Was Immanuel Kant zum Hitler-Attentat Elsers gesagt haben würde...
Mathias Brodkorb MdL
Vor 10 Jahren veröffentlichte der Wissenschaftler Lothar Fritze vom Dresdner "Hannah-Arendt-Institut
für Totalitarismusforschung" (HAIT) in der "Frankfurter Rundschau" umstrittene Thesen zum Hitler-Attentat
Georg Elsers im Jahr 1939. Fritze sprach Elser insbesondere ab, seine Tat auf moralisch zu
rechtfertigende Weise durchgeführt zu haben. Diese These stieß auf eine breite moralische Empörung,
obwohl Fritze ausgerechnet einen anerkannten Philosophen wie Immanuel Kant zu seinen Unterstützern rechnen könnte.VON MATHIAS BRODKORB
Genau dies dürfte auch Fritzes Kernproblem gewesen sein – ein Umstand, auf den Manfred Hättich im
Jahr 2000 im "Jahrbuch für Extremismus und Demokratie" ausdrücklich hingewiesen hat:
"Da Fritze eine moralphilosophische Analyse vornimmt, müssten sich eigentlich vor allem Philosophen angesprochen
fühlen. Von dieser Seite gibt es aber bislang wenig Echo. Vielen Kritikern muss man Unverständnis für die
moralphilosophische Fragestellung konstatieren." Dass dieses harte Urteil dabei keineswegs an den
Haaren herbeigezogen ist, belegt immerhin die Tatsache, dass Peter Steinbach und Johannes Tuchel Fritze
noch im Jahre 2008 vorwarfen, eine bloß "scholastische Konstruktion, jenseits von Zeit und Raum"
ersonnen zu haben.
Dass sie mit diesem Geschmacksurteil gleich die vielleicht wichtigste moralphilosophische
Institution der gesamten Aufklärungsphilosophie, nämlich den Kategorischen Imperativ Kants, mit einem
bloß rhetorischen Effekt vom Tisch räumen, scheint ihnen – und dies ist bemerkenswert genug – nicht
einmal bewusst zu sein. Vielmehr wird die Debatte vielfach noch immer nach einer wahrhaft simplen Logik
geführt, auf deren Funktionieren im liberalen Feuilleton bis heute vertraut werden kann:
"Hitler ist böse. Wer gegen Hitler ist, ist gut." Doch manchmal ist das direkte Gegenteil
vom Bösen eben doch nicht ganz das Gute.
Fritze stützte seine Argumentation seinerzeit im Wesentlichen auf zwei Thesen:
Erstens sei Elser im Jahr 1939 als "Durchschnittsbürger" gar nicht in der Lage gewesen
abzuschätzen, was Hitler später alles anrichten würde. Das stellt zwar nicht die Erkennbarkeit von Hitlers
Plänen schon im Jahr 1939 in Frage, wohl aber, dass Elser überhaupt über die nötige "politische
Beurteilungskompetenz" verfügte. Allerdings vermag diese Argumentation Fritzes am Ende kaum zu
überzeugen. Mit ihr werden nicht nur zumindest diskussionswürdige Bestimmungen über die grundsätzlichen
Beteiligungsrechte einzelner Menschen an der Gesellschaft zugrunde gelegt, sondern diese These
verbleibt notwendig völlig im Bereich der Spekulation.
Zweitens, und dies ist – ohne dass Fritze auch nur eine Sekunde die Legitimität des Tyrannenmordes
im Falle Hitlers in Frage gestellt hatte – die entscheidende Frage: Mit welchem Recht führte Elser
das Bombenattentat, um selbst nicht am Ort des Geschehens sein zu müssen, mittels Zeitzünder durch und setzte
stattdessen das Leben Unschuldiger auf’s Spiel, aber nicht sein eigenes? Zur Entwicklung dieses
Gedankengangs konnte Fritze auf gewichtige philosophische Unterstützung zählen, ließ den uninformierten
Leser hierüber jedoch im Unklaren.
