Leseprobe aus dem Buch "Legitimer Widerstand? Der Fall Elser"
VON LOTHAR FRITZE
Bei der Beurteilung der Tat Elsers kann es nicht um eine nachträgliche
Herabsetzung seiner Person gehen. Allerdings schließt eine Würdigung seiner Absichten kritische
Nachfragen zu seinem Vorgehen nicht aus. Indem gefragt werden muss, welche seiner Handlungsregeln
gesellschaftliche Anerkennung finden können, ist schonungslose Kritik sogar geboten.
Steinbach und Tuchel hingegen fordern ein "Bekenntnis zu Elser"1. Sie ermuntern
zu einer quasi-religiösen Verehrung, die schon angesichts der überaus problematischen Vorgehensweise
dieses Attentäters schwerfällt. Ihre Forderung widerspricht aber auch dem Anliegen einer an Rationalitätsstandards
orientierten politischen Bildung. Im Zentrum der politischen Bildungsarbeit eines demokratischen Gemeinwesens
kann nicht die Ermunterung zu kritiklosen Bekenntnissen stehen. Der demokratische Verfassungsstaat
ist vielmehr an einem Staatsbürger interessiert, der zu selbständiger Urteilsbildung befähigt ist.2
Über Bekenntnisse jedoch führt kein Weg zur Ausbildung von Urteilskraft - und erst recht nicht über
gedankenlose Bekenntnisse zu einzelnen Personen. Steinbach und Tuchel aber gehen noch einen Schritt weiter:
Wir alle, so lassen sie wissen, seien verpflichtet, uns "vor ihm und seiner Tat aus[zu]weisen"3.
Wir alle - dies ist wohl damit gemeint - sollen unser Handeln an dem seinen orientieren; wir alle sollen
uns an den Maßstäben messen lassen, die durch sein Handeln exemplifiziert wurden; wir alle sollen Rechenschaft
ablegen, ob wir dem Vorbild genügen, das seine Person verkörpert, und inwieweit wir dem Beispiel gefolgt
sind, das er gegeben hat.
Im Unterschied zu Steinbach und Tuchel rate ich dringend davon ab. Die Steinbach/Tuchelsche
Forderung ist in dieser Allgemeinheit nicht nur nicht begründbar; ihr zu folgen hätte katastrophale
Konsequenzen. Man führe sich nur vor Augen, zu welchen Handlungen uns dieses Vorbild ermuntern könnte!
Jeder verständige Beobachter, der eine relevant ähnliche Gefahr wie Elser 1938/39 diagnostizierte, wäre
demzufolge berechtigt, die dafür verantwortlichen Personen zu eliminieren, indem er, ohne andere
Attentatstechniken auch nur zu erwägen, in einer Menschenmenge eine durch ihn nicht mehr
kontrollierbare Zeitzünderbombe detonieren lässt und ein Blutbad ungeheuren Ausmaßes anrichtet.
Dabei ist außerdem zu bedenken, dass es Elser nicht nur um Gefahrenabwehr ging. Er war - wohl im
Unterschied zur Bevölkerungsmehrheit4 - mit der sozialen Entwicklung nach 1933
unzufrieden und glaubte, durch die Beseitigung der aktuellen Führung auch eine Verbesserung der
Lage der Arbeiter herbeiführen zu können.5 Jeder also, der auf der Grundlage eines
relevant ähnlichen Motivkomplexes glaubte, die Staatsführung beseitigen zu müssen, wäre demnach zu
einem Vorgehen der Elserschen Art berechtigt. Können Steinbach und Tuchel tatsächlich nicht
begreifen, was sie mit einem pauschalen "Bekenntnis zu Elser" eigentlich einfordern?
Die unkritische Verehrung, die einem Einzelgänger wie Elser und seinem opferträchtigen Vorgehen
schon heute entgegengebracht wird, stellt eine beispiellose Ermunterung für zukünftige selbsternannte
Gefahrenabwehrer dar. Diese Mahnung ist auch an den Georg-Elser-Arbeitskreis in Heidenheim
zu richten, der die Zeit für gekommen hält, Elser "der Jugend als Beispiel
vorzustellen"6. Ich halte eine pauschale Ermunterung dieser Art für einen
schweren Fehler. Selbst dann, wenn man von den sozialen Motiven, die Elsers Anschlag sicherlich
nicht gerechtfertigt hätten, absieht, gilt: Auch Widerstandshandlungen, die aus legitimen Gründen
ausgeführt werden, auf ein richtiges Ziel gerichtet sind und darüber hinaus zur Lösung derjenigen
Probleme beitragen können, die den Widerstand erforderlich machen, müssen sich an Maßstäben messen
lassen, die zur moralischen Beurteilung der Ausführungsweise einzelner Widerstandsoperationen
herangezogen werden.
