Reaktionen in der Bevölkerung
Die allgemeine Stimmung in Deutschland wurde in den letzten Wochen naturgemäß von dem Attentat im Münchener Bürgerbräukeller beherrscht. Es ist nicht Aufgabe dieser Berichte, sich an dem Rätselraten darüber zu beteiligen, ob dieses Attentat von der Gestapo inszeniert oder von Gegnern Hitlers in seiner eigenen Partei versucht worden ist. Wir müssen uns darauf beschränken, die Stimmungen wiederzugeben, die das Attentat im Volke ausgelöst hat. Es sind darüber folgende Berichte eingegangen:
BERLIN, 1. Bericht: Das Attentat war eine größere Überraschung als der Russenpakt. Die Aufregung war geradezu ungeheuer. Die wildesten Gerüchte kursierten. Hitler sei selbst getötet worden, es sei gar nicht wahr, dass er bereits wieder in Berlin sei. Heß sei auch tot, Göring sei verschont geblieben, weil er nicht in München gewesen sei. Er habe sicher vorher gewusst, dass etwas losgehen sollte. Das Attentat sei von der Göringclique angestiftet worden. Es sei von den Militärs gemacht worden und viele andere Dinge mehr. Es gab fast keinen Menschen, der nicht irgendwie von der Sache aufs tiefste aufgewühlt worden wäre. Wesentlich haben dazu die ausländischen Sender beigetragen, die vor allem in diesen Tagen sehr viel gehört wurden, insbesondere die englischen Sender.
Schließlich setzte sich aber auch in diesem Falle die amtliche Propaganda wieder durch. Einige Tage nach dem Attentat war die Meinung ziemlich weit verbreitet, dass das Attentat tatsächlich von den Engländern gemacht worden sei. Die amtliche deutsche Propaganda hatte dabei umso leichteres Spiel, als sonst niemand imstande war, eine auch nur annähernd plausible Erklärung für das Attentat zu finden. Ich machte dann eine Reise nach dem Ruhrgebiet. In dem außerordentlich stark besetzten Zug wurde, soweit überhaupt, eigentlich nur von diesem Attentat gesprochen. Es muss ganz objektiv gesagt werden, dass es keinen Menschen gab, der auch nur einen gewissen Zweifel daran hatte, dass es die Engländer gewesen seien. Ich unterhielt mich mit zwei Herren, davon einer ein uniformierter Nazi. Der Nazi war geradezu fanatisch aufgeregt und er prophezeite England, dass es jetzt erfahren werde, was deutsche Flugzeuge fertig bringen könnten. Jetzt solle man einmal sehen, was der deutsche Soldat könne.
Ich selber kann mir kein Bild machen. Ich habe selbst auch keine Erklärung für das Attentat. Nur soviel kann ich sagen: Es wird nicht lange dauern und diese Sache wird ihre Folgen zeitigen. Wer es auch gewesen sein kann, das deutsche Volk fragt sich: welche Kräfte stehen hinter diesem Attentat und welche Kräfte haben es fertiggebracht, Himmlers Gestapo zu täuschen bzw. ihr zu verheimlichen, dass die Sache losgehen würde? Ich kann mich ferner nicht zu der Auffassung bekennen, dass das Attentat so etwas wie ein zweiter Reichstagsbrand gewesen sein könnte. Immerhin möchte ich noch auf einen Gesichtspunkt aufmerksam machen: Hitler wurde schon oft zu einer Entscheidung gezwungen durch irgendwelche Gewaltakte. Ob nicht das unter Umständen eine Erklärung auch für dieses Attentat bieten könnte?
Das deutsche Volk ist mehr denn jemals im Ungewissen über die Zukunft. Es ist gegen den Krieg. Es wünscht, dass er im Westen nicht in voller Stärke entbrennen möge. Es ist aber absolut hilflos und hat keinen Einfluss auf die Entwicklung. Erst wenn ganz große Ereignisse in diesem Krieg eintreten, wird das Volk sich rühren. Vorläufig wartet es in dumpfer Ergebenheit ab.
2. Bericht: Als die Kunde vom Münchener Attentat kam, war es für den kleinen Mann nicht ganz einfach, sich zurechtzufinden. Es hagelte ein Regen von Gerüchten, Mutmaßungen, Verdächtigungen auf ihn herab, an die er bisher nicht im entferntesten gedacht hatte. Secret Service, Staatsfeinde, ja, gab es denn so etwas überhaupt noch im Dritten Reich? Und wenn der Engländer hier Bomben wirft, wie kommt er durch die Ketten der übermächtigen deutschen politischen Polizei? Was sind Staatsfeinde im geeinten Reich? Die deutsche Propaganda hat den kleinen Mann mit ihren schweren Geschützen schnell der Notwendigkeit der Beantwortung all dieser komplizierten Fragen enthoben. Dass sie sich so schnell durchsetzen konnte, lag vor allem an einem Umstand. Die Vorstellung von dem Boot, in dem alle sitzen, ist zu verbreitet und die Glaubwürdigkeit in die schon einmal erteilten Versprechen der Kriegsgegner ist zu nachhaltig erschüttert, als dass der besagte "kleine Mann" ein Verlangen danach haben könnte, die Bombe hätte ihre Wirkung tun sollen. Andererseits sagt man sich: Ein solcher Anschlag kann doch nie alle "Führer" auf einmal treffen und schon deshalb ist er sinnlos. Er hätte im günstigsten Falle als Folge lediglich eine innere Verwirrung und der Nutznießer wäre der Feind, der Krieg wäre verloren und das Elend wäre noch viel größer als nach Versailles; alle Anstrengungen seit 1933 wären nutzlos gewesen.
