Die Bombe im Bürgerbräukeller

Der Anschlag auf Hitler vom 8. November 1939 / Versuch einer moralischen Bewertung des Attentäters Johann Georg Elser

Von Lothar Fritze


Erinnerung an ein Attentat vor sechzig Jahren: Am 8. November 1939 explodierte im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengkörper, der Adolf Hitler töten sollte. Der Anschlag misslang, doch acht Menschen starben unter den Trümmern. Johann Georg Elser war der Attentäter. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin widmete ihm im vergangenen Jahr eine Ausstellung. Der Ehre zuviel, meint im folgenden Beitrag der Wissenschaftler Lothar Fritze, der zu dem Thema seine Antrittsvorlesung als Privatdozent der TU Chemnitz hielt. Wir dokumentieren eine vom Autor gekürzte Fassung seines Vortrags. Die Langfassung erscheint im Jahrbuch Extremismus & Demokratie (Band 12/2000), das Uwe Backes und Eckhard Jesse herausgeben.

Am 8. November 1939 explodierte im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengkörper, der Adolf Hitler töten sollte. Getötet wurde aber nicht Hitler - dieser hatte 13 Minuten zuvor den Raum verlassen. Stattdessen starben acht Menschen, die nicht getötet werden sollten, 63 wurden verletzt, davon 16 schwer; einige behielten Dauerschäden.

Die Sprengladung hatte der Attentäter in einer tragenden Säule des Veranstaltungssaales deponiert, in dem Hitler eine Rede hielt. Der Attentäter war Johann Georg Elser. Die - zweifellos couragierte - Tat dieses Mannes, für die er im April 1945 umgebracht wurde, gilt heute als bewundernswert. Die Würdigungen, die der Person sowie der Tat zuteil geworden sind, haben Elser in die Ehrengalerie des Deutschen Widerstandes aufrücken lassen. Sein Handeln wird damit nicht nur im Grundsätzlichen positiv bewertet, sondern gewinnt Vorbildcharakter.

An dem Vorgang verwundert zunächst, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Mann geehrt wird, obwohl er den Tod von acht Menschen schuldhaft verursacht hat. Diesbezügliche Bedenken sind in der öffentlichen Diskussion kaum wahrnehmbar, selbst Rechtfertigungsargumentationen scheinen für überflüssig gehalten zu werden. Es sei seine Absicht gewesen, einen drohenden Weltkrieg zu verhindern - wodurch eine immense Zahl von Menschen hätte gerettet werden können. Auf Grund dieser Absicht gilt der Täter offenbar als exkulpiert.

I

Um ein moralisches Urteil über die Tat Elsers zu gewinnen, ist zunächst zu fragen. ob man Hitler töten durfte. Die Antwort auf diese Frage hängt unter anderem von der Antwort auf die (allgemeinere) Frage ab, ob ein Verstoß gegen das Tötungsverbot unter der Voraussetzung gerechtfertigt sein kann, dass es sich bei der betreffenden Person um einen Diktator oder "Tyrannen" handelt. Statt eine Diskussion über die Erlaubtheit des Tyrannenmordes aufzunehmen, unterstelle ich hier, dass ein solcher zum einen nicht grundsätzlich abzulehnen ist, zum anderen aber auch nicht unter beliebigen Bedingungen und bei beliebiger Tatausübung zustimmungsfähig sein kann. Im zu erörternden Fall gehe ich ausdrücklich davon aus, dass der Tyrann Hitler getötet werden durfte. Moralisch problematisch sind vor allem Attentate, bei denen Dritte zu Schaden kommen (also Personen, denen das Attentat nicht galt) oder zumindest damit gerechnet werden muss, dass Dritte zu Schaden kommen könnten. Um über die moralische Erlaubtheit eines derartigen Attentates befinden zu können, wäre zunächst zu erörtern, ob überhaupt Umstände denkbar sind, die einen Attentäter berechtigen, sich mit dem ernstlich für möglich gehaltenen Tod unbeteiligter Dritter abzufinden und diesen billigend in Kauf zu nehmen. Zu klären wäre etwa, unter welchen Voraussetzungen oder in welchem Maße die Tötungserlaubnis auch auf Gefolgsleute oder Sympathisanten des Tyrannen ausgedehnt werden darf. Im vorliegenden Fall kann diese Klärung unterbleiben, weil tatsächlich nicht nur so genannte "Alte Kämpfer" starben, sondern auch eine Aushilfskassiererin (Maria Henle), und weil mindestens eine weitere Angestellte (Maria StrobI) schwerste bleibende Verletzungen davontrug. Beide haben in jedem vernünftigen Sinne als unschuldig zu gelten - und von beiden kann nicht angenommen werden, dass sie die Tat nachträglich gebilligt hätten.

