Ich musste sie nur finden
Hintergrundinformationen zu "Zieh' dich aus, Georg Elser!"Von Günter Peis, Journalist und Historiker
Günter Peis (1995) |
"... Unmittelbar nach seiner Rede vor den 'Alten Kämpfern' verließ der Führer München. Gleich nach seiner Abfahrt ereignete sich im Bürgerbräu-Keller eine Explosion. Von den noch im Saal anwesenden 'Alten Kämpfern' wurden 6 getötet und 63 verletzt. Zur Feststellung der Täter wurde eine Belohnung von 50.000 Reichsmark ausgesetzt. Die Spuren der Täter führen ins Ausland."
Innerhalb von 24 Stunden waren rund tausend Verdächtige von der Gestapo verhaftet worden. Der Bombenleger von München, ein gewisser Georg Elser, wurde von deutschen Zöllnern in Konstanz festgenommen, als er gerade über die Schweizer Grenze fliehen wollte. Gleichzeitig liefen die angeblichen "Drahtzieher" des Attentats, zwei britische Secret Service-Offiziere, an der deutsch-holländischen Grenze bei Venlo - von Mittelsmännern getäuscht - in die SS-Falle von Alfred Naujocks.
Die beiden Engländer, Captain Payne Best und Major Stevens, wurden unmittelbar nach ihrer gewaltsamen Entführung aus dem neutralen Holland in der berüchtigten Berliner Prinz Albrecht-Straße eingesperrt, vernommen und für die Ermittlungsakte "Attentat im Bürgerbräu" fotografiert. Wenig später sah man bereits die Bilder mit ihren verdutzten Gesichtern neben dem Polizeifoto von Georg Elser auf den Titelseiten der Zeitungen. Sie und Elser - so wurde in den NS-Gazetten behauptet - hätten bei ihren Vernehmungen inzwischen eingestanden, am Münchner Bombenanschlag beteiligt gewesen zu sein. Mit der offiziellen Ankündigung, die drei Verhafteten demnächst vor ein Volksgericht zu stellen, verschwanden die "ruchlosen Verbrecher" für den Rest des Krieges in deutschen Gefängniszellen - und damit aus den Schlagzeilen der Weltpresse.
Im Handumdrehen wurde damals das Münchner Bombendesaster vom Propaganda-Ministerium zu politischen Pluspunkten umgemünzt: "Die göttliche Vorsehung", so hieß es, hätte "schützend ihre Hand über das Haupt unseres Führers gehalten." Eine geheimnisvolle Stimme - die angeblich nur er hören konnte - hätte ihn, den Auserwählten wie von Engeln beschirmt - zwölf Minuten vor der Katastrophe aus dem Bürgerbräu-Saal geleitet...
Durch diese "gütige Fügung des Schicksals" war in den Augen des Volkes Hitler zu einer Art Schoßkind des Himmels geworden, zum "unsterblichen Führer", der - wie es die NS-Propaganda in unsere kindlichen Gehirne trommelte - auf dieser Welt noch einen göttlichen Auftrag zu erfüllen hätte!
Für mich, als damals 12jährigen Jungen, klang die Mär von der gottgewollten Rettung des Führers durchaus glaubhaft: Denn selbst der Päpstliche Nuntius Orsenigo hatte - an der Spitze des diplomatischen Korps - Hitler für seine "wunderbare Rettung" die Segenswünsche des Vatikans übermittelt.
Sechs Jahre nach dem Münchner Altentat war ich siebzehn. Da erlebte ich inmitten von 60.000 ausgehungerten Mitgefangenen die Katastrophe, in die uns unser "Führer" hineingeführt hatte. In dieser trostlosen Situation quälten mich tausend Fragen, auf die mir keiner eine Antwort geben konnte: War der Krieg, der unzählige Menschenleben vernichtete, notwendig? Wem sollte er nützen? Hätte der wahnsinnige Massenmord verhindert werden können? Von wem?
Bei diesen Gedanken kam mir plötzlich wieder das Bild Georg Elsers in den Sinn. Ich dachte zurück an jenen kurzen Moment in der Geschichte des Jahres 1939, als dieser mysteriöse kleine Mann aus Schwaben unser aller Schicksal in seinen feinnervigen Händen hielt...
Als ich - auf dem Ackerboden des US-Gefangenenlagers Bad Hersfeld liegend - als Siebzehnjähriger damals die Vergangenheit an mir vorbeiziehen ließ, hatte das Schattenbild Georg Elsers plötzlich deutliche Konturen angenommen: Wer war er wirklich, dieser obskure Tischler und Tüftler? Warum hatte er sein Ziel verfehlt?
