"Es wäre aber verheerend, wenn wir uns scheuten, Wahrheiten auszusprechen"
Interview mit Lothar Fritze
Hanka Kliese MdL
Vor zehn Jahren löste der Politikwissenschaftler Lothar Fritze den so genannten
"Dresdner Historikerstreit" aus. Er bezweifelte in einem Beitrag für die "Frankfurter Rundschau",
dass das Attentat des Tischlers Georg Elser auf Adolf Hitler vom 9. November 1938 bezüglich
seiner Ausführungsweise in jeder Hinsicht "vorbildhaft" gewesen sei. Wir befragten Fritze
über die Aufgeregtheit der damaligen Debatte sowie den Kern seiner Argumente.VON HANKA KLIESE
In der Geschichte gibt es wahrscheinlich etliche Attentäter, die in der Frage der Sorgfaltspflicht
gegenüber Unschuldigen defizitäre Handlungsmuster aufweisen. Warum haben Sie Georg Elser gewählt?
Prof. Dr. Lothar Fritze
Das war reiner Zufall. Ich hatte gerade meine Habilitationsschrift "Täter mit gutem Gewissen.
Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus" abgeschlossen, in der es ganz wesentlich um die Frage
geht, inwieweit es erlaubt ist, schlechte Mittel zur Erreichung guter Ziele einzusetzen. In dieser Zeit stieß ich
auf einen Artikel von Peter Steinbach zum Elser-Attentat auf Hitler. Ich hatte bis dahin von diesem Attentat
nichts gehört. In der DDR galt Elser bekanntlich nicht als Held – was wohl unter anderem mit der für den
Marxismus-Leninismus charakteristischen Ablehnung individueller Gewaltakte zu tun hatte. Steinbachs Darstellung
allerdings empfand ich als höchst unbefriedigend. Die Tatsache, dass bei dem Anschlag Menschen umgekommen waren,
auf die das Attentat gar nicht abgezielt hatte, schien für ihn bedeutungslos zu sein. Dies war für mich gleichsam
der Denkeinstieg.
Sie sprechen Elser zu, "zweifellos couragiert" gehandelt zu haben. Was könnten Sie außerdem
in einer positiven Würdigung über ihn sagen?
Auffallend an Georg Elser ist seine herausragende Tatkraft, seine Beharrlichkeit und sein
großer Mut. Jeder, der sich den Tathergang mit seinen langwierigen und komplizierten Vorbereitungen
vergegenwärtigt, spürt, dass es sich hier um einen ganz außergewöhnlichen Vorgang handelt. Natürlich ist
allein schon die Tatsache, dass Elser den Nationalsozialisten die Stirn bot, lobenswert. Darüber hinaus aber
ist Elser – speziell bei seinen nächtlichen Arbeiten im Bürgerbräukeller – ein großes persönliches Risiko
eingegangen. Er hat ganz bewusst sein Leben aufs Spiel gesetzt. Und um keine Missverständnisse aufkommen
zu lassen: Natürlich ist Elser kein Terrorist. Der Versuch, Hitler zu töten, war ein Akt legitimen Widerstands.
Ihnen wurde u.a. vorgeworfen, dass der Artikel, in dem Sie Elsers Handlungen einer
moralischen Prüfung unterzogen, am 60. Jahrestag des Attentates erschien - einem Datum, das der Ehrung
Elsers dienen sollte. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf und denken Sie, dass die Debatte bei Veröffentlichung an
einem beliebigen Tag einen anderen Verlauf genommen hätte?
Zunächst einmal sollte man wissen, dass ein Autor zwar Terminvorschläge für die Veröffentlichung
seines Beitrages unterbreiten kann, die Entscheidung aber immer bei der Redaktion liegt. In diesem Falle
erschien mir der Veröffentlichungstermin durchaus angemessen. Mein Anliegen war es ja, gerade auf die gänzlich
unkritische Verehrung Elsers hinzuweisen, die sich in den Jahren davor eingebürgert hatte.
Mit dieser Verehrungspraxis wird die gesamte Tat, einschließlich der Art und Weise der Tatausführung, als vorbildlich
und nachahmenswert deklariert. Es werden die Maßstäbe, die durch das Elser’sche Handeln exemplifiziert
wurden, als diejenigen Maßstäbe ausgewiesen, an denen sich jeder orientieren soll, der sich in einer relevant
ähnlichen Situation befindet. Darin liegt eine Gefahr, auf die aufmerksam zu machen mein Anliegen war.