Ohnehin jedoch kann die Beurteilung einer Handlung nicht von der mutmaßlichen oder realen Im-Nachhinein-Zustimmung tatsächlich Betroffener abhängig gemacht werden. Moralische Fragen treten auf, bevor gehandelt wird. Die Frage, ob ein geplantes Handeln erlaubt oder gar geboten ist, hat sich derjenige zu stellen, welcher in der vorgestellten Weise zu handeln beabsichtigt. Aus diesem Grunde kann die moralische Beurteilung einer vollzogenen Handlung nur auf der Grundlage der Situation des Handelnden, hier also des Attentäters, erfolgen. Handlungen können nur gerechtfertigt werden auf der Basis von Wissen, das zum Zeitpunkt des Handlungsbeginns verfügbar war. Deshalb ist es für die Beurteilung ohne Belang, ob Betroffene der Tat im Nachhinein zustimmen. Hinzu kommt: Eine Handlung kann niemals allein dadurch gerechtfertigt sein, dass im Falle ihres Scheiterns das Übel, welches der Handelnde zu verhindern suchte, tatsächlich eintritt. Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Attentat auf Hitler ist gescheitert, und es sind nach dem Scheitern diejenigen Ereignisse eingetreten, die Elser verhindern wollte. Dieser Umstand allein spricht noch nicht für die Berechtigung der Tat. Zu klären wäre, ob derjenige, der bestimmte Ereignisse voraussagt, für diese Voraussage auch gute Gründe hatte. Bestanden für die Prognose keine guten Gründe, kann aus den tatsächlich eingetretenen Ereignissen keine moralische Berechtigung der Tat abgeleitet werden.

II

Um zu einer moralisch vertretbaren Beurteilung zu gelangen, müssen wir den Standpunkt des jeweils Handelnden gedanklich zurückgewinnen und entscheiden, (A) ob es im Allgemeinen, das heißt in jeder relevant ähnlichen Situation, erlaubt ist, so vorzugehen wie vorgegangen wurde, und (B) ob speziell der bestimmte Handelnde (Elser) so vorgehen durfte wie er vorgegangen ist. Zur Beantwortung der Frage (A) ist die verfügbare Informationsbasis zu prüfen, und es werden alternative Handlungsmöglichkeiten zu eruieren und Wahrscheinlichkeiten der Zielverwirklichung abzuschätzen sein. Zur Beantwortung der Frage (B) ist speziell das Wissen und Können sowie die Charakterstruktur des Handelnden, also des Attentäters Elser, dahingehend zu beurteilen, ob er davon ausgehen durfte, dass es ihm (mit seinen spezifischen Handlungsvoraussetzungen: Fähigkeiten, Kenntnissen etc.) erlaubt sei, so zu handeln.