Unsere wissenschaftlich-technische Welt entwickelt sich derzeit mit atemberaubendem Tempo und
wird die Lebensgrundlagen und Handlungsmöglichkeiten in dramatischer Weise verändern. Den sich
daraus ergebenden Chancen stehen kaum absehbare Risiken gegenüber. Wie Martin Rees, einer der
angesehensten Astrophysiker weltweit, ausführt, stehen wir "am Beginn einer Ära, in der ein
Einzelner durch einen heimlich geführten Anschlag Millionen töten oder eine Stadt auf Jahre hinaus
unbewohnbar machen kann"7. Der technische Fortschritt könnte es möglich machen,
dass "gewöhnliche Bürger über jene Zerstörungsfähigkeit verfügen, welche im 20. Jahrhundert
das Schrecken erregende Vorrecht einer Hand voll Menschen war, die in Staaten mit Atomwaffen die
Macht innehatten"8.
Wir werden möglicherweise schon in naher Zukunft ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen müssen,
dass Extremisten, fanatische Ideologen oder sektiererische Einzelgänger die Welt in Atem halten und
viele Tote verursachen könnten. Wir wissen auch, dass es "Gefahrenabwehrem" dieses
Typs - von bösartigen Zerstörern also abgesehen - nie schwerfällt, mit Rechtfertigungsargumentationen
aufzuwarten und ihr Tun vor sich selbst zu legitimieren. Es wird schwer genug sein, Leute dieses
Kalibers in die Schranken zu weisen. In einer solchen Welt über unpräzises Denken, mangelnde
Sorgfalt und unverantwortliches Handeln hinwegzusehen, kann nicht angehen - selbst wenn ein
Vorgehen, wie im Falle des Anschlags von Elser, auf das richtige Ziel gerichtet war.
Handlungen haben verschiedene Aspekte. In Abhängigkeit davon, welcher Aspekt hervorgehoben und
welcher Bewertungsmaßstab zugrunde gelegt wird, kann ein und dieselbe Handlung unterschiedlich
bewertet werden. Wenn einzelne Merkmale negativ zu bewerten sind, schließt dies nicht aus, andere
positiv hervorzuheben. Und auch, wenn eine Handlung nicht in Gänze als vorbildlich gelten kann,
ist es deshalb nicht ausgeschlossen, etwa bestimmte Aspekte der Gesinnung oder Haltung des
Handelnden zu würdigen.
Allerdings gilt auch: Indem ein unzulänglich durchdachter und schlecht ausgeführter
gewaltsamer Widerstandsakt, der mit dem Tod und der Verletzung von Unbeteiligten und
Unschuldigen endete, eine derart hohe und zugleich unhinterfragte Wertschätzung erhält, wird
zugleich eine Einsicht verschüttet, die wir Männern wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King
verdanken - nämlich, dass auch der gewaltlose Kampf ein effektives Mittel sein kann, sich gegen
Unrecht zur Wehr zu setzen und Unrechtsverhältnisse letztlich zu beseitigen.
Das heißt selbstverständlich nicht, dass gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime
nur gewaltlos Widerstand hätte geleistet werden sollen. Wenn es aber darum geht, aus dem
Widerstand gegen den Nationalsozialismus für die Zukunft zu lernen, dann sollte man eine
Überbetonung gewaltsamer Widerstandsformen vermeiden und das rundum positive Herausstellen einzelner
gewaltsamer Widerstandsakte, sofern deren Ausführungsweise allgemein akzeptierten Maßstäben
widerspricht, unterlassen. Nichts wäre letztlich fataler als die Propagierung falscher Vorbilder.
Mit der uneingeschränkt positiven Bewertung des Elserschen Anschlags hat man einen solchen
Irrweg eingeschlagen.
1
Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Georg Elser. Berlin-Brandenburg 2008, S. 117.
2
Vgl. etwa Manfred Hättich: Rationalität als Ziel politischer Bildung. München 1978.
3
Peter Steinbach/Johannes Tuchel: Georg Elser. Berlin-Brandenburg 2008, S. 117.
4
Zur tatsächlichen Lage der Arbeiter und zur Stimmung im Volke siehe Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Bonn 2005, S. 49 ff., sowie ders.: Antworten auf meine Kritiker. In: Sozial. Geschichte, 21 (2006) l, S. 79-103, hier S. 95 ff. Vgl. auch Hans Mommsen: Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes. München 2000, S. 42.
5
Vgl. "Text des Vemehmungsprotokolls", in: Anton Hoch/Lothar Gruchmann: Georg Elser: Der Attentäter aus dem Volke. Der Anschlag auf Hitler im Münchner Bürgerbräu 1939, Frankfurt am Main 1980, S. 98 f.
6
Georg-Elser-Arbeitskreis (Hrsg.): Georg Elser. Gegen Hitler - gegen den Krieg! Heidenheim 1989, S. 119.
7
Martin Rees: Unsere letzte Stunde. Warum die moderne Naturwissenschaft das Überleben der Menschheit bedroht. München 2003, S. 72.