An jenem Abend habe Bongartz gesagt, das Häftlingskommando dürfe nicht aus dem Krematorium gehen. Wenn sie Schüsse hörten, sollten sie sofort mit einer Tragbahre kommen. Für diesen Fall waren die Häftlinge August Ziegler aus Mannheim und Franz Geiger aus Augsburg vorgesehen.
Gegen 23 Uhr hörten die drei ein Schießen. Sie nahmen die Tragbahre und gingen auf eine Taschenlampe zu, die rund 25 m vor der Tür des neuen Krematoriums im Park leuchtete. Am Tatort lag ein toter Mann, mit dem Gesicht auf der Erde. Nach Mahls Überzeugung hatte Bongartz den Mord alleine begangen. "Bongartz hat, wie ich aus meiner Tätigkeit als Kapo mit ruhigem Gewissen und mit aller Bestimmtheit behaupten kann, alle derartigen Morde im Gelände des Krematoriums persönlich begangen. Er hat viele Verbrechen auf dem Gewissen und war in meinen Augen ein ganz gewissenloser Verbrecher." Zuletzt erinnerte sich Mahl, daß Elser nur einen Genickschuss aufwies und beim Eintreffen des Kommandos schon tot war. Mahl kannte Elser vorher nicht. Erst als er in der Landsberger Haft in einer Zeitschrift Elsers Bild fand, erkannte er den Toten jener Nacht wieder.
Genauere Angaben konnte 1951 August Ziegler machen. Ab Weihnachten 1944 nahmen die Verbrennungen zu, täglich waren es 200 bis 250 Leichen, vier Öfen standen im Betrieb. Später wählte die SS Massengräber, um Koks zu sparen. Zur Zeit von Elsers Tod wurden nur noch Erhängte und Erschossene verbrannt. Erschießungen fanden auf dem Platz vor dem neuen Krematorium statt. Die Opfer mussten sich nackt ausziehen, wurden zum Kugelfang in den Hof geführt, mussten mit dem Gesicht zum Kugelfang niederknien und erhielten von Bongartz, gelegentlich auch von Lagerführer Ruppert, einen Genickschuss. Manchmal befand sich ein Arzt dabei. Augenzeugen waren strengstens verboten, aber die Häftlinge trieb die Neugier hinaus, wie Ziegler zugab: "Den Erschießungen konnten wir aus der Ferne zusehen." Dann mussten die Häftlinge mit der Tragbahre hinausrennen und die Toten in die Leichenhalle tragen. Sie hatten Bongartz darauf aufmerksam zu machen, wenn ein Opfer noch lebte, dann gab Bongartz einen Fangschuss.
Ziegler schlief an jenem Abend bereits. Es könnte 22 Uhr gewesen sein, als Mahl hereinstürzte, ihn weckte und vor Eile nicht mal Schuhe und Jacke anziehen ließ. Draußen war es so finster, dass Ziegler dem vorausgehenden Mahl nur auf Zuruf hin folgen konnte. Bei einem Rondell stand Bongartz, die Hände in den Taschen, neben ihm eine Leiche, der Erinnerung nach auf dem Rücken. Ziegler wusste sofort, dass nur Bongartz der Täter sein konnte. Die Leiche war noch frisch, das Blut noch nicht geronnen. Ziegler beschmierte beim Transport seine Hose und Hände. Der Tote war klein, schmächtig, trug gute Kleidung, keinen Hut, war glattrasiert. Am nächsten Tag wurde er verbrannt.
Nach langen Ermittlungen formulierte der Untersuchungsrichter am Landgericht München II, Dr. Nikolaus Naaff, am 8. November 1954, dem 15. Jahrestag des Attentats: Elser sei am 8. April 1945 von Theodor Heinrich Bongartz erschossen worden. Nur im Datum blieb ein Irrtum stehen: Den Genickschuss gab Bongartz einen Tag später ab.
Nach den Dachauer Gepflogenheiten ist anzunehmen, dass bei der Erschießung Elsers als Zeugen dabei waren: die hohen SS-Offiziere Lagerführer Friedrich Ruppert, Lagerarzt Dr. Hans Eisele und der Rapportführer Franz Böttger. Alle drei wurden 1945 von den Amerikanern gehenkt, wobei freilich die Ermordung Elsers noch gar nicht verhandelt wurde, sie war nicht bekannt. ...