Welcher Tag wäre nun für einen mahnenden Zwischenruf besser geeignet gewesen als ein Jahrestag des Attentates?
Zudem scheinen manche zu vergessen, dass der 8. November nicht nur der Tag des Anschlags war, sondern
auch der Tag, an dem die Opfer ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren haben. Ob die Debatte ansonsten einen
anderen Verlauf genommen hätte – darüber kann man nur spekulieren. Das Urteil über die Art und Weise der
Tatausführung ist jedenfalls unabhängig vom Zeitpunkt seiner Äußerung.
"Geschichte ist keine Moralveranstaltung" – so lautete eine Kritik an Ihrem Text.
Warum ist es so schwer, moralische Maßstäbe an zeithistorisch relevante Personen anzulegen?
Dies ist ein Punkt, der mich ebenfalls verwundert. Das Fatale an dieser wenig durchdachten
Äußerung ist jedoch, dass, nähme man sie ernst, selbst das Handeln der großen Verbrecher nicht unter
moralischen Gesichtspunkten beurteilt werden dürfte. Hitler übrigens hat genau dies für sich in Anspruch
genommen. Die Feststellung, Geschichte sei keine Moralveranstaltung, hätte ebenso von ihm stammen können.
Natürlich käme kein Mensch auf die Idee, ihm eine derartige Rechtfertigung durchgehen zu lassen.
Deshalb wird ja auch in der Zeitgeschichtsschreibung geradezu unablässig – wenn auch häufig "unter der Hand"
– moralisch geurteilt. Verurteilungen allerdings treffen vor allem die Verlierer. Für die Sieger und diejenigen,
die auf der "richtigen" Seite standen, scheint zu gelten, worauf schon Jacob Burckhardt in seinen
"Weltgeschichtlichen Betrachtungen" hinwies: "eine merkwürdige Dispensation von dem
gewöhnlichen Sittengesetz", sodass ihnen selbst Verbrechen nachgesehen würden.
Ihrer Fragestellung wurde vom Beirat des "Hannah Arendt-Instituts" "wissenschaftliche
Legitimität" bescheinigt. Wann wird eine Fragestellung wissenschaftlich illegitim und wer wiederum
besitzt die Legitimation, das festzulegen?
Ich wüsste nicht, wie eine Fragestellung selbst schon illegitim sein könnte. Fragen sind
interessant oder wissenschaftlich fruchtbar oder sie sind weniger interessant oder unfruchtbar. Dabei
ist die Infragestellung überkommener Meinungen sowie die Revision bisher für gültig erachteter Auffassungen
geradezu ein Kennzeichen der Wissenschaft. Die wissenschaftliche Forschung allerdings hat dort ihre Grenze,
wo sie Rechte von Menschen illegitim verletzt. Davon kann aber im vorliegenden Fall keine Rede sein.
Sie dokumentieren mit der Kritik an Elser die Freiheit der Wissenschaft, nicht aber
die Diffamierung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Es gibt auch Leute, die in Ihrer Arbeit
gern Letzteres sehen würden. Wie gehen Sie mit Beifallsbekundungen aus dem rechten und rechtsextremen Lager um?
Gegen Beifall von der falschen Seite kann man sich nur schlecht wehren. Wenn man ihn partout
vermeiden wollte, müsste man in mancherlei Hinsicht die Forschung einstellen und könnte auch bestimmte
gesellschaftliche Probleme nicht benennen. Man kann aber immerhin versuchen klarzumachen, dass der Beifall
womöglich aus inakzeptablen Gründen gespendet wird – aus einer Motivation, die man selbst nicht teilt.
Es wäre aber verheerend, wenn wir uns scheuten, Wahrheiten auszusprechen, nur weil politische Gegner oder
auch Extremisten diese Auffassungen teilen oder teilen könnten."
Vielen Dank für das Interview.
Quelle: Endstation Rechts 9.11.2009
Endstation Rechts ist ein Projekt der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD Mecklenburg-Vorpommern.
Hanka Kliese ist SPD-Abgeordnete des Sächsischen Landtags und Sprecherin für Sportpolitik, Sprecherin für Behindertenpolitik
und Sprecherin für Tourismus.