Franz Lechner: Georg Elser

   Franz Lechner, 1959 - Quelle: Bild am Sonntag Archiv (Kopie von Mikrofilm)
Franz Lechner
Ich war ein Jahr lang in den verschiedensten Lazaretten, behielt aber einen gelähmten rechten Arm. Trotz der Verwundung wurde ich von der SS nicht entlassen, sondern zu meiner Genesungskompanie in Marsch gesetzt, die in Nijmwegen in Holland lag.

Ich wurde neu eingekleidet, und dann hieß es, ich sei nach Dachau versetzt. Ich dachte zuerst nicht an das Konzentrationslager, sondern an den dortigen Standort eines SS-Regiments.

Wir mussten alle Briefe kontrollieren, die aus und ein gingen. Die Häftlinge durften in den Briefen zum Beispiel keine Rasierklingen empfangen und keine Fotos von ihren Familienangehörigen. Und sie selbst durften vor allem nichts Schlechtes über das Lager schreiben.

Eines Tages wurde ich von meinem Vorgesetzten, einem Obersturmbannführer, abgeholt und durch das eigentliche Lager bis zu einem langen einstöckigen Steinbau mit vergitterten Zellen geführt. Es war das Lager der Sonderhäftlinge. Vor dem Bau lag ein etwa hundert Meter langer Garten, in dem Blumen und Gemüse wuchsen.

Bei uns waren der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg mit seiner Frau und seinem Töchterchen Sissy; der ehemalige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht - selbst im KZ mit Stehkragen; der damalige Domkapitular und heutige Weihbischof von München, Dr. Johannes Neuhäusler; der ehemalige Generalstabschef, Generaloberst Halder; der Militärbefehlshaber von Belgien, Generaloberst von Falkenhausen; Dr. Josef Müller, der spätere bayerische Justizminister, der unter dem Namen "Ochsensepp" populär wurde; und Dr. Lothar Rohde, der jetzige Präsident des Münchener Exportclubs.

Als ich allein Wachhabender war, hatte ich nur einige Kalfaktoren zur Hilfe. Es waren Bibelforscher, die bereits vier Jahre lang eingesperrt waren. In dieser Zeit habe ich mich vor allem bemüht, den "Steh-Bunker" erträglich zu machen.

Ich wusste genau, wann ein Vorgesetzter kam. Ich ließ die Häftlinge aus den Steh-Bunkern heraus, sodass sie im Vorraum auf und ab gehen konnten. Wenn die nächste Kontrolle fällig war, sperrte ich sie wieder ein. Dabei wäre ich fast einmal aufgefallen.

Eines Tages wurde unter scharfer Bewachung ein neuer Häftling gebracht. Ich schloss das Lagertor auf, da sah ich einen unscheinbaren Zivilisten in einem schäbigen Mantel, umgeben von vier SS-Leuten. Er war heruntergekommen, ausgemergelt, ein Wrack. Er kümmerte sich um gar nichts.

Von dort bekam ich Nachricht, der neue Häftling solle Zelle 6 beziehen, die gerade leer war. Ich brachte ihn hin und fragte ihn, ob er Hunger hätte. Er wollte nichts, nur ein Bad wünschte er sich. Er nannte mir auch seinen Namen - Georg Elser.

Vor der Tür zu Zelle 6 wurde ein Hocker aufgestellt, auf dem Tag und Nacht ein SS-Mann saß. Die ganze Nacht brannte in Elsers Zelle Licht. Wir konnten ihn dann immer auf seiner Pritsche liegen sehen.

Elser war ein leidenschaftlicher Raucher. Das wusste man offensichtlich auch "an höchster Stelle". Es wurde ihm nämlich - was bei keinem anderen Häftling genehmigt war - eine Sonderration Rauchwaren von 40 Zigaretten pro Tag zugesprochen. Trotzdem kam er damit noch nicht aus.

Gegessen hat Elser sehr wenig, um nicht zu sagen gar nichts. Man konnte fast meinen, er ernähre sich nur von Zigaretten.

Es war unheimlich und schaurig, wenn abends aus seiner Zelle Zitherklänge kamen. Eines Tages bat Elser mich, ihm doch Noten mitzubringen. Am liebsten hätte er Wiener Lieder. Ich habe dann bei meinem nächsten Besuch in München für fast 30 RM Noten eingekauft.

Die dreißig Mark gingen mir verflixt hart ab, aber ich habe mich damit abgefunden. Am Abend ging ich zu Elser in die Zelle. Er hatte gerade in seiner Tischlerwerkstatt gearbeitet. Freudestrahlend kam er auf mich zu. Unter den Noten war auch sein Lieblingslied gewesen. Er wollte es mir sofort vorspielen.

Als die Melodie verklungen war, standen Tränen in seinen Augen. Er sagte, das Lied ergreife ihn immer wieder.

Ich hatte erst nach ein paar Tagen erfahren, dass Elser der Bürgerbräu-Attentäter war. Dann unterhielten wir uns sehr oft über den Bombenanschlag. Elser hat mir immer wieder gesagt, dass er es ganz allein getan hätte: "Ich musste das tun, denn Hitler war der Untergang Deutschlands. Nicht, dass Sie glauben, ich bin ein eingefleischter Kommunist. Ich mag den Ernst Thälmann, aber den Hitler zu beseitigen, das wurde mir einfach zur fixen Idee."