Die tatsächlich eingetretenen Folgen einer Handlung sind lediglich insofern relevant, als sie einen Anhaltspunkt für die Beantwortung der zu klärenden Frage bieten können, mit welchen möglichen Folgen der Handelnde rechnen musste. Ob jemand eine geplante Handlung für erlaubt oder unerlaubt hält, hängt entscheidend davon ab, welche Folgen er erwartet und welche er schlimmstenfalls für möglich hält. Die Beurteilung einer Handlungsweise muss sich daher auch auf die Beurteilung der Qualität des Handlungsentschlusses stützen - zum Beispiel mit welcher Akribie der Täter die notwendige Folgenabschätzung betrieben hat. Elser jedenfalls durfte nicht davon ausgehen, dass sich unter den potenziellen Opfern ausschließlich Sympathisanten oder Gefolgsleute Hitlers befinden werden. Auf der alljährlich stattfindenden Veranstaltung versammelten sich zwar Parteigänger Hitlers, der Saal allerdings fasste etwa zweitausend Personen; es spielte der Gaumusikzug München-Oberbayern und es bestand Gaststättenbetrieb. Wer bereit ist, in einer solchen Örtlichkeit die Saaldecke zum Einsturz zu bringen und damit Verwüstungen großen Ausmaßes anzurichten, kann nicht davon ausgehen, dass Unschuldige schon nicht betroffen sein werden. Zwar ist durchaus anzunehmen, dass Elser aus seinen Gesprächen mit Angehörigen des Personals wusste, dass nur vor und nach der Rede Hitlers bedient wird. Nichtsdestoweniger musste er angesichts der intensiven und zugleich diffusen Wirkungsweise der Sprengung damit rechnen, dass es auch Unschuldige treffen könnte - Personen, deren Lebens- und Unversehrtheitsinteresse nicht genauso unbeachtet bleiben kann wie das des Tyrannen und seiner unmittelbaren Gefolgsleute. Tatsächlich hatten in der Nähe der Rednerkanzel auch Angehörige der Opfer des Hitler-Putsches von 1923 Platz genommen.

Sodann ist festzuhalten, dass die Elsersche Handlung einem Situationstyp angehört, bei dem im Vorhinein unbekannt ist, welche konkreten Personen es treffen wird. Elser hat nicht nur den Tod von Menschen, von denen er im Voraus wusste, dass sie anwesend sein werden, in Kauf genommen, sondern ebenso von solchen, über deren Anwesenheit er nicht informiert sein konnte. Damit wäre auch eine - prinzipiell denkbare - Im-Vorhinein-Zustimmung der eventuell Betroffenen nicht möglich gewesen. Die Maxime seiner Handlung schließt also ein, die Opferung unschuldiger und unbekannter Dritter bewusst hinnehmen zu wollen.

III

Einer Handlung zustimmen heißt, der Regel zustimmen, der die Handlung gefolgt ist, heißt, den Handlungstyp akzeptieren, unter den sie subsumierbar ist. Die Handlung Elsers hatte die Folge, dass im Vorhinein unbekannte und unschuldige Dritte getötet wurden; ihr Handlungstyp schließt ein, dass solche Personen getötet werden können, ja mit hoher Wahrscheinlichkeit getötet werden. Für die Beurteilung der Tat Elsers ist es daher irrelevant, dass tatsächlich unschuldige Dritte zu Schaden gekommen sind. Auch wenn niemand zu Schaden gekommen wäre, wäre das Urteil dasselbe.

Das moralische Urteil ergibt sich vielmehr aus der Beantwortung folgender Frage: Könnte man dem Grundsatz (G) zustimmen, dass es in einer vergleichbaren Gefahr, wie sie Elser im Falle Hitlers sah, jemandem, der diese Gefahr sieht, erlaubt ist, den Tyrannen zu töten, auch wenn dabei - im Voraus unbekannte - Dritte mitgetötet werden können, die nicht zu den Gefolgsleuten des Tyrannen gehören? Wer einem solchen Grundsatz zustimmt, erklärt damit, dass er bereit ist, das Risiko auf sich zu nehmen, dass es auch ihn treffen könnte.