Theodor Heinrich Bongartz
Quelle: Bundesarchiv Berlin
Theodor Heinrich Bongartz, geboren 1902 in Krefeld, wütete vorwiegend im Umfeld des Krematoriums. Er arbeitete von 1922 bis 1930 in seinem erlernten Beruf als Gipser an seinem Geburtsort und brachte es 1928 zum Meister. Im selben Jahr trat er in die SA, vier Jahre später in die SS ein. Dann wurde er Heizer und Maschinist bei der Heeresstandortverwaltung Krefeld. 1939 kam er zu einer Totenkopf-Standarte nach Brunn, 1940 in den Kommandanturstab des KZ Dachau und wohnte in der Schleißheimer Straße 121. Seine erste Frau starb durch Freitod 1941, er nannte als Grund "Schwermut".
Zeitzeugen betonten, Bongartz habe "ein äußerst brutales Aussehen" gehabt. Nach Lechner war Bongartz "ganz gelb im Gesicht und sah fürchterlich aus". Außerdem war er ein Quartalssäufer, der auch im Suff schoss. Ein Polizist aus Dachau lieferte 1951 der Justiz eine Personenbeschreibung: "Etwa 1,73 m groß, Gestalt schwächlich, auffallend gerade Haltung, schwarze Haare, linke Seite Scheitel, blasses Aussehen, Gesicht oval, starke schwarze Augenbrauen, leicht vorstehende Backenknochen, kein Schnurrbartträger, kein Brillenträger, besondere Merkmale: auffallend gerade Haltung und Gangwerk."
Am Samstag, dem 28. April 1945, machte sich die SS aus dem Staub, einen Tag nachdem der letzte der fünf Todesmärsche von Dachau aufgebrochen war. Vorher wurden das Krematorium gesprengt, im Zellenbau die Stehbunkerzellen zerstört, alle Akten verbrannt, die die Häftlinge nicht auf die Seite geschafft hatten. Die Hölle sollte ungeschehen gemacht werden. Eine Woche zuvor hatte die Kommandantur an die Wachmannschaften gefälschte Wehrpässe, Wehrmachtsuniformen und Rucksäcke ausgeteilt.
Zu Beginn der Flucht am 28. April saß das Häftlingskommando noch bei Bongartz auf einem
Pferdefuhrwerk, unterwegs verdrückte sich einer der Häftlinge nach dem anderen, Ziegler in
München-Pasing. Bongartz schlug sich ebenfalls in die Büsche, er wollte wohl nach Hause an den Niederrhein.
Unterwegs hielt ihn eine amerikanische Patrouille an und brachte ihn ins Kriegsgefangenenlager
Heilbronn-Böckingen. Dort starb er so rasch, am 15. Mai 1945, dass zuerst einmal Freitod
zu vermuten wäre. Aber beim Eintrag in die Totenliste steht "Oberfeldwebel, geboren 1901".
Die für die SS typische Tätowierung der Blutgruppe schien bei ihm nicht entdeckt worden zu
sein. Als Todesursache wird Tuberkulose genannt. Die auffallend gelbe Hautfarbe legt eine andere
Todesursache nahe: Hepatitis oder Leberzirrhose. Bongartz erhielt ein
Grab in der Soldatenabteilung des Friedhofs Böckingen:
Reihe 17 Nr. 6. Noch heute wird es als Soldatengrab gepflegt.
Hellmut G. Haasis Angaben über Bongartz beruhen großteils auf der von ihm im Archiv des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes entdeckten
Personalakte, in der Bongartz' handschriftlicher Lebenslauf, Porträtfotos in SS-Uniform und sein Wehrstammbuch liegen.
Aus einem von Haasis unter http://haasis-wortgeburten.anares.org/elser/bio_nachtrag_24.php publizierten Nachtrag zu
seiner Elser-Biografie ergibt sich:
1902 wurde Theodor Heinrich Bongartz am 25. Dezember in Krefeld geboren.
Bongartz besuchte acht Jahre die Volksschule von Krefeld, lernte Stuckateur, arbeitete in einem Baugeschäft
und bestand 1928 die Meisterprüfung.
1922 heiratete er.
1928 trat er in die SA ein.
1932 trat er in die SS und unter der Nummer 1.270.287 in die NSDAP ein.
1937 bekam er dank einer "Landesaktion für die Alten Kämpfer" eine Umschulung als Heizer und Maschinist zur
Wehrmacht bei der Heeresstandortkommandantur Krefeld.
1939 schickte man ihn im November zur 7. Totenkopf-Standarte nach Brünn (Mähren).
1940 kam er nach Dachau zum Kommandantur-Stab des KZ in das SS-Wachbataillon.
1941 starb seine Frau, als Ursachen nannte er "Herzkrankheit" und "Schwermut". Bongartz hatte
vier Töchter, die 1941 mit nach Dachau in die SS-Wohnung zogen. Adresse: Schleißheimer Straße 121.