Er hatte genau gewusst, dass er ein großes Risiko einging. Er hatte aber nicht gedacht, dass er erwischt werden könnte: "Hätten sie mich nur gleich hingerichtet. Das wäre mir viel lieber gewesen."

Einmal sagte er mir, er hätte heiraten wollen. Er hätte eine tüchtige Frau gekannt, aber durch diese Geschichte ist ja nun nichts daraus geworden.

"Ich bereue nicht, was ich getan habe, es würde ja auch nichts mehr nützen. Ich glaubte, ein gutes Werk zu vollbringen: Das ist mir nicht gelungen und jetzt muss ich eben die Konsequenzen ziehen. Ich fürchte diese Konsequenzen und Tag und Nacht denke ich daran, welchen Tod ich erleiden werden. - Sie müssen mir das doch sagen können."

Ich war entsetzt. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Ich konnte ihn nur beschwichtigen und bitten, doch wieder etwas auf seiner Zither zu spielen.

Für mich war das beklemmend. Elser spielte mit ganzer Hingabe. Dazu sang er mit brüchiger Stimme die schwäbisch gefärbten Wiener Texte. Manchmal bleib er mitten in einem Wort stecken und hatte Tränen in den Augen.

"Ich habe wenigstens die eine Genugtuung, wenn es auch keine mehr ist, dass die [anderen Sonderhäftlinge] auch alle aufgehängt werden."

Es gab eine Reihe von Häftlingen, die Diätkost bekamen. Regelmäßig hatten sie zusätzlich Spritzen bekommen. Plötzlich weigerten sie sich mit aller Gewalt, wegen dieser Spritzen zum Lagerarzt - dem inzwischen hingerichteten Sturmbannführer Hintermeier - zu gehen. Sie hatten Angst, man würde sie mit einer Spritze einschläfern. Der italienische Oberstleutnant Farera sagte mir einmal: "Ich nix gehen zum Arzt. Arzt mir geben Spritze, ich bin tot." Und so dachten sie alle.

Elser war schon in seiner Tischlerwerkstatt und arbeitete. Er ließ sich gar nicht stören, sondern sagte nur "Guten Morgen", dann schnitzte er ruhig weiter. Ich wusste [bei dieser Abholung zur Vernehmung] sofort, das war das Ende. Elser fragte ganz harmlos, ob er etwas mitnehmen müsse. Ich beruhigte ihn, er sei ja gleich wieder zurück. So ging er, ohne sich von mir zu verabschieden. Auch ich verabschiedete mich nicht, denn das wäre ihm ja sofort aufgefallen.

Ich erfuhr von Elsers Tod durch Oberscharführer Fritz. Er kam zu mir, um sich die selbstgebastelte Zither von Georg Elser zu holen. Als Fritz über den Gang ging, streifte er mit dem Daumen über die Saiten. Ein schauriger Akkord klang auf. Es war wie ein Schrei, der die offenstehenden Zellen füllte.

Quelle: Günter Peis, Zieh' dich aus, Georg Elser!, Bild am Sonntag (20.12.1959, 27.12.1959), Hamburg 1959


SS-Unterscharführer Franz Xaver Lechner wurde 1939 von der Wehrmacht zur SS-Polizeidivision abkommandiert. Nach dem Frankreich-Feldzug kam er nach Russland, wo er im Winter 1941/42 vor Leningrad schwer verletzt wurde. Lechner wurde ins KZ Dachau abkommandiert. Er erinnert sich an Georg Elsers Ankunft in Dachau, seine Haft und seinen Tod.

Video Franz Lechner: Georg Elser in Dachau
Georg Elser in Dachau
Dr. Lothar Rohde: SA-Mann Elser

Lechner wird auch von Sigismund Payne Best in dessen Memoiren erwähnt. Best war einer der beiden britischen Geheimdienstoffiziere, die am Tag nach dem Bürgerbräuattentat in Venlo an der holländischen Grenze von einem deutschen Sonderkommando gekidnappt und einige Tage später von der NS-Propaganda als Drahtzieher des Attentats präsentiert wurden. Best berichtet in seinen Memoiren von seinem Aufenthalt als Sonderhäftling im KZ Dachau im April 1945:

"Er und ein anderer Wärter namens Lechner waren professionelle Musiker und ursprünglich bei der Armee gewesen; beide waren verwundet und nach ihrer Wiederherstellung, statt zu ihren Einheiten zurückkehren zu können, in die SS gezwungen worden - zu ihrem großen Missfallen. Sie waren nette Burschen mit gutem Benehmen, die uns alle mit äußerster Höflichkeit behandelten und die offensichtlich das Gefühl hatten, uns näher zu stehen, als den berufsmäßigen Gefängnisaufsehern, von denen mir einige ziemlich übel erschienen."

Best berichtet weiter, wie Lechner ihm eines Abends heimlich seinen Kameraden, Major Richard Henry Stevens, in die Zelle brachte, wo die beiden sich bei einer Flasche Wein von Lechner für eine kurze Zeit unterhalten konnten. Der Kontakt zwischen den beiden gefangenen britischen Geheimdienstoffizieren war strengstens untersagt.

Quelle: Sigismund Payne Best, The Venlo Incident, London 1950, S. 212 f