Der Grundsatz (G) hätte sich genau dann als universalisierbar erwiesen, wenn alle potenziell Betroffenen, deren Interessen zu berücksichtigen sind, sich vernünftigerweise bereiterklären könnten, die Folgen und Nebenwirkungen zu tragen, die aus seiner allgemeinen Befolgung sich vermutlich ergeben würden. Eine Universalisierbarkeit von (G) ist zweifellos an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Die Tötung des Tyrannen muss der Abwehr einer immensen Gefahr dienen; das Vorgehen muss mit einiger Sicherheit erfolgreich sein; die Ziele des Attentats hinsichtlich der Neuordnung der politischen Verhältnisse müssen sich im Prinzip realisieren lassen und es darf keine andere Möglichkeit zur Gefahrenabwehr bestehen, die mit niedrigeren "Kosten", aber vergleichbarer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt. Diese Voraussetzungen für die Rechtfertigung eines Tyrannenmordes stellen zugleich Ansprüche an die Qualität der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Attentäters sowie an die Art und Weise der Tatausübung. Ob (G) universalisierbar ist, halte ich für eine offene Frage. Eine Universalisierbarkeit, das heißt, die vernünftigerweise zu unterstellende Akzeptanz dieses Grundsatzes durch alle potenziell Betroffenen, dürfte überhaupt nur bei einer hinreichend strengen Interpretation der letzten Voraussetzung in Frage kommen - nämlich der Voraussetzung, dass keine bessere Möglichkeit zur Gefahrenabwehr bestehen darf. Diese Voraussetzung wird kaum nur dahingehend zu verstehen sein, dass der Attentäter lediglich die mildeste Form der Attentatsausführung zu wählen habe. Anzunehmen ist vielmehr, dass viele der potenziell Mitbetroffenen ihre Zustimmung zu (G) davon abhängig machen, dass ein Attentäter bereit sein muss, sich notfalls selbst zu opfern, wenn es dadurch möglich wird, die Tötung unbeteiligter Dritter zu vermeiden oder deren Zahl zu minimieren.

Ein Attentäter jedenfalls ist nicht berechtigt, von einer anderen Annahme auszugehen. Das heißt umgekehrt, dass die Tötung Unbeteiligter überhaupt nur dann erlaubt sein könnte, wenn keinerlei reale Möglichkeit besteht, die Tat so auszuführen, dass Unbeteiligte verschont werden.

Die Forderung, uns (als Täter) notfalls selbst zu opfern, wenn es dadurch möglich wird, Unbeteiligte zu schonen, ergibt sich daraus, dass wir nicht begründen können, warum es uns erlaubt sein sollte, das, was wir nicht auch und zuallererst uns selbst zumuten, anderen Menschen zuzumuten.

Daraus folgt, dass wir bereit sein müssen, ein mindestens gleich großes Risiko zu tragen wie dasjenige, welches zu tragen wir anderen ungefragt aufbürden. Steht es aber in unserer Macht, das Risiko für Unschuldige zu minimieren, indem wir selbst ein größeres Risiko eingehen, dann ist es moralische Pflicht, selbst das notwendige Risiko zu tragen, welches um der Zielerreichung willen nicht ausschaltbar ist.

Erst die Übernahme dieses Risikos durch den Täter wird Dritte von der Redlichkeit und Ernsthaftigkeit überzeugen, mit der er an die Bedeutung seiner Tat glaubt - eine notwendige Voraussetzung, dieser Tat zustimmen oder sie nachträglich gutheißen zu können. Dass Elser bei den Vorbereitungshandlungen selbst ein großes Risiko eingegangen ist, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung.

IV

In seiner isolierten Situation, in der er nicht die Möglichkeit hatte, die Erlaubtheit seines geplanten Vorgehens im Gespräch mit den potenziell Betroffenen zu erörtern, musste sich Elser nun fragen, ob er an Stelle der anderen seinem Attentatsplan zustimmen könnte. Dazu musste er prüfen, ob er tatsächlich überzeugt ist und ob tatsächlich hinreichend gute Gründe für seine Überzeugung sprechen, dass die zur Universalisierung von (G) notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind.

Wir wollen zu seinen Gunsten annehmen, dass er sich dieser Prüfung mit dem Ergebnis unterzogen hat, die Frage nach dem Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen bejahen zu dürfen. Diese Reflexion hätte ihm allerdings nun klar machen müssen, dass er auch bereit sein muss, sich notfalls selbst zu opfern - nämlich dann, wenn es dadurch möglich wird, das Leben unbeteiligter Dritter zu schonen.