1943 erhielt er das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse.
1944 wurde er zum SS-Oberscharführer befördert.
1945 kamen im April die amerikanischen Truppen immer näher auf Dachau zu. Am 28. April setzte sich
der größte Teil der SS-Besatzung aus dem KZ Dachau ab. Vorher bekamen die SS-Männer Wehrmachtsuniformen,
Wehrpässe und Rucksäcke, um sich als gewöhnliche Soldaten zu tarnen. Bongartz wollte sich zu
seiner früheren Heimat nach Krefeld durchschlagen.
In Württemberg nahm ihn eine amerikanische Miliärpatrouille fest und steckte ihn ins Kriegsgefangenenlager
Heilbronn-Böckingen.
Schwerkrank muss Bongartz dort angekommen sein. Da seine SS-Tätowierung nicht entdeckt wurde, wurde er
nach seinem baldigen Tod am 15. Mai 1945 neben Hunderten anderer Soldaten als Oberfeldwebel der Wehrmacht auf dem
Friedhof Heilbronn-Böckingen
beerdigt.
In der Todeszone Krematorium durften sich keine Zeugen aufhalten. Einzige Ausnahme: das achtköpfige Häftlingskommando,
das die Leichen in die Öfen zu schieben hatte. Nur aus diesem kleinen Kreis konnten zuverlässige Zeugenaussagen über Elsers
Ende kommen.
Die Gefangenen des Zellenbaus waren sich sicher, wer der Mörder war. Dr. Rohde gab 1951 dem Münchner Untersuchungsrichter
Dr. Nikolaus Naaff an, wovon alle Zellenhäftlinge überzeugt waren: "Als Täter wurde der Verwalter des Krematoriums
Bongartz genannt. Dieser war auch der Mörder des Dr. Rascher, den er in seiner Zelle niedergeschossen hat. Bongartz
war wegen der zahlreichen Morde, die er begangen hat, äußerst gefürchtet und sind die Häftlinge schon bei Nennung
seines Namens erblasst."
Der Untersuchungsrichter Dr. Naaff am Landgericht München II ermittelte mit seltenem Eifer die Umstände von Elsers Tod.
Seine Akten schlummern heute im Staatsarchiv München. Fünf dicke Bände, die bisher von der Forschung nicht herangezogen wurden.
Dr. Naaff konnte noch drei Häftlinge auffinden, die zur fraglichen Zeit am Krematorium eingesetzt waren.
Zum Tatort war am 9. April 1945 als erster der Häftlingskapo Emil Mahl aus Karlsruhe gekommen. Am Spätabend
hatte ihm der SS-Oberscharführer Theodor Heinrich Bongartz befohlen, das Zimmer im Krematorium nicht zu verlassen,
sondern zu warten, bis Schüsse zu hören seien. Dann solle er mit zwei Häftlingen eine Tragbahre nehmen und herauseilen.
Zwischen 22 und 23 Uhr gab es einen Schuss. Mahl rief die Häftlinge August Ziegler und Franz Geiger und ging ihnen voraus
zu dem aus der Dunkelheit rufenden Bongartz, der mit einer Taschenlampe seinen Standort markierte.
Mahl sah, wie soeben drei SS-Leute durch die kleine Pforte ins Lager zurückgingen. Diese drei müssen
entsprechend der Dienstordnung der Lagerführer Friedrich Ruppert, der Lagerarzt Dr. Hans Eisele und der
Rapportführer Franz Böttger gewesen sein. Sie hatten bei einer Hinrichtung als Zeugen dabei zu sein. Dieses
Kleeblatt wurde von den Amerikanern Ende 1945 hingerichtet.
Emil Mahl, Henker am Krematorium, kannte Bongartz bestens und gab 1951 zu Protokoll: "Bongartz hat, wie ich
aus meiner Tätigkeit als Kapo mit ruhigem Gewissen und mit aller Bestimmtheit behaupten kann, alle derartigen
Morde im Gelände des Krematoriums persönlich begangen. Er hat viele Verbrechen auf dem Gewissen und war
in meinen Augen ein ganz gewissenloser Verbrecher."
Mahl erinnerte sich, dass der von Bongartz Hingerichtete einen Genickschuss aufwies und beim Eintreffen der
Häftlinge schon tot war. Ein 'Gnadenschuss' war entbehrlich.
Als nächster Zeuge wurde Ziegler vernommen. Er hatte zur Tatzeit schon geschlafen, wurde von Mahl geweckt,
packte mit Geiger eine Tragbahre und eilte ohne Schuhe und Jacke hinaus.
