Georg Elsers Attentat im Lichte des legalisierten Widerstandsrechts
Zur Eröffnung der Georg-Elser-Woche am 13. Januar 2003 in BremenVon Prof. Dr. Jutta Limbach
Keiner der Attentäter, die Hitlers Leben gewaltsam beenden wollten, ist so missachtet und unterschätzt worden
wie Georg Elser. Gewiss ist nicht nur der Tat dieses Einzelgängers, sondern auch dem im Staatsstreich vom 20. Juli
1944 gipfelnden Widerstand lange Zeit der Respekt versagt geblieben. Noch nach dem Kriege gab es Stimmen, die
jenes Aufbegehren als Landesverrat werteten. Und noch heute wird darüber geklagt, dass die Opfer des 20. Juli
kaum ein Echo in den Herzen unseres Volkes finden (Bodo Scheurig).
Doch unsere heutige Vorstellung vom Widerstand wird weitgehend von dem Staatsstreich des 20. Juli 1944 geprägt.
Joachim Fest hat den langen Weg zum 20. Juli beeindruckend geschildert und analysiert. Georg Elsers Anschlag
im Münchener Bürgerbräu ist ihm allerdings nur in der Zeittafel am Ende seines Buches unter dem
8.11.1939 der kurzen Erwähnung wert: "Missglücktes Attentat des Einzelgängers Georg Elser
auf Hitler in München." Die Aufmerksamkeit konzentriert sich - auch in seinem Buche - auf das Tun und
Lassen der gesellschaftlichen Elite.
Sowohl den Gefolgsleuten als auch den Feinden Hitlers erschien es offenbar undenkbar, dass sich ein einfacher Mann
aus dem Volke zu einer solchen Tat aufraffen und - völlig auf sich gestellt - das Todeswerkzeug konstruieren
und installieren konnte. Unbegreiflich erschien und erscheint vor allem, dass ein aus einfachsten Verhältnissen
stammender Handwerksgeselle die Gefahr erkannte, die die Herrschaft Hitlers für den Weltfrieden bedeutete.
Der unersättliche Expansionsdrang Hitlers war sein erklärter Beweggrund zur Tat. Diese Voraussicht
künftigen Unheils beschämte offenbar - man möchte fast sagen; kränkte - all jene, die den
verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus angeblich nicht oder zu spät erkannt haben. Hier liegt
meines Erachtens der tiefere Grund dafür, dass Elsers Anschlag auf Hitler gern vergessen, auf angebliche
Hintermänner zurückgeführt oder aber als unmoralisch disqualifiziert wird. Denn Elsers
Feinnervigkeit und Entschlusskraft stellen die Glaubwürdigkeit und den Verantwortungssinn vieler seiner
Zeitgenossen in Frage.
Manfred Haushofer hat dieses Versagen in einem seiner Moabiter Sonette bewegend thematisiert:
"ich musste", so heißt es in der zweiten Strophe,
"früher meine Pflicht erkennen,
ich musste schärfer Unheil Unheil nennen -
mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt..."
Der Widerstand in den Jahren 1933 bis 1945 war nicht nur Sache einer gesellschaftlichen Elite. Auch wenn die Flugblattaktion der "Weißen Rose" und die Umsturzversuche der Männer aus der Politik und dem Militär vorzugsweise das öffentliche Interesse finden. Auch und gerade unter einer menschenverachtenden Herrschaft kommt es auf das Verhalten der Menschen an der Basis an. Das im Jahre 1968 im Grundgesetz legalisierte Widerstandsrecht steht denn auch jedem Deutschen zu. Dort heißt es:
"Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." (Art. 20 Abs. IV GG.)
Mit der angegriffenen Ordnung ist die bundesrepublikanische gemeint. Wir können Elsers Tat daher nicht direkt unter das Grundgesetz subsumieren wollen. Aber wir können sie durchaus vor dem Hintergrund dieser Verfassungsnorm zu beurteilen versuchen. Übrigens kennt auch die Verfassung von Bremen ein Widerstandsrecht. Laut Art. 19 ist Widerstand jedermanns Recht und Pflicht, wenn die in der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden. Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes ist im Zusammenhang der Notstandsregelung in die Verfassung aufgenommen worden. Es war gewissermaßen als liberaler Ausgleich für die damals überaus umstrittenen Freiheitsbeschränkungen für den Notstandsfall gedacht; gleichsam, so Isensee, als "liberales Zubrot" zur "autoritären Peitsche". 1 Der symbolische Gehalt dieses Individualrechts ist unbestritten. 2 Denn das Widerstandsrecht hat seinen Gefechtsstand in Zeiten eines Unrechtsregimes. Im freiheitlichen Rechtsstaat dürften andere Abhilfen möglich sein.
