst durch eine deutsche Zeitung erfahren.
Viel spricht für die Vermutung, dass Elser keineswegs in Sicherheit gewesen wäre, wäre ihm die Flucht über den Grenzzaun geglückt, der die Städte Konstanz und Kreuzlingen (Thurgau) trennte. Dr. Ernst Weilenmann, stellvertretender Generalsekretär im Justizministerium des Kantons Zürich (Direktion der Justiz und des Innern) und zeitgeschichtlich sehr bewandert, meint, es sei kaum vorstellbar, dass die Schweiz Elser nicht an das Deutsche Reich ausgeliefert hätte. Für eine solche Maßnahme hätte es aus damaliger Sicht respektable Gründe gegeben: "Ein Sprengstoffanschlag auf das Staatsoberhaupt eines Nachbarstaates, mit dem normale und intensive Beziehungen unterhalten wurden, wäre damals wohl kaum als Tat mit 'politischem Charakter' betrachtet worden. Nur das aber hätte nach Artikel 4 des damals gültigen Auslieferungsvertrages zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich die Verweigerung einer Auslieferung erlaubt." Dass dies für Elser wohl die Todesstrafe im Heimatland bedeutet hätte, hätte die Auslieferung nicht ausgeschlossen. Diese Strafe sei auch in verschiedenen Kantonen der Schweiz noch bis Ende 1941 gesetzlich vorgesehen gewesen und in Einzelfällen vollstreckt worden. Der aus dem Jahre 1874 stammende Auslieferungsvertrag zwischen beiden Ländern sei im übrigen auch noch nach dem Krieg gültig gewesen und erst durch das europäische Auslieferungsübereinkommen abgelöst worden, dem die Bundesrepublik und die Schweiz umgehend beigetreten seien.
Weilenmann führt einen weiteren Aspekt ins Feld: Wäre der Attentäter nicht ausgeliefert worden, hätte ihm in der Schweiz der Prozess gemacht werden müssen. Dabei erinnert der Jurist an den Fall des "Landesgruppenführers" der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff. Dieser aus Schwerin stammende und in Davos lebende Nationalsozialist wurde dort im Februar 1936 von dem jüdischen Studenten David Frankfurter erschossen. Ein Schweizer Gericht verurteilte den Attentäter, einen Jugoslawen, zu 18 Jahren Zuchthaus. In diesem Verfahren musste sich die Schweiz ständiger und massiver Einmischungen und Pressionen von deutscher Seite erwehren. Und Weilenmann mutmaßt nun, dass die Schweiz ähnliche Erfahrungen in einem Fall Elser sicher hätte vermeiden wollen.
Im übrigen erläutert er, dass für Elser nicht die Polizei eines Kantons zuständig gewesen wäre, sondern die Bundespolizei. Bei ihr liege die Kompetenz in Auslieferungsfragen. Und letztlich hätte sich wohl auch die Regierung der Schweiz, der Bundesrat, mit dem Schicksal des Attentäters aus Deutschland befassen müssen.
Weilenmann bezeichnet es als einen normalen Vorgang, dass die Schweizer Behörden der deutschen Polizei Rechtshilfe auch im Fall Elser leisteten. Eine andere Frage sei in derartigen Fällen generell, mit welcher Beflissenheit dies geschehe.
Quelle: Ulrich Renz, Die Akte Elser, Schriftenreihe der
Georg Elser Gedenkstätte Königsbronn Band 1, Königsbronn 2000, S. 1-5