Elser hingegen löste die Sprengung mit einem Zeitzünder aus, den er am Tag zuvor das letzte Mal überprüfte. Der Entschluss, die Sprengung zu einem zuvor fixierten Zeitpunkt auszulösen, beruhte auf der Annahme, die Veranstaltung werde sowohl in ihrer Besetzung als auch in ihrem zeitlichen Ablauf dem bis dahin üblichen Muster folgen. Bereits hierbei handelte es sich um eine Unterstellung, die - Deutschland befand sich im Krieg - als "risikoreich" zu kennzeichnen ist. Ich vermute, dass die meisten der potenziell Betroffenen eines solchen Vorgehens das Eingehen eines derartigen Risikos für unerlaubt halten. Der Attentäter jedoch hatte sich nicht nur im Voraus auf einen bestimmten Zeitpunkt festgelegt, sondern hat darüber hinaus noch vor der Detonation versucht, sich über die grüne Grenze in die Schweiz abzusetzen. Damit hatte er - in dem tatsächlich eingetretenen Fall, dass sich Hitler zur Zeit der Explosion gar nicht am Tatort befand und daher nur Personen betroffen sein konnten, auf welche die Tat nicht abzielte - keine Möglichkeit mehr, den Tatablauf zu kontrollieren und das Geschehen zu verhindern.

Gerade für den Fall, dass erkennbar wird, das Attentat werde sein Ziel verfehlen, wäre es seine Pflicht gewesen, den Geschehensablauf zu unterbrechen - auch wenn er sich dabei, etwa durch Selbstanzeige, hätte opfern müssen. Das Mindeste, was in einer solchen Situation vom Attentäter erwartet werden darf, ist, dass er Bombenalarm gibt und damit, soweit es an ihm liegt, für eine Evakuierung des Saales sorgt.

Dies wäre vermutlich auch dann möglich gewesen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, sich während der Veranstaltung im Saal aufzuhalten. Jedenfalls konnte Elser unmöglich im Vorhinein wissen, dass im hier beschriebenen Fall keinerlei Möglichkeit bestehen werde, die Katastrophe noch abzuwenden. Die Akribie, mit der Elser seine Tat vorbereitete, erschöpfte sich jedoch in der technisch-handwerklichen Seite der Angelegenheit. An die Möglichkeit, dass sich die Veranstaltungsregie ändern könnte, scheint er nicht gedacht zu haben. So war ihm auch die öffentliche Ankündigung vom 6. November entgangen - vermutlich wegen seines mangelnden Interesses an politischen Tagesereignissen -, anstelle von Hitler werde Rudolf Heß sprechen. Hitler hatte sich erst am Abend zuvor kurzfristig entschlossen, doch an der Traditionsfeier teilzunehmen.

V

Mithin: Entgegen dem ersten Anschein ist es, um zumindest zu einer Teil-Beurteilung der Tat von Elser zu gelangen, nicht notwendig, die Frage zu entscheiden, ob es moralisch erlaubt war, den Tod unbeteiligter Dritter hinzunehmen mit dem Ziel, Hitler zu beseitigen. Da Elser gegen Grundsätze verstoßen hat, die auch für den Fall gelten, dass man die Hinnahme einer Tötung Unbeteiligter für gerechtfertigt halten sollte, ist ein Urteil möglich, ohne diese Frage abschließend zu beantworten. Ein solches Urteil hat maßgeblich die Tatausführung sowie die Qualität der Willensbildung des Täters zu bewerten. Es fällt im Falle Elsers negativ aus.