Anders im Jahre 1939, als Georg Elser zur Tat schritt: Angesichts der akuten Gefährdung des Friedens und der Menschenrechte war ein Widerstandsfall gegeben. Am 1. September desselben Jahres waren die deutschen Truppen in Polen eingefallen. In den Konzentrationslagern und Gestapokellern wurden schon seit einigen Jahren systematisch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheitsrechte verletzt. Andere Mittel der Abhilfe standen nicht zur Verfügung. Die Insassen der Konzentrationslager und von der Gestapo Verhafteten konnten sich nicht an die Behörden wenden. Weder die Polizei noch die Gerichte boten ihnen Rechtsschutz gegenüber dem mörderischen Naziregime. Georg Elser durfte in der Überzeugung handeln, dass ihm ein Widerstandsrecht zustehe.
Die Frage ist allerdings die, ob er es richtig ausgeübt/wahrgenommen hat. Über die Ausführungsweise des Widerstandsrechts sagt das Grundgesetz kein Wort. Als verstände sich von selbst, was mit Widerstand gemeint sei. Auf die Frage "Was ist Widerstand?" hat Adolf Arndt geantwortet, dass alles zum Widerstand wird, wodurch ein Mensch sich dem Verlangen eines Unrechtsregimes auf Gehorsam entzieht. Diese Definition zielt insbesondere auf den Widerstand durch Ungehorsam, wie etwa die Fahnenflucht oder das Gewähren von Unterschlupf für Juden. Die "Skala der Deutungen" - was wir unter Widerstand zu begreifen haben - reicht von der seelischen Ablehnung über den Ungehorsam bis zur brutalen Gewalt. Widerstand, so Isensee, ist Bruch des staatlichen Herrschaftsmonopols. 3
Es ist die besondere Tragik des Widerstandskämpfers, dass er das Risiko sowohl des Irrtums als auch des Scheiterns trägt. Er muss die Folgen der von ihm beabsichtigten Tat bedenken, auf dass er das Unheil für das Gemeinwesen nicht noch vergrößert. So Thomas von Aquin. Das gilt vor allem dann, wenn der Widerstand nicht nur die Verfassungsfeinde trifft, sondern - wie bei dem Attentat von Georg Elser - auch Dritte in Mitleidenschaft zieht. Der im Münchener Bürgerbräukeller explodierte Sprengkörper hat bekanntlich nicht Hitler, sondern acht Menschen getötet und 63 verletzt. Hitler hatte wegen der schlechten Wetterverhältnisse die Gaststätte bereits 13 Minuten zuvor verlassen.
Diese Folgen haben Lothar Fritze dazu geführt, Georg Elser ein moralisches Versagen vorzuwerfen und ihm die Rechtfertigung des Attentats abzusprechen. Seine Argumentation sei kurz skizziert: Ausdrücklich geht Fritze davon aus, dass der Tyrann Hitler getötet werden durfte. Moralisch problematisch sei das Attentat allerdings deshalb, weil Dritte zu Schaden gekommen seien, von denen mindestens zwei in jeder Hinsicht als unschuldig zu gelten hätten. Es handelte sich um Angestellte des Bürgerbräus, die inmitten der Alten Kämpfer servierten. Der das Attentat Planende müsse eine Folgenabschätzung vornehmen und diese an dem Verhältnismäßigkeitsprinzip messen. Bei der Folgenabwägung komme es nicht auf unser heutiges Wissen an. Vielmehr könne das in Frage stehende Attentat nur auf der Grundlage der Situation des Handelnden, insbesondere seiner geistigen Ausstattung und seines Wissens beantwortet werden. Der Autor erwähnt eigens die Elser verfügbare Informationsbasis, sein Wissen und Können sowie seine Charakterstruktur und stellt schließlich die Frage: "Konnte ... ein Durchschnittsbürger nach dem Münchener Abkommen im Herbst 1938 (als Elser mit den Vorbereitungen der Tat bereits begonnen hatte) begründet mutmaßen, dass ein Krieg, für den Hitler verantwortlich sein wird, 'unvermeidlich' sei? Dies erscheint", so Fritzes Antwort, "durchaus fraglich, vor allem wenn es sich um jemanden handelt, der - so die Selbstauskunft Elsers - wenig Ahnung von der nationalsozialistischen Ideologie hatte, der sich offenbar niemals mit einschlägigen Büchern oder Zeitschriften beschäftigte und sich mit politischen Fragen nie eingehend befasst hat. Diese Sachverhalte", so weiter Fritze, "lassen durchaus Rückschlüsse auf die Qualität seiner Überzeugungs- und Willensbildung zu und begründen den Verdacht, dass der Täter seine politische Beurteilungskompetenz überschritten hat." "Handelt es sich zu dem um einen Mann", so noch immer Fritzes Argumentation, "der als eigensinnig und rechthaberisch beschrieben wird und in bestimmten Fällen unerbittlich und allzu konsequent wirkte (Anton Hoch), dann fällt es schwer, Elsers Entscheidung als Resultat einer kenntnisreichen, sachorientierten und nüchtern politischmoralischen Kalkulation zu begreifen, der dann eine mutige und von Fanatismus freie Tat gefolgt wäre." Ende der von mir wortwörtlich wiedergegebenen Gedankengänge.