Er baute argumentativ auf das Universalisierungspostulat,
das auf keinen geringeren als den Philosophen Immanuel Kant zurückgeht. Kant ging in seinem Werk
"Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) bekanntermaßen der Frage nach, wann eine
Handlung als moralisch gut gelten könne. Seine Antwort: Wenn sie dem kategorischen Imperativ aus
Pflicht folgt. Dieser gebietet, eine Handlung nur dann auszuführen, wenn die ihr zugrunde liegende
Willensmaxime ein Gesetz für alle vernünftigen Lebewesen sein könne. In seiner berühmtesten Fassung
lautet der Imperativ: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst,
dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Handlungsmaximen, die diesen Universalisierungstest
nicht überstehen, können folglich nicht moralisch gut sein. Genau auf diese Weise argumentiert auch
Fritze, der Elsers Handlungsmotiv in der Sache wie folgt als Maxime reformuliert: Es ist zulässig,
zur Abwehr einer großen Gefahr einen Tyrannen auch dann zu töten, wenn dabei unschuldige Dritte umkommen.
Sofern dieser Maxime zugestimmt wird, sie also allgemeines Gesetz werden könnte, ergibt
sich das Problem, dass Elser als unschuldiger Dritter hätte selbst bereit sein müssen, sein
Leben auf’s Spiel zu setzen – z.B. durch Anwesenheit vor Ort oder durch ein zielgerichtetes
Pistolenattentat.
Elser ging es jedoch nicht nur um eine moralische Tat, also um eine Tat aus
Pflicht. Gleichzeitig war er trotz aller mit dem Attentat verbundenen Risiken überwiegend darum
bemüht, sein eigenes Leben zu retten. Menschen haben als vernünftige Lebewesen nach Kant zwar
die Pflicht, ihr eigenes "Leben zu erhalten", allerdings gilt ihm ein solches Handeln
nur als moralisch gut, wenn sich das Bemühen um die eigene Selbsterhaltung auch wirklich aus
Pflicht speist.
Im Falle Elsers darf dies allerdings als unwahrscheinlich gelten, seine Handlungsweise
müsste vielmehr als aus Neigung motiviert interpretiert werden – was bei Kant das glatte Gegenteil
einer moralischen Handlung darstellt. Anders wäre es ja nicht zu erklären, dass Elser frühzeitig
die Flucht in Richtung Schweiz angetreten hatte und selbst nicht beim Attentat anwesend war. Seine
nicht unberechtigten, aber selbstbezogenen Motive nach Selbsterhaltung waren somit am Ende stärker
als seine moralische Absicht, Hitler zu stoppen.
Fritze hat, soweit er Kant folgt, somit völlig Recht,
wenn er die moralische Qualität der Tat Elsers zumindest im Hinblick auf die Art der Durchführung
in Zweifel zieht.
All’ jene, die nun empört über Fritzes These sind, Elser hätte eigentlich sein eigenes Leben
riskieren müssen, um wahrhaft moralisch zu handeln, begeben sich jedoch nicht nur in Konflikt
mit der Aufklärungsphilosophie Immanuel Kants, sondern schnurstracks auch mit den wesentlichen
Bestimmungen des Grundgesetzes. Zur Illustration dieser These möge das Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes vom 15. Februar 2006 herhalten. Seinerzeit erklärte das höchste deutsche
Gericht den § 14 (3) des Luftsicherheitsgesetzes für grundgesetzwidrig und damit für nichtig.
Der Bundestag hatte im Rahmen der Anti-Terrormaßnahmen nach den Anschlägen des 11. September dem
Bundesverteidigungsminister bekanntermaßen das Recht eingeräumt, im Falle einer Flugzeugentführung
das Flugzeug abschießen zu lassen, sofern dieses von den Entführern als Terrorwaffe eingesetzt
werden solle. Das Bundesverfassungsgericht sah hierin einen eklatanten Verstoß gegen Art.
1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Zur Herleitung des Urteils führten die
Verfassungsrichter noch einmal kurz die Konsequenzen der Unantastbarkeit der Menschenwürde
für das staatliche Handeln aus:
Das menschliche Leben sei die "vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip
und oberstem Verfassungswert" und somit unantastbar. Demnach sei es unzulässig, "den Menschen
zum bloßen Objekt des Staates zu machen. Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen
durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich
in Frage stellt (...) ."