Begründung: Angenommen, wir halten es für erlaubt, den Anschlag auch dann auszuführen, wenn dabei der Tod unbeteiligter Dritter hingenommen werden muss, durfte man den Anschlag nicht in der Art und Weise durchführen, wie dies Elser getan hat. Die Vorgehensweise von Elser ist selbst für den Fall nicht akzeptabel, dass die von Elser gewählte Attentatstechnik (Zeitzünderbombe mit einer nicht auf die Zielperson begrenzbaren Tötungswirkung in einem dicht besetzten Saal) als die am wenigsten opferträchtige und sicherste gelten darf, um die Tötung Hitlers unter den gegebenen Umständen zu verwirklichen. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass sich Elser, indem er nicht am Tatort oder wenigstens in der Nähe war, von vornherein jeder Chance begeben hat, das Geschehen für den Fall zu unterbrechen, dass das Zielobjekt sich zum Zeitpunkt der Detonation gar nicht am Ort befand. In einem solchen Fall ist es moralische Pflicht, alles zu tun, um eine Tötung unschuldiger Dritter abzuwenden - auch wenn es notwendig wird, sich dazu selbst zu opfern.

Neben der Verurteilung der Art und Weise, in der die Attentatstechnik zum Einsatz gebracht wurde, lassen sich weitere Argumente anführen, die zumindest dafür sprechen, dass er nicht gelobt bzw. seine Tat nicht rundum akzeptiert werden kann.

VI

Die bisherigen Überlegungen gelten für den Fall, dass die Art des Attentates als die am wenigsten opferträchtigste gelten darf. Davon kann aber - unter der Voraussetzung, dass das Attentat primär Hitler gegolten hat - keine Rede sein. Elser hat mit seiner Bombe die Deckenkonstruktion des Saales teilweise zum Einsturz gebracht. Ihm musste klar gewesen sein, dass es mit dieser Attentatstechnik unmöglich ist, zielgenau nur wenige Personen oder eine bestimmte Person zu töten. Es war daher seine Pflicht, nach einer Methode Ausschau zu halten, die treffgenauer und auch sicherer zum Erfolg führt. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass der Attentäter andere Techniken ernsthaft erwogen hat. Da diesbezügliche Überlegungen aus Elsers Entscheidungsprozess nicht bekannt sind, ist der denkbare Vorwurf, er habe leichtfertig eine opferträchtige Attentatstechnik gewählt, nicht auszuschließen. Selbst dann aber, wenn man nicht grundsätzlich ausschließen möchte, dass ein einzelner moralisch berechtigt sein könnte, einen Tyrannen zu töten und dabei den Tod oder die Verletzung unbeteiligter Dritter billigend in Kauf zu nehmen, kann es bei der Akzeptanz eines entsprechenden Grundsatzes niemals um einen Blankoscheck für jeden gehen, der eine hinreichend große Gefahr heraufziehen sieht.

Die mögliche Zustimmung zu (G) ist zweifellos daran gebunden, dass die Erkenntnis der Gefahr auf einer sachkundigen Einsicht beruht. Die eventuell Betroffenen werden gewisse Anforderungen an die Kenntnisse, die geistige Verfassung und den charakterlichen Zuschnitt eines potenziellen Attentäters stellen, wenn sie ihm denn eine eigenmächtige Entscheidung zubilligen sollen. Konnte aber ein Durchschnittsbürger nach dem Münchener Abkommen im Herbst 1938 (als Elser mit Vorbereitungen bereits begonnen hatte) begründet mutmaßen, dass ein Krieg, für den Hitler verantwortlich sein wird, "unvermeidlich" sei? Dies erscheint durchaus fraglich - vor allem, wenn es sich um jemanden handelt, der - so die Selbstauskunft Elsers - wenig Ahnung von der nationalsozialistischen Ideologie hatte, der sich offenbar niemals mit einschlägigen Büchern oder Zeitschriften beschäftigte und sich mit politischen Fragen nie eingehend gefasst hat.

Diese Sachverhalte lassen durchaus Rückschlüsse auf die Qualität seiner Überzeugungs- und Willensbildung zu und begründen den Verdacht, dass der Täter seine politische Beurteilungskompetenz überschritten hat. Handelt es sich zudem um einen Mann, der als "eigensinnig und rechthaberisch" beschrieben wird und in bestimmten Fällen "unerbittlich und allzu konsequent" wirkte (Anton Hoch), dann fällt es schwer, Elsers Entscheidung als Resultat einer kenntnisreichen, sachorientierten und nüchternen politisch-moralischen Kalkulation zu begreifen, der dann eine mutige und von Fanatismus freie Tat gefolgt wäre.