Diese führen den Autor zu dem Fazit, dass wir in Elser einen Täter vor uns hätten, der (das will ihm Fritze zu gute halten) in guter Absicht und in Verfolgung eines (das hatte Fritze unterstellt) akzeptablen Zieles in einer mitleid- und gedankenlosen Weise zu einer Methode griff, bei der der Tod unbeteiligter Dritter von vornherein einkalkuliert war. Ergo sei ihm ein moralisches Versagen vorzuwerfen. Fritze hätte die selbstkritischen Zeugnisse der späteren - ebenfalls gescheiterten - Widerstandskämpfer des 20. Juli mit ihren Selbstvorwürfen lesen sollen, dass sie zu spät ihre Pflicht erkannt hätten. Er hätte dann seinerseits erkannt, dass er uns als Gegenbild Elsers den "coolen" Idealtyp eines Attentäters gezeichnet hat, der vor lauter Skrupel gar nicht oder zu spät zur Tat schreiten würde. Offenbar hätte Elser erst den zweiten Bildungsweg absolvieren müssen, bevor er sich ein Urteil hätte erlauben und zur Tat schreiten dürfen. Doch geistige Schlichtheit in ideologischen Fragen und mangelndes Bücherstudium sind schwerlich geeignet, Elser ein erfahrenes Vermuten abzusprechen. Schließlich las er Tageszeitungen. In seiner zweiten Vernehmung durch die Gestapo hat er deutlich gemacht, dass ihn das Münchener Abkommen in hohem Maße beunruhigte. Er war sicher, dass es zum Krieg führen würde und Hitler sich weitere Länder einverleiben werde. 4
Sein Urteil teilten viele Zeitgenossen. Warum sollte Elser die Vertragstreue Hitlers nicht besser habe einschätzen können als Chamberlain? Wie häufig machen wir die Erfahrung, dass schlichte Menschen aus dem Volke über ein sichereres Urteil und Wertbewusstsein verfügen als diejenigen, die eine Menge Buchwissen in ihrem Hirn gespeichert haben.
Aber abgesehen von der sozialen Überheblichkeit mit der Fritze die Denkfähigkeit, das Wirklichkeitsbild und das sittliche Reflektionsvermögen Elsers in Frage stellt, überrascht die Wirklichkeitsfeme seines Verdikts über unseren Attentäter. Mit dem alleinigen Hinweis auf das im Jahre 1938 geschlossene Münchener Abkommen, meint Fritze, Elser ein begründetes Vermuten, dass der Krieg unvermeidbar sei, absprechen zu können. Der elf Monate darauffolgende Einfall in Polen bestätigte alsbald seine Gefahrendiagnose. Überdies hatten bereits Tausende von Menschen Deutschland verlassen, weil sie dem drohenden Unheil entgehen wollten. Tausende waren bereits in Konzentrationslager verschleppt worden oder hatten Bekanntschaft mit den Folterknechten der Gestapo gemacht. Sollte sich das Elser nicht mitgeteilt haben?
