Von Prof. Dr. Manfred Hättich, Politikwissenschaftler
Die Frage nach der Legitimität der von Lothar Fritze entwickelten Fragestellung muss auf Anhieb als Frage nach wissenschaftlicher Legitimität verstanden werden. Ein Teil der veröffentlichten Reaktionen liest sich so, als habe Fritze etwa "Unerlaubtes" getan. Aber der Begriff Legitimität ist auf Wissenschaft nicht sinnvoll anwendbar? Eine wissenschaftliche Untersuchung ist entweder richtig oder falsch, widerlegbar oder mit wissenschaftlichen Kriterien nicht angreifbar. Rechtmäßigkeit ist kein wissenschaftliches Kriterium.
Gewaltsamer Widerstand unterliegt Kriterien der Legitimität. An wissenschaftliche Untersuchung desselben kann dieses Maß nicht angelegt werden. Ob gewaltsamer Widerstand gegen unrechtmäßige Gewaltherrschaft moralisch zu rechtfertigen ist, wird in der Moralphilosophie seit eh und je diskutiert. Eine solche Diskussion kann nicht einem moralischen Verdikt unterworfen sein, indem man a priori jede Antwort auf die Frage oder schon die Frage selbst für amoralisch erklärt. Das kommt einem Diskussions- bzw. Frageverbot gleich, wofür es in der Wissenschaft keine Rechtfertigung gibt. Für ein im Differenzieren nicht zureichend trainiertes Denken können in unserem Falle Irritationen entstehen, weil der Gegenstand der wissenschaftlichen Frage ein ethisches Problem ist.
Wenn der Abhandlung von Lothar Fritze eine verwerfliche revisionistische Intention unterstellt wird, dann ist das ein Eigentor der Empörten, weil die Verweigerung oder die bewusste Unterlassung der Frage zwecks Wahrung eines Tabus natürlich selbst in hohem Maße interessengeleitet ist. Der Revisionismusvorwurf ist ein Mittel der Tabuisierung, die als Waffe aus dem Arsenal der political correctness hinlänglich bekannt ist. Geschichtsdeutung ist immer revisionsfähig und auf Revisionsbedürftigkeit hin zu überprüfen. Jede menschliche Handlung ist ein compositum mixtum. Es gibt die in einem totalen Sinne ausschließlich moralisch gute Handlung nicht. Schon deshalb ist es moralphilosophisch sinnvoll, auch nach ethisch problematischen Aspekten einer in der Substanz moralisch akzeptierten Handlung zu fragen.
Gegenüber gesellschaftlichen Tabuisierungen haben die Wissenschaften Aufklärungsfunktionen. In diesem Kontext stellt sich dann auch die Frage der Sozialverträglichkeit von Aufklärung. Der Aufklärer hat die möglichen sozialen Wirkungen (und Nebenwirkungen) der Tabuzerstörung zu bedenken. Insofern sind sozialmoralische Kriterien auch an solche Aktionen anzulegen. Das gilt vor allem, wenn man wie Fritze innerhalb eines Systems rigoroser Prinzipienethik argumentiert.
Die Selbstverpflichtung gegenüber Wahrheiten kann in Spannung geraten zur Verunsicherung von Bevölkerungen oder Gruppen. Da kann es dann von Bedeutung sein, dass die Publikation in einer Tageszeitung erfolgt, weil der gründlichen wissenschaftlichen Fachdiskussion verbreitete Publizität nicht ohne weiteres bekommt. Man könnte in unserem Falle dieses Problem wohl vernachlässigen, weil die Tat Elsers vermutlich keine sonderliche Verbreitung mit hohem Stellenwert im allgemeinen Bewusstsein mehr genießt, und weil deshalb der Aufsatz von Fritze kaum auf ein verbreitetes, viele Menschen bewegendes Problembewusstein trifft. Dem scheinen die relativ heftigen Reaktionen in anderen Tageszeitungen zu widersprechen. Das besagt zunächst aber nur, dass Zeithistoriker und Journalisten an dem diskutierten Problem interessiert sind. Darunter scheinen manche aber auch nicht am Problem selbst interessiert zu sein, sondern eher daran, wieder einmal einen Autor mit Hilfe eines ihrem Bewusstsein implantierten "Links-Rechts-Schema" diffamieren zu können.
Fritze hebt allerdings hervor, dass einer Klärung des Falles ein öffentliches Interesse gebührt, weil die Personen des Widerstandes in den totalitären Diktaturen heute in der politischen Bildung als Vorbilder fungieren. Seine Kernthese, dass das Vorgehen von Elser aus moralphilosophischer Sicht nicht vollinhaltlich und in jeder Hinsicht vorbildlich genannt werden kann, dürfte kaum zu widerlegen sein. Eine andere Frage ist die, inwieweit die in äußerst gründlichen, abwägenden und mit logischer Stringenz durchgeführte Begründung von breitem öffentlichen Interesse ist. Für in wissenschaftlicher Lektüre ungeübte Leser sind die akribischen und kasuistisch präsentierten Ableitungen vielleicht schon deshalb nicht ganz überzeugend, weil sie zu anstrengend erscheinen.