Indem nun allerdings der Staat beabsichtige, zu Waffen umfunktionierte
Flugzeuge zur Vermeidung eines größeren Übels abzuschießen und dabei den Tod unschuldiger Passagiere
und Besatzungsmitglieder ohne deren ausdrückliche Einwilligung hinnehme, mache er diese zu bloßen Objekten
und verletze so deren unbedingte Würde: "Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als
Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur
Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats
wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert
abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt."
Mit anderen Worten: Das Bundesverfassungsgericht hält es für nicht mit unserer Verfassung vereinbar,
unschuldige Dritte zur Abwehr eines noch größeren Übels zu opfern, weil dies der Menschenwürde der
davon Betroffenen widerspräche. Menschenleben erscheinen vor diesem Hintergrund als nicht gegeneinander
aufrechenbar. Die dabei in Anwendung gebrachten moralphilosophischen Begriffe stammen vollständig aus
der Kantischen Ethik.
Er war es, der alle vernünftige Lebewesen als "Personen" ansprach,
denen aufgrund ihrer Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung unbedingt und unverwirkbar "Würde"
zukomme. Und es war ebenfalls Kant, der aus dieser Konstruktion die Forderung ableitete, dass jedes
vernünftige Wesen "sich selbst und alle anderen niemals bloss als Mittel, sondern jederzeit
zugleich als Zweck an sich selbst", also nie nur als Objekt, sondern stets auch als Subjekt
mit unbedingten Rechten behandeln müsse.
Angewendet auf den "Fall Elser" hat Fritze somit ausgesprochen gute Karten, sofern
die Kantische Ethik als Basis eines Bewertungssystems akzeptiert wird. Denn Elser tat genau dies:
die Teilnehmer der Veranstaltung vom 8. November 1939 zu bloßen Objekten seines Handelns zu degradieren und
ihren Tod ohne Einwilligung in Kauf zu nehmen. Nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichtes –
und es ist hier auf der Ebene der moralischen Rechtfertigung völlig unerheblich, dass in dem einen
Fall eine einzelne Person und in dem anderen ein Staat handelt – unternahm er hiermit einen
direkten und moralisch unzulässigen Angriff auf ihre Menschenwürde.
Es gibt daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder man weist Fritzes insbesondere moralphilosophisch
fundierten Erwägungen als unberechtigt und falsch zurück. Wer dies tut, begibt sich allerdings
unvermeidlich in Gegnerschaft zum ethischen Kern unseres Grundgesetzes, der zu erheblichen Teilen letztlich
der Kantischen Ethik entspringt. Oder aber man stimmt Fritzes Thesen zu, begibt sich damit aber
wiederum in einen Widerspruch – diesmal allerdings zu den von Fritze gemachten Voraussetzungen selbst.
Denn dass der Tyrannenmord gegen Hitler überhaupt legitim sei, wurde von Fritze nicht einmal
diskutiert: "Im zu erörternden Fall gehe ich ausdrücklich davon aus, dass der Tyrann Hitler
getötet werden durfte." (Lothar Fritze)
Tatsächlich lehnt Kant den Tyrannenmord aber kategorisch ab. Hierzu äußert er sich mehr als eindeutig
in der im Jahre 1797 erschienenen Schrift "Metaphysik der Sitten". Dort heißt es:
"Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt es (...) keinen rechtmäßigen Widerstand
des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemeingesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher
Zustand möglich; also kein Recht des Aufstandes (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio),
am allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (Monarch) unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner
Gewalt (tyrannis) Vergreifung an seiner Person, ja an seinem Leben (monarchomachismus sub specie
tyrannicidii). Der geringste Versuch hiezu ist Hochverrath (proditio eminens), und der Verräther
dieser Art kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht (parricida), nicht minder als mit
dem Tode bestraft werden." Auch im Falle eines repräsentativen politischen Systems machte Kant
dabei vom Widerstandsverbot keine Ausnahme.