Fritze will doch nicht im Ernst von der nach dem Kriege vielfach behaupteten Unwissenheit von den nationalsozialistischen Verbrechen auf die Unrichtigkeit der von Elser angestellten Gefahrenanalyse schließen? Fritze hätte das von J.P. Stern analysierte Aktenbündel der Gestapo genauer studieren sollen, das zufällig das Kriegsende überdauert hat, und Auskünfte über den Täter und seine Motive gibt. J.P. Stern berichtet, dass Elser seinen Verhörern sagte, dass er "den Nationalsozialismus nicht habe beseitigen wollen". Wahr ist, so Stern, dass Elser Politik nie abstrakt, nie in "Ismen" verstanden habe. Aber er habe gespürt, dass sich die Bedingungen in Deutschland "nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung ändern ließen", womit er
Hitler, Göring und Goebbels meinte. Und dass er hoffte, "dass nach Beseitigung dieser 'Obersten' gemäßigtere Männer auftreten würden, die keine anderen Ländern erobern, sondern das Los der Arbeiterklasse verbessern würden". Zudem glaubte er, dass ein Attentat auf die "höchste Führung" "größeres Blutvergießen verhindern" würde. Offensichtlich hatte, so folgert J.P. Stern, Elser eine abergläubische Abneigung dagegen, Hitler beim Namen zu nennen. 5 Stern bezeichnet übrigens Georg Elser als einen Mann ohne Ideologie und den als den wahren Antagonisten Hitlers.
Lassen Sie mich noch auf einen Punkt der Auseinandersetzung Fritzes mit Elsers Attentat eingehen, der besondere Beachtung verdient. Ich meine die von ihm in den Vordergrund seiner Überlegungen gestellte Tötung und Verletzung unschuldiger Dritter, der beiden Angestellten des Bürgerbräus. Die Juristen sind zwar sich weitgehend einig, dass die Tötung des Verfassungsbrechers, des Tyrannen als "äußerstes Notrecht" gutzuheißen sei. 6 Doch schon bei dieser wie bei der folgenden Frage, ob Unbeteiligte in Mitleidenschaft gezogen werden dürfen, wird auf das auch in der Jurisprudenz zu beachtende Verhältnismäßigkeitsprinzip verwiesen. Prinzipiell dürfen Dritte - sog. Nicht-Störer - nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Obwohl, wie Isensee treffend deutlich macht, Widerstand wesenhaft die Durchbrechung der normalen Legalordnung ist. 7 Auch werden sich Eingriffe in die Rechte Unbeteiligter nicht gänzlich ausschließen lassen, wenn denn das Widerstandsrecht nicht auf dem Papier stehen soll. Dennoch darf das im Hinblick auf das Übermaßverbot nur in äußersten Grenzfällen geschehen. Nach der Ansicht des Bundesgerichtshofs ist es aber absolut verboten, das Leben Unbeteiligter zu verletzen. 8
Muss ich nicht aber die den beiden Kellnerinnen zugefügte Verletzung ihres Lebens und ihrer körperlichen Unversehrtheit gegenüber den unzähligen Opfern abwägen, die das von Elser vorausgesehene Blutvergießen mit sich brachte; von den - von Elser wohl nicht vorausgesehenen - Opfern des Holocaust abgesehen. Eine solche Gleichung oder Ungleichung, die uns angesichts der Millionen Opfer des 2. Weltkriegs zulässig zu sein scheint, darf uns jedoch nicht in der Einsicht irre machen, dass jeder Einzelne zählt. Darum sollten wir bei der Abwägung des Gewinns an Frieden gegenüber der Rechtseinbuße Einzelner sehr sorgfältig sein. Im Falle Georg Elsers haben wir jedoch
keine Anhaltspunkte dafür, dass er das Gute (hier das Vermeiden großen Blutvergießens) ohne Rücksicht auf die Folgen seines Attentats angestrebt hat. Allein die Tatsache seines Eigensinns und seiner Prinzipienfreudigkeit sprechen nicht dafür, dass er den Tod oder die Verletzung der Kellnerinnen leichtfertig in Kauf genommen hat. Im Gegenteil: Er ging davon aus, so teilt es Fritze selbst mit, dass während der Rede Hitlers nicht serviert werden - das Personal des Bürgerbräus also nicht zu Schaden kommen - würde. So scheint mir auch die Frage müßig, ob er - Elser - hätte vor Ort bleiben, zu seinem Selbstopfer hätte bereit sein müssen, um notfalls Schaden von anderen abwenden zu können.
Im Nachhinein ist man immer klüger. Wie viel Planungsfehler sind auch den Widerstandskämpfern des 20. Juli nachgewiesen worden. Hätte, so ist häufig gefragt worden, Claus von Stauffenberg die Aktentasche mit dem Explosivstoff nicht besser deponieren können? Wie viel Opfer - auch Unbeteiligter - wären vor der mörderischen Rache der Nazis verschont geblieben?