Ziegler: "Wir kamen zu dem Rondell [vor dem Krematorium] und sah ich dort den SS-Oberscharführer Bongartz
mit den Händen in den Taschen. Neben ihm lag eine Leiche, meines Erinnerns auf dem Rücken. In diesem Moment
wurde ich mir bewusst, warum wir gerufen worden sind, nämlich weil dieser Mann umgelegt worden war.
Bongartz sagte uns, los macht schnell, nehmt sie [die Leiche] mit hinein. Damit meinte er, dass wir die
Leiche rasch ins Krematorium schaffen sollen. Da Bongartz allein am Platz war und ich niemanden sonst sehen
konnte, bin ich der Überzeugung, dass Bongartz den Mann erschossen hatte, die Leiche war nämlich noch ganz
frisch und das Blut noch nicht geronnen, wodurch ich mir beim Transport meine Hose beschmierte und die Hände."
Den Erschossenen kannte damals niemand mit Namen. Erst durch die Vorlage eines Fotos und durch die Aussage anderer
Häftlinge stellte sich heraus, dass an diesem Tag nur Georg Elser zur Erschießung hinausgebracht worden war.
Bongartz' Hinrichtungsmethode konnten Ziegler und Geiger beim nächsten Fall beobachten, nun aus der Nähe und bei Tageslicht.
Der französische Resistance-General Charles Delestraint wurde am 19. April 1945 um 11 Uhr zum Krematorium gerufen:
Er werde entlassen. Als Delestraint voller Hoffnung zum Neuen Krematorium ging, schlich sich Bongartz aus dem Alten
Krematorium, in dem er sich versteckt hatte, auf Turnschuhen hinterher.
Ziegler: "Er [Delestraint] hatte nur wenige Schritte getan, als Bongartz seine Schusswaffe zog und von
hinten den Mann niederschoss. Ich habe diesen Vorfall auf eine Entfernung von ca. 10 Schritten gesehen.
Der Angeschossene stürzte kopfüber zu Boden und blieb am Gesicht liegen. Bongartz befahl uns, den Mann zu nehmen und
ins Krematorium zu tragen. Wir schafften ihn in den Ofenraum, wo ich feststellte, dass der Mann noch lebte.
Ich machte den Bongartz darauf aufmerksam, worauf dieser ihm den Gnadenschuss gab."
Nachdem Elsers Mörder feststand, wollte Dr. Naaff ihn dingfest machen. Ein Dachauer Polizist lieferte
ihm eine Personenbeschreibung: "Etwa 1,73 m groß, Gestalt schwächlich, auffallend gerade Haltung, schwarze Haare,
linke Seite Scheitel, blasses Aussehen, Gesicht oval, starke schwarze Augenbrauen, leicht vorstehende
Backenknochen, kein Schnurrbartträger, kein Brillenträger, besondere Merkmale: auffallend gerade Haltung und Gangwerk."
In der Einwohnerkartei der Gemeinde Dachau trägt Bongartz' Karte auf der Rückseite den Nachtrag: "gottgläubig,
Maschinist, geb. 25.12.02 in Krefeld, zur Zeit Waffen-SS, gest. 15.5.1945 in Heilbronn-Böckingen im Kriegsgefangenenlager."
Der Todesmeldung traute Dr. Naaff lange nicht. Gesuchte Nazimörder fälschten zu oft Todesmeldungen, um unbehelligt
zu bleiben, bis die Verfolgungsbehörden einschliefen. Polizeiliche Kontrollen bei Frau Bongartz in Dachau
bestätigten aber immer wieder, dass ihr Mann nicht heimgekommen war.
So beantragte 1954 der Oberstaatsanwalt am Landgericht München II, das Verfahren gegen den einzigen möglichen
Helfer bei Elsers Ermordung, den SS-Mann Edgar Stiller, einzustellen. Dabei stellte er abschließend fest:
"Nach den Ermittlungen ist Georg Elser offenbar am 8.4.1945 im Konzentrationslager Dachau erschossen worden
und zwar durch den Verwalter des Krematoriums, SS-Oberscharführer Bongartz."
Einziger Irrtum: Elser starb am 9. April.
Hellmut G. Haasis (* 7. Januar 1942 in Mühlacker/Enz) studierte evangelische Theologie, Geschichte, Soziologie
und Politik. Freier Schriftsteller, bekannt vor allem durch seine Biographie von Georg Elser.
1990 wurde er mit dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet. Außerdem erhielt er den Civis-Preis der ARD für das Hörspiel
"Jud Süß" im WDR (1995) und den Schubart-Preis der Stadt Aalen für die Biographie Joseph Süß Oppenheimers (1999).