Diese Charakterisierungen Elsers mag man außer Acht lassen und nicht zur Beurteilung der Tat heranziehen: Auch dann jedoch bleibt eine erhebliche Unsicherheit, welches der Elserschen Motive für die Tat letztlich ausschlaggebend war. Elsers gegnerische Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus datierte von vor 1933 und speiste sich maßgeblich aus der Auffassung, die Verhältnisse für die Arbeiterschaft hätten sich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten verschlechtert.

VII

Zusammenfassung: Wir haben mit Elser einen Täter vor uns, der (so wollen wir ihm zugute halten) in guter Absicht und in Verfolgung eines (so hatten wir unterstellt) akzeptablen Zieles in einer mitleid- und gedankenlosen Weise zu einer Methode griff, bei der der Tod unbeteiligter Dritter von vornherein einkalkuliert war. Ohne nach Alternativen Ausschau zu halten (so ist zu vermuten), hat er eine Strategie gewählt, bei welcher der Tod Unbeteiligter sogar für den Fall billigend in Kauf genommen werden musste, dass sich das Zielobjekt, die Person Hitlers, zum Zeitpunkt des Attentats gar nicht am Ort befand. Dieses Vorgehen ist nicht zu rechtfertigen.

Da es dem Täter bei Erfüllung seiner Pflicht zum gehörigen Nachdenken möglich, gewesen wäre, die Untragbarkeit seines geplanten Vorgehens zu erkennen, sein Fehlverhalten also vermeidbar war, ist ihm ein moralisches Versagen vorzuwerfen. Der Umstand, dass sowohl die Wahrhaftigkeit der Angaben Elsers über seine Motivation als auch die Dignität seiner Auffassungen über das nationalsozialistische Regime bestimmten Zweifeln unterliegen, muss nicht berücksichtigt werden, um dieses Urteil zu gewinnen. Ebenso kann unberücksichtigt bleiben, dass wohl kaum einer von uns bereit wäre, einer Person von der Kompetenz Elsers die Berechtigung zuzubilligen, Gefahren, die sie sieht, auf eine Weise abzuwehren, die uns notfalls in den Tod schickt. Berücksichtigt man den Umstand, dass unser Wissen über die Person Elsers, speziell auch über seine Absichten und Überlegungen, durchaus unsicher und lückenhaft ist, so ist es im Sinne einer optimalen Verteidigung Elsers geboten, personenbezogene Argumente nicht oder nur sehr bedingt zur (zusätzlichen) Negativbeurteilung seiner Handlungsweise anzuführen. Allerdings müsste jede durch und durch positive Beurteilung Elsers zuvor auch mit diesen Argumenten aufgeräumt haben. Deutungsunsicherheiten dürfen zwar nicht zu Lasten der zu beurteilenden Person gehen, sie limitieren aber die Möglichkeit, Personen oder \/orgehensweisen als vorbildhaft darzustellen.

Nach Abwägung der wesentlichen Gesichtspunkte bleibt nur das Urteil übrig, dass es sich bei dem Anschlag von Elser um eine Tat gehandelt hat, deren Ausführungsweise moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Auch die überragende Bedeutung eines Zieles kann die Beurteilung der Tatausführung unter moralischer Gesichtspunkten nicht als kleinlich und beckmesserisch erscheinen lassen. Dieser Ansicht nachzugeben hieße, das moralische Problem zu leugnen, das mit der Tötung von Menschen verbunden ist. Die Folge wäre eine Legitimierung von Leichtfertigkeit, Unbedachtsamkeit und Mitleidlosigkeit - sofern sich die Täter nur aufmachen, ein besonders hehres und großartiges Ziel zu erreichen.

Quelle: Frankfurter Rundschau 8.11.1999 - www.frankfurter-rundschau.de


Lothar Fritze: Legitimer Widerstand? Der Fall Elser