Nicht nur in dieser Frage des Scheiterns und der Folgenabwägung zeigen sich Gemeinsamkeiten zwischen dem Widerstand einer Elite und dem des kleinen Mannes. Zu recht verweist J.P. Stern auf das Fehlen jeglicher Unterstützung durch eine breitere Öffentlichkeit, wie sie etwa die Mitglieder der Resistance in Frankreich erfahren haben. Sowohl Georg Elser als auch alle anderen Attentäter lebten isoliert "in einem Meer von Feindseligkeit und Furcht". 9 Die Einsamkeit, der Verlust des Vertrauens und die fehlende gesellschaftliche Rückbindung in die Bevölkerung hinein, war denn auch das eigentliche Verhängnis nicht nur der Verschwörer des 20. Juli 1944. Joachim Fest spricht in seinem Buch "Staatsstreich" treffend von einem "Widerstand ohne Volk". 10 Im Nachhinein lässt sich auch leicht über die Passivität der Deutschen während der Jahre 1933 bis 1945 moralisieren. Der Terror des Nationalsozialismus ist eines der schaurigsten Lehrstücke der deutschen Geschichte. Hat er doch gezeigt, dass eine totalitäre Herrschaft nicht nur die Freiheit und Gleichheit zerstört. Mit dem Instrument der Angst untergräbt sie planvoll auch die gesellschaftliche Solidarität, ja die grundlegenden menschlichen Tugenden. Ist das ethische Vakuum, die sittliche Leere erreicht, erscheint jedes Aufbegehren gegen staatliche Willkür als ein abweichendes, ja kriminelles Verhalten. In einem solchen gesellschaftlichen Ausnahmezustand werden schließlich auch Menschen in verantwortlichen Positionen ohnmächtig. Das aktive Aufbegehren, der Ungehorsam und die Akte der Nächstenliebe der "kleinen Leute" sind dann ein Zeugnis für den im "unterdrückten Volk noch lebenden Willen zum Recht". Diese Akte der Auflehnung boten moralische Gegenbilder zu dem angstbeherrschten Opportunismus zu den Zeiten der Diktatur. Sie waren eine Absage an die Vorstellung einer Ordnung, die die Individuen nicht achtet und nur um ihrer selbst willen da ist. 11
Nur sehr allmählich hat sich - mit dem Wandel von einer Untertanen- zur einer Staatsbürgerkultur - in der Bundesrepublik ein Umdenken angebahnt. Seit den neunziger Jahren etwa sind wir dabei, nicht nur dem "kleinen" Widerstand, sondern auch dem aufbegehrenden Mann aus dem Volke wie Georg Elser Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mit der Elser-Woche anlässlich des 100. Geburtstags von Georg Elser gibt die Stadt Bremen ein Signal: Sie ermahnt uns alle, unsere staatsbürgerlichen Rechte aktiv wahrzunehmen und durch unseren Widerspruchsgeist Eingriffe in Verfassungsrechte abzuwehren. Auf dass wir staatlichen Machtmissbrauch nicht erst dann abzuwehren versuchen, wenn es zu spät ist. Das ist das Vermächtnis von Menschen, die wie Georg Elser gegen das nationalsozialistische Regime aufbegehrt haben. Die Bereitschaft zu steter Wachsamkeit. Diese ist der Preis der Freiheit und einer zivilen Gesellschaft.
1
Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Eine staatsrechtliche Analyse des Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz, 1969, S. 7 f.
2
R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Art. 20 IV Rn. 4.
3
Isensee, a.a.O. Fn. 1, S. 59-61.
4
Vgl. die Auswertung der Vemehmungsprotokolle der Gestapo durch J.P. Stern, Hitler - Der Führer und das Volk, S. 134.
5
So berichtet J.P. Stern aus den Vernehmungsprotokollen der Gestapo, a.a.O., S. 135.
6
Vgl. Isensee, a.a.O., Fn. 1, S. 64, Anm. 135.
7
Vgl. Isensee, a.a.O., Fn. 1, S. 69, 87.
8
BGH, in: JZ 1959, 770 (771).
9
Stern, a.a.O., S. 129.
10
Fest, a.a.O., S. 337-339.
11
Adolf Arndt, a.a.O., S. 433.
Quelle: Jutta Limbach, Georg Elsers Attentat im Lichte des legalisierten Widerstandsrechts, Bremen 2003
Prof. Dr. Jutta Limbach war von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und ist heute Präsidentin des Goethe-Instituts Inter Nationes.