Da Fritze eine moralphilosophische Analyse vornimmt, müssten sich eigentlich vor allem Philosophen angesprochen fühlen. Von dieser Seite gibt es aber bislang wenig Echo. Vielen Kritikern muss man Unverständnis für die moralphilosophische Fragestellung konstatieren. Man bezichtigt Fritze hurtig einer rechtslastigen revisionistischen Tendenz. Kaum jemand geht auf seine Hauptthese und deren Begründung ein. Die veröffentlichten Reaktionen sind von einem wissenschaftlichen oder auch nur ernsthaften Disput weit entfernt.
Wissenschaftliche Qualität kann der moralphilosophischen Analyse von Lothar Fritze allenfalls von jemandem abgesprochen werden, der von Philosophie nichts versteht, was für manche seiner in einem bornierten Scientismus befangenen Kritiker zutrifft. Oder man ist durch die eigene Fachsystematik so determiniert, dass man anderen Paradigmen hilflos gegenüber steht.
Man kann Fritze vorhalten, dass er mit einer wohl bei Kant trainierten Penetranz eine Entscheidungssituation mit Hilfe sozialphilosophischer Ethikprinzipien in einer weltfremd anmutenden Rigorosität analysiert und damit dem in solcher Situation stehenden Menschen nicht gerecht wird. Auch Kants kategorischer Imperativ wird ja nie rein verwirklicht - was sich ja eben aus seinem kategorischen Charakter ergibt.
Angesichts der Stringenz des Textes von Fritze kann man ihm keine gravierenden Widersprüche nachweisen. Eine andere Frage ist mit Blick auf die eben erwähnte Problematik, inwieweit der Autor sich im Widerspruch zur Realität befindet, weil diese selbst widersprüchlich ist. Die Art und Weise seines Vorgehens kann zu der Suggestion verführen, die menschliche Wirklichkeit solle und könne im moralischen Handeln stimmig gemacht werden. Dem steht die conditio humana entgegen. Dass Fritze die Gefahr sieht, geht aus einigen Stellen hervor. Die werden leicht übersehen wenn man sich in ideologischer Verblendung voreilig entschlossen hat, sich über das Resultat zu ärgern. Fritze geht es in seiner Wertung der Handlung Elsers primär um das Postulat der Vorbildhaftigkeit. Zwischen Vorbild und persönlicher Schuld ist zu unterscheiden. Elser hat den Tod Unschuldiger in Kauf genommen und Versuche, diesen zu verhindern, unterlassen. Fritze hat Recht mit der Behauptung, dass die Tat nicht in jeder Hinsicht moralisch einwandfrei war und nicht problemlos als vorbildhaft gelten kann.
Der Wahrheitsgehalt dieser These zwingt nicht zu der Behauptung, sie werde dem Handelnden in seiner Situation voll gerecht. Die gegenteilige Annahme ist richtig. Wer persönlich von der Notwendigkeit einer Handlung, bei der es um Leben und Tod (auch für einen selbst) geht, durchdrungen ist, kann sich leicht in einer Verstrickung der Vernachlässigung von Folgen verfangen. Es sind Millionen von Menschenleben geopfert worden, bis man den deutschen Tyrannen in seinen unrühmlichen Suizid getrieben hatte. Und wer als Gegner der Nazis davon überzeugt war, dass man den verhassten "Führer" nur durch den verlorenen Krieg wird loswerden, der wusste, dass zuvor noch mehr Menschen sterben müssen. Er hat im Geiste diese "Nebenwirkung" in Kauf genommen. Auch in diesem Falle des widerstandslosen Wunsches nach Beendigung der Tyrannei handelt es sich nicht um eine völlig problemlose, moralisch unbedingt einwandfreie Gesinnung. Gewalttätiger Widerstand ist moralisch immer ambivalent. Wer zum Beispiel in einer Diktatur zum Aufstand aufruft oder einen solchen anführt, muss damit rechnen, dass der Diktator die Rebellion mit Waffengewalt niederschlägt. Unabhängig vom gewollten Erfolg, nimmt er die Tötung anderer in Kauf, auch wenn diese nicht unmittelbar durch seine Handlung erfolgt.
Solche Analogieversuche sollen nur meine These über die moralische Ambivalenz von mit Gewalt verbundenen Handlungen unterstützen. Wer die Tötung von Menschen zum Beispiel einschließlich der Todesstrafe ablehnt, aber mit Fritze den Tyrannenmord grundsätzlich moralisch rechtfertigt, kann sich der moralischen Mehrdeutigkeit nicht ganz entziehen. Auch die Rechtfertigung des Tyrannenmordes gerät in Begründungszwang. Die Begründung, der Tyrann verdiene den Tod, reicht nicht aus. Tragfähiger ist der Schutz seiner potentiellen Opfer. Um dieses Schutzes willen nimmt man eine in sich moralisch schlechte Handlung, nämlich die Tötung eines Menschen, in Kauf. Damit soll wiederum nur angedeutet werden, dass man unter Anwendung der rigorosen Argumentation unseres Autors auch schon auf seiner eigenen prinzipiellen Ebene in ein moralisches Dilemma gerät.
