Von Jürgen Quandt, Pfarrer i.R. und Georg-Elser-Preisträger 2001
Was qualifiziert einen evangelischen Pfarrer, sich aus diesem Anlass zu äußern? Die Frage, die mich im Nachdenken über Georg Elsers Tat beschäftigt, ist die, ob wir uns hier mit einer historisch einmaligen und insofern auch ausschließlich historisch zu würdigenden Situation auseinander zu setzen haben. Diese Frage drängt sich auf, weil wir heute nicht in einem totalitären, verbrecherischen Staat leben, sondern in einem demokratisch verfassten. Die Frage des Widerstandes stellt sich darum nicht.
Aber eine Konsequenz aus der Erfahrung des Nationalsozialismus in Deutschland ist ja gerade, dass das Recht auf Widerstand in der Verfassung nunmehr garantiert wird: In Artikel 20 Absatz 4 GG heißt es: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Elsers Tat wäre unter vergleichbaren Umständen wie vor 65 Jahren heute in höchstem Maße gerechtfertigt, und zu fragen ist auch, ob sich aus der zitierten Bestimmung des Grundgesetzes nicht nur ein Recht auf Widerstand ergibt, sondern auch eine Pflicht zum Widerstand ableiten lässt.
Wenn das so ist, dann ergibt sich daraus nach meiner Überzeugung die Verpflichtung eines jeden deutschen Bürgers, sich aktiv für die Erhaltung der demokratischen Ordnung in unserem Gemeinwesen einzusetzen und zwar nicht erst, wenn dessen mögliche Abschaffung unseren Einsatz fordert. Diese Einsicht ist unter uns sicher nicht umstritten. Aber was heißt im jeweils konkreten Fall: Einsatz für die Erhaltung der demokratischen Ordnung? Ist das zu aller erst die Mitgliedschaft in einer demokratischen Partei oder auch noch der Regelverstöße bewusst in Kauf nehmende Protest gegen den Bau einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage in der Oberpfalz? Spätestens seit Anfang der 80er Jahre ist dieser Diskurs in der Bundesrepublik aufgebrochen und er wird unter dem Begriff des zivilen Ungehorsams diskutiert. Aber es geht nicht allein um zivilen Ungehorsam gegen politische und staatliche Entscheidungen, sondern überhaupt um zivilgesellschaftliches Engagement jenseits von parteipolitischen und staatlichen Interessen.
Letztendlich steht hinter diesem Diskurs die Frage: Wem gehört der Staat? Nach dem Grundgesetz wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung mit, aber sie haben kein Monopol auf die politische Gestaltung des Gemeinwesens. Wer also oder was setzt die Maßstäbe für eine förderliche demokratische Entwicklung? Meine Antwort: Es ist das Grundgesetzt selbst! Darin ist ein für allemal die Achtung der Menschenwürde als oberster Verfassungsgrundsatz festgelegt und als weitere Grundrechte werden u.a. zuerkannt: das Recht auf Leben, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Glaubens- und Gewissenfreiheit, die Meinungsfreiheit, der Schutz der Familie, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Rechte sind grundlegende Menschenrechte, und sie stehen allen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu, nicht nur den Deutschen. Damit knüpft das Grundgesetz von 1949 an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 an, in deren Präambel es u.a. heißt:
"Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innenwohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, da die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist, da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird, verkündet die Generalversammlung die vorliegende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal." Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erkennt den Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als ultima ratio an, wenn auf andere Weise die Menschenrechte nicht geschützt werden können.
Georg Elser hat sich in genau einem solchen Gewissennotstand befunden. Unter Abwägung aller Umstände hat er sich für eine Tat entschieden, die ihm nur die Wahl ließ zwischen zwei Schuldverstrickungen: Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus durch untätiges Zuschauen oder Verstoß gegen das fünfte Gebot. Seine Entscheidung zum Widerstand und die anderer haben mit dazu beigetragen, dass das Widerstandsrecht nunmehr verfassungsrechtlich garantiert ist.
Aber was hat Elser damals sicher gemacht, eine richtige, auch ethisch verantwortbare Entscheidung getroffen zu haben? In den Verhörprotokollen findet sich die Aussage: "Wenn ich gefragt werde, ob ich die von mir begangene Tat als Sünde im Sinne der protestantischen Lehre betrachte, so möchte ich sagen, 'im tieferen Sinne, nein!' Ich glaube an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode und ich glaubte auch, dass ich einmal in den Himmel kommen würde, wenn ich noch Gelegenheit gehabt hätte durch mein ferneres Leben zu beweisen, dass ich Gutes wollte." Bei aller Schlichtheit dieser Formulierung ist doch nicht zu verkennen, dass sich hier ein Mensch zu seiner Tat äußert, der ein hohes Maß an Reflexion beweist und deutlich macht, dass er aus christlicher Verantwortung gehandelt hat.
Die Evangelische Kirche hat sich vor allem im Zusammenhang mit der Beteiligung des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer am Widerstand gegen Hitler mit der Frage der ethischen Rechtfertigung des Tyrannenmordes auseinandersetzen müssen. Bereits in der von Karl Barth verfassten Barmer Theologischen Erklärung von 1934 bestreitet die Evangelische Kirche dem Staat die totale Verfügungsgewalt über das menschliche Leben: In der 5. These heißt es: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen."