Mit anderen Worten: Nach Kant, auf dessen moralphilosophische Erwägungen wir große Teile unserer
Verfassung stützen, wäre Georg Elser kein Held, sondern ein zum Tode zu verurteilender Hochverräter.
Freilich wird man zugestehen müssen, dass Kant nicht mit historischen Figuren wie Hitler gerechnet haben
dürfte. Er stellt dabei die Legitimität des Tyrannenmordes auch gar nicht mit dem Hinweis auf die
unbedingte Würde eines jeden Menschen – also auch des Tyrannen – in Frage, sondern mit Blick auf die
Gesetzeswidrigkeit des Widerstands gegen den Staat. Schließlich hält Kant selbst die Todesstrafe für
ein legitimes Mittel des Strafrechts.
Dies alles wirft ohne Zweifel erhebliche Fragen über die
innere Kohärenz der Kantischen Ethik auf, denen an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachgegangen werden kann.
Wenn überhaupt wäre mit Fritze daher wissenschaftlich über die Frage nach der Legitimität des
Tyrannenmordes innerhalb der Kantischen Ethik sowie deren innere Kohärenz zu diskutieren. Man muss
dabei allerdings in Rechnung stellen, dass eben dies eigentlich die Aufgabe praktischer Philosophen wäre,
die bis heute nicht selten ein merkwürdiges Desinteresse an der gesellschaftlich relevanten Anwendung
philosophischer Theorien bezeugen. Das mag daran liegen, dass dieses Geschäft voller intellektueller
Tretminen ist – eine Tatsache, die auch Fritze schmerzhaft erfahren musste.
Einer dieser Sprengkörper ist dabei eben die Tatsache, dass dieser Tage wieder einmal vorbehaltlos
ein Mann als "deutscher Held" gefeiert wird – so geschehen bei Berthold Seewald in der
"Welt" –, den man nicht einmal nach den ethischen und rechtsphilosophischen Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts unbekümmert als Helden feiern dürfte. Andernfalls müsste man nämlich auch dafür
sein, den Abschuss von gekidnappten Flugzeugen im Notfall für richtig zu halten. Eine andere Möglichkeit
gibt es nicht.
Elser nicht vorbehaltlos zu einem moralisch hochstehenden Helden zu stilisieren, darf allerdings auch
nicht mit dem Plädoyer für das Gegenteil verwechselt werden: Die Tatsache, dass die Ausführung des
Attentates moralische Probleme aufweist, führt nicht dazu, Elsers Handeln als unmoralisch einzustufen.
Dazu genügt schon der Blick auf die Zahllosen, die am 8. November 1939 nicht einmal daran gedacht haben,
Hitler aus dem Weg zu räumen oder dem nationalsozialistischen Terrorregime den Gehorsam zu verweigern.
Wer daher zwischen mehr als nur "schwarz" und "weiß" sowie "gut"
und "böse" differenzieren kann und vor allem will, wird in den Thesen Lothar Fritzes keine
moralische Beschädigung des Ansehens Georg Elsers, sondern historisch wie moralphilosophisch berechtigte
Fragen erblicken, die man auch ganz anderen Widerständlern stellen könnte und die vor allem eines
dokumentieren: wie verwickelt und tragisch menschliches Leben ist – immer!
Ein vorschnelles und
allzu überhebliches Urteil über Elser zu fällen, verbietet daher vor allem auch die ebenso berechtigte
Frage, was man denn selbst an jenem 8. November 1939 getan hätte, wenn man an Ort und Stelle gewesen wäre.
Die Rede von der "Gnade der späten Geburt" (Helmut Kohl) zieht aus diesem Umstand ihre
Berechtigung – eine Berechtigung, die man nur in Zweifel ziehen kann, wenn man den fundamentalen Unterschied
zwischen dem historischen Ernstfall und der behaglichen Wohnstubenatmosphäre heutiger Wohlstandsgesellschaften
ignoriert.
Quelle: Endstation Rechts 11.11.2009
Endstation Rechts ist ein Projekt der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD Mecklenburg-Vorpommern.
Der Author ist SPD-Abgeordneter des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender
und Sprecher der SPD-Landtagsfraktion für Hochschulpolitik und Politische Bildung.