Das Rätsel um Georg Elser - überhaupt alles, was mit dem Beginn und mit den Ursachen des II. Weltkrieges zusammenhing - hatte mir keine Ruhe mehr gelassen. Dieser Wissensdurst führte mich von der Gefangenschaft direkt zum Journalismus - und schließlich dorthin, wo im grellen Licht der Weltöffentlichkeit die Vergangenheit des Dritten Reiches in allen Einzelheiten ausgebreitet wurde - im Großen Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes. Und hier hörte ich abermals vom Bürgerbräu-Attentat, das mich zu Beginn des Krieges als Zwölfjährigen so tief beeindruckt hatte. 1946 las ich den ersten Bericht eines Zeitzeugen, der im Konzentrationslager Dachau angeblich Zellennachbar von Georg Elser war. Dieser Mann, so dachte ich, würde bestimmt die reine Wahrheit sagen. Denn dieser Zeuge war ein kirchlicher Würdenträger: Pastor Niemöller. Und was er damals über das Münchener Attentat schrieb und öffentlich verkündete, war für mich niederschmetternd. Er sagte, dass die "schützende Hand" über dem Haupt Adolf Hitlers nichts weiter als ein plumper Propagandatrick der Nazis gewesen sei. Hitler selbst hätte diesen Anschlag auf sich inszenieren lassen, um damit dem deutschen Volk und der Welt seine "Gottessendung" vorzugaukeln... Bis dahin hatte ich blind geglaubt, die Engländer wären die Drahtzieher des Anschlages gewesen. Aber jetzt musste ich das pure Gegenteil von dem hören, was man uns im Dritten Reich eingebleut hatte: Hitler höchstpersönlich hätte das blutige Theaterstück inszeniert!
Zum erstenmal in meinem Leben war ich skeptisch geworden. Was sollte ich nun wirklich glauben - das eine oder das andere? Ich war im Dritten Reich zu oft belogen worden. Deshalb habe ich aufgehört zu "glauben". Ich glaubte nichts mehr ohne Beweise, ohne Fakten, die ich mit eigenen Augen und Ohren prüfen konnte...
Die Nachkriegsversion der Elser-Story wurde von den namhaftesten Historikern der Welt (Prof. Alan Bullok, Jaques Delarue, Prof. Gerhard Ritter, Prof. Hans Rothenfels u.a.) in allen Variationen derart intensiv verbreitet, dass sie sich sogar bis in die Geschichtsbücher unserer Kinder fortpflanzte.
Die beinahe lachhafte Geschichte, wie sie mit dem Flair akademischer Unfehlbarkeil von Chronisten in unzähligen Artikeln und Büchern unkritisch wiedergekäut wurde, begann mit Georg Elser - als politischer Häftling im KZ Dachau. Schon Ende der Dreißigerjahre wäre er angeblich dort eingesperrt worden. Er sei ein ausgezeichneter Tischler und Tüftler gewesen. Elektromechanische Probleme löste er in genialer Weise...
Deshalb wurde Elser angeblich 1939 zum "Mann der Stunde". Die Gestapo - so steht es in unzähligen Geschichtsbüchern - zog ihren schwäbischen Häftling per Handschlag ins Vertrauen: Wenn Georg Elser für sie als Strohmann agieren und eine Bombe in der Trägersäule des Bürgerbräu-Saales installieren würde, wäre er für immer ein freier Mann. Er könne in die neutrale Schweiz reisen - und dort unbehelligt und in Frieden seinen Lebensabend beschließen... Elser stimmte angeblich diesem generösen Gestapo-Angebot zu, bastelte seine Bombe und mauerte sie schließlich unter Aufsicht seiner SS-Bewacher in die angezeigte Säule. Dann stellte er den Zeitzündermechanismus auf 21.20 Uhr ein - und verabschiedete sich von den "freundlichen Gestapoleuten" für seine Reise in die Schweiz. Hitler - so kombinierten jene einfältigen Geschichtsschreiber weiter - hätte dann natürlich pünktlich, zwölf Minuten vor der Explosion, den Saal verlassen... Zur gleichen Zeit wurde Elser - von der Gestapo getäuscht und geprellt - prompt an der Schweizer Grenze festgenommen... Nach diesem - wie mir scheint - schlechtgemachten Krimi verschwand Georg Elser für immer in der Versenkung.
Die Tatsachen um das Münchner Attentat wurden durch solche Geschichten natürlich noch mehr verwickelt in einem wirren Knäuel von Dichtung, Halbwahrheiten, Ausflüchten, Lügen und Entschuldigungen. Da beschloss ich, den Dingen als Reporter auf den Grund zu gehen:
War Elser tatsächlich ein willenloses Werkzeug in den Händen der Gestapo?
War er tatsächlich ein von den Engländern gedungener Bombenleger? Oder war er tatsächlich ein verwegener Einzelgänger, ein Widerstandskämpfer. ein Held? Viele Beteiligten, die meine Fragen hätten beantworten können. mussten noch leben. Sie spazierten täglich durch irgendwelche Straßen in irgendwelchen Städten. Ich musste sie nur finden. Das war das ganze Problem...
Quelle: Lothar Höbelt, Günter Peis - Journalist und Historiker, 'Fact-Finder' der Zeitgeschichte, in: Das Fenster Heft 59 S. 5691 ff, Innsbruck 1995