Der besondere Auftrag des Staates ist nach Auffassung der Kirche, in einer noch nicht erlösten Welt für Recht und Frieden zu sorgen. Nach Kriegsende 1945 war das Erschrecken über die Greuel des Nationalsozialismus noch so groß, dass selbst diese Distanzierung vom Anspruch des totalitären Staates und die Entstehung einer Bekennenden Kirche als zu geringer Widerstand gegen ein verbrecherisches System gewertet wurde.
In einem Wort der Berliner Bekenntnissynode vom 31. Juli 1945 heißt es u.a.: "Die amtliche Kirche hat sich gegenüber dem Angriff des totalen Staates und seiner Weltanschauung weithin als blind und taub erwiesen... Leider ist auch die Bekennende Kirche nicht ohne Schuld geblieben. Zwar hat das Zeugnis vieler Brüder und Schwestern in Wort, Tat und Leiden manches Zeichen des Widerstandes gegenüber der Totalität des Staates aufgerichtet. (Aber) das, was wir gelitten und an Widerstand geleistet haben, (ist) gering. Wir können uns nicht den Vorwurf machen, dass wir zu radikal gewesen wären. Eine Fehlentwicklung von langer Hand hat uns dahin gebracht, dass wir in der Stunde der Versuchung versagt haben."
Georg Elser ist dieser Versuchung nicht erlegen, vor allem wohl deshalb, weil sein schlichter Glaube und die Klarheit seines Denkens ihm etwas bewahrt hatten, was in Zeiten der Unterdrückung und des Zwanges nur allzu schnell verloren geht. nämlich: die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden und sich für das Richtige und Notwendige nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden.
Insoweit ist Georg Elser nicht nur eine Lichtgestalt in dunkler Zeit und aller Ehren wert, sondern ein Vorbild auch für heute: ein Vorbild für die Fähigkeit, aus ethischer Verantwortung zu handeln, ein Vorbild für einen gläubigen Menschen. Er hat früher als andere den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus erkannt. Er hat sich in seiner Entscheidung, Widerstand zu leisten, nur von seinen persönlichen Überzeugungen leiten lassen. Er hat als Maßstab seiner Überzeugungen an ein christliches und humanes Menschenbild geglaubt. Er hat die alleinige Verantwortung für seine Tat übernommen.
Was würde Georg Elser heute tun? Das wissen wir nicht, aber wir können uns fragen, wo heute die Tugenden eines Georg Elser gefordert sind. Wo ist bei uns heute vonnöten, Zivilcourage zu beweisen und wenn es sein muss auch zivilen Ungehorsam? Wo ist es wichtig, den klaren Blick und ein heißes Herz sich zu bewahren und Verantwortung zu übernehmen um der Menschlichkeit willen? Ich denke dabei weniger an spektakuläre Aktionen, sondern eher an zeichenhaftes Handeln, das seine Überzeugungskraft aus der Übereinstimmung von Person und Tat gewinnt, etwa wenn Christinnen und Christen in Berlin vor der Abschiebehaftanstalt regelmäßig eine Mahn- und Gebetswache halten, um damit gegen eine unmenschliche Abschiebungspraxis des Staates zu protestieren, oder wenn andere Menschen in Berlin einmal monatlich auf einem Markt eine Mahnwache gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durchführen, um mit Bürgerinnen und Bürgern darüber ins Gespräch zu kommen, oder wenn eine Bürgerinitiative zum symbolischen Schwarzfahren aufruft, um dadurch die Wiedereinführung eines Sozialtickets bei den Verkehrsbetrieben für Sozialhilfeempfänger zu erreichen.
Dies alles sind keine Widerstandhandlungen, aber es sind zeichenhafte Initiativen für mehr Mitmenschlichkeit, für mehr Gerechtigkeit, für mehr demokratisches Bewusstsein in unserer Gesellschaft, die dem einzelnen eine persönliche Entscheidung, ein Zeugnis abverlangen. Der Einsatz ist vergleichsweise gering. Es bedarf lediglich der Bereitschaft, sich angesichts offensichtlicher Ungerechtigkeit und Missstände und angesichts praktizierten Unrechts nicht wegzuducken, sondern Gesicht zu zeigen und Stellung zu beziehen. Das eigene Leben ist dabei nicht gefordert.
Lassen Sie mich mit einem mutmachenden Beispiel aus der Stadt München selbst zum Abschluss meiner Gedanken kommen. Die Stadt München hat vor einiger Zeit ein Gutachten über Menschen in der Illegalität in München in Auftrag gegeben. Soweit mir bekannt ist, wird derzeit geprüft, inwieweit einzelne der Empfehlungen der Studie umgesetzt werden können. Die Stadt München stellt sich nach meiner Auffassung hier einem politischen Problem, das sonst weitgehend tabuisiert wird. Menschen ohne Papiere stellen bisher für unsere Gesellschaft und staatliche Stellen eher ein strafrechtliches Problem dar. Obersehen wird dabei, dass es unter den Betroffenen eine Vielzahl von humanitären Härtefällen gibt, die dringend eines sozialen Beistandes bedürfen.
Hier leistet die Stadt München mit der Untersuchung über Illegalität und der Bereitschaft, politische Konsequenzen zugunsten von Betroffenen zu ziehen, politische Pionierarbeit.
Ich glaube, auch dies lässt sich durchaus als exemplarisches Handeln im Geiste eines Sohnes dieser Stadt interpretieren, der unter vergleichsweise schwierigeren Umständen seinen Einsatz für Mitmenschlichkeit zu beweisen hatte.
Quelle: Fotodokumentation zum 65. Jahrestag des Bürgerbräuattentats
auf Adolf Hitler am 8. November 1939, München 2004