So kann man nur mit Staunen feststellen, ganz gleich wer die Bombe warf, den Erfolg ernten die Nazis. Die Hinweise der englischen Sender auf einen zweiten "Reichstagsbrand" sind nicht durchgedrungen. Es hat sowieso nur informatorisches Interesse, wer der Täter ist. Die politische Konsequenz des Bombenwurfes ist nach unseren allgemeinen Beobachtungen eine Stärkung der Entschlossenheit und wir erkennen dadurch einmal mehr, dass es nur eine Möglichkeit gibt, die Sachlage zu ändern: die überzeugende militärische Niederlage des Reiches.
RHEINLAND-WESTFALEN, 1. Bericht: Das Attentat in München hat die Bevölkerung sehr aufgewühlt. Niemand ist noch davon überzeugt, dass die Engländer die Urheber sind. Nur ist man sich nicht klar, ob die Sache von den Nazis selber angezettelt wurde, oder ob es ein "echtes" Attentat ist. Diese Unklarheit und Unsicherheit gibt zu den wildesten Gerüchten Anlass. Mehr und mehr nimmt die Meinung zu, dass tatsächlich ein Attentat auf Hitler geplant war und dass es nur einem Zufall zu verdanken ist, wenn er mit dem Leben davon kam. Natürlich glauben tatsächlich viele an die "Vorsehung", die Hitler das Leben gerettet habe. Aber trotzdem werden alle von einem Gefühl beherrscht: Es ist was im Werden, das Kriegsabenteuer wird zu neuen Überraschungen auf innerpolitischem Gebiet führen.
Die Unruhe, die durch das Attentat ausgelöst wurde, ist verstärkt durch verschiedene Verhaftungen in allen Orten und unter allen ehemals führenden politischen Kreisen. Man spricht sogar davon, dass verschiedene SA-Leute verhaftet seien. Schließlich hat man erneut Rundfunkgeräte beschlagnahmt und oft werden die Besitzer solcher Geräte verhaftet. Dann wirft man ihnen meist vor, sie hätten ausländische Nachrichten im Gemeinschaftsempfang abgehört und weiterverbreitet.
2. Bericht: In der Bevölkerung, die in X. zurückgeblieben ist, hat das Attentat in München den stärksten Eindruck gemacht. Nur kann sich kaum jemand ein klares Bild von der Sache machen. Je länger das Geraune geht, umso weniger Licht kommt für das Volk in diese Angelegenheit. Nur wenige glauben wirklich an die Ergebnisse der amtlichen Untersuchung. Manche sagen sogar: "Zwanzig Minuten zu spät." Aber natürlich nur im allervertrautesten Kreise.
Man sucht das Volk von den eigentlichen Ursachen des Anschlags dadurch abzulenken, dass man die "Kriegshetzerclique" in Frankreich und England dafür verantwortlich macht. England habe immer mit dem Meuchelmord gearbeitet. Der Burengeneral de la Rey, der französische Arbeitervertreter Jean Jaures, König Feissal von Irak, Alexander von Jugoslawien, der irakische Generalstabschef Bekr Sedky, Calinescu, der irische Patriot Casement und wer weiß wer, seien alle von englischen Agenten ermordet worden. England habe die - Vernichtung Deutschlands zu seinem Ziele gemacht und da es wisse, dass es das nicht erreichen könne, solange Hitler lebe, so habe es jetzt seine Agenten beauftragt, ihn durch ein Attentat zu beseitigen.
Diese propagandistische Ausschlachtung des Attentats macht leider einen gewissen Eindruck auf die große Masse. Jedoch fragen sich viele bereits, wie es möglich sein konnte, dass englische Agenten bis in den Bürgerbräukeller vordringen konnten, ohne dass sie von der Gestapo gefasst wurden. Dann müsse die Gestapo doch wohl nicht so stark sein. So geht das Rätselraten im Volke um und schafft mehr und mehr eine Atmosphäre, bei der man jede Stunde auf neue Überraschungen gefasst ist.
3. Bericht (Aus einem Bergbaubetrieb): Das Münchener Attentat hat ungeheuere Aufregung verursacht. In den ersten Tagen gab es eine wahre Sturmflut von Gerüchten und es wurde heftig debattiert. Viele wollten in dem Attentat den Anfang von Hitlers Ende sehen und alle wurden schon recht frech und offen. Da erfolgten, zwei Tage nach dem Anschlag, viele Verhaftungen, zunächst von Juden, dann von politischen Gegnern des Systems. Sofort wurde es wieder stiller und die Leute wurden ängstlich.
Quelle: Exilvorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hrsg.), Deutschland-Berichte
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934-1940, Sechster Jahrgang 1939, Paris 1940