Die Schwäche der Argumentation von Fritze rührt von ihrer Stärke. Indem man moralische Defekte einer Handlung aufweist, also demonstriert, wie sie als moralisch vollkommene sein müsste, macht man sich angreifbar. Die Angriffe sind dann auch prompt erfolgt, allerdings zum überwiegenden Teil weit unter dem Niveau ihres Ziels. Die veröffentlichten Reaktionen werfen ein schlechtes Licht auf einen Ausschnitt unserer Streitkultur, was den Umgang mit ärgerlichen wissenschaftlichen Thesen angeht. Man behandelt Fritze wie einen, der eine Heldenverehrung oder einen Heiligsprechungsprozess stört. Nicht wegen eigener, sondern wegen der Defizite der Angreifer blieb Fritzes Abhandlung die Befruchtung einer wissenschaftlichen Diskussion versagt. Man bekundet seine zum Teil schroffe Ablehnung, ohne auf die These von Fritze und ihre Begründung überhaupt einzugehen, was im Grunde sogar für die ausführliche Kritik von Peter Steinbach und Johannes Tuchel gilt. Geradezu ein Meisterwerk dieser Methode lieferte der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts mit seiner Pressemitteilung vom 10. November 1999 ab. Hier ist nur von zeithistorisch wie moralphilosophisch "unhaltbare(r) und unakzeptable(r)" Sicht die Rede. Ohne etwas über die Sache selbst mitzuteilen und nur mit Bezug auf Fritzes Beitrag in der "Frankfurter Rundschau" wird von "abwegigen Auffassungen" gesprochen. So geht der Chef eines Forschungsinstituts mit einem seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter um.
Dass die Antrittsvorlesung von Dr. Fritze, der sich an der TU Chemnitz habilitiert hat, nicht in der Verantwortung des Hannah-Arendt-Instituts an der TU Dresden zu sehen ist, versteht sich von selbst und brauchte nicht wie in dieser Pressemitteilung geflissentlich betont zu werden. Der Behauptung aber, der Beitrag Fritzes stehe "in keinerlei Zusammenhang mit der Forschungsarbeit des Instituts", das der "kritischen Auseinandersetzung mit beiden deutschen Diktaturen verpflichtet" sei, muss wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung widersprochen werden. Zu solchem Forschungsprojekt gehört auch die kritische, also wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Widerstandes. Bei aller positiven Affinität darf auch Geschichtswissenschaft sich nicht auf die Tradierung von Heldenlegenden konzentrieren.
Vorbildhaftigkeit ist ein pädagogisch normativer Begriff. Politische Bildung muss nicht in allen Bildungsstufen in jeder Hinsicht deckungsgleich mit der wissenschaftlichen Forschung sein. Pädagogische Verantwortung rechtfertigt oder verlangt je nach Lage auch hin und wieder die Vernachlässigung von wissenschaftlich zulässigen oder geforderten Problematisierungen. Das ist auch in anderen Bildungsprozessen so - vor allem dann, wenn diese auf Wertungen angewiesen sind. Die moralisch problematische Dimension einer Handlung hebt deren grundsätzliche Bejahung nicht schon auf. Man kann auf moralisch anfechtbare Weise etwas moralisch Richtiges tun. Aber einer solchen Handlungsweise kann man keine "unbeschränkte Vorbildlichkeit" attestieren. Eine Vorbildlichkeit in Grenzen also schon. Wer diese Aussage bei Fritze überliest, kann zu dem Schluss kommen, der Autor mache es sich zu leicht, obwohl der Fehler in ungenauer Lektüre liegt. Ein solcher Hinweise wäre an zahlreichen Stellen der Kritik angebracht.
Die Kernthese von Lothar Fritze, dass Planung und Durchführung eines Tyrannenmordes in dem Maße moralisch problematisch sind, in dem die Tötung Unschuldiger in Kauf genommen wird oder genommen werden muss, ist nicht widerlegbar. An der Frage, wer durch meine Widerstandsaktion zu Schaden kommen kann, kommt moralisch keiner vorbei. Diese Frage ist besonders in unserer Epoche, in der mit dem Begriff Widerstand so inflatorisch umgegangen wird, geboten. Nicht wenige Pädagogen haben schon jeden Protest ausgerechnet in unserem Land mit seine Erfahrung von zwei totalitären Diktaturen immer wieder als Widerstand deklariert und beifällig zugesehen, wie sogenannte Widerstandsveranstaltungen zum Happening;
umfunktioniert wurden. Wir haben allen Grund, mit dem Begriff des politischen Widerstandes in jeder Hinsicht sorgsam und wahrhaftig umzugehen. Man sollte nicht so tun, als wäre der Widerstand gegen Hitler so harmlos und risikofrei gewesen wie eine Sitzblockade. Und wenn es um Tötungen geht, ist der Widerstand auch moralisch nicht risikolos, so als käme man auf jeden Fall moralisch unbeschädigt davon.