Am 9.11.1998 kündigte die Pressestelle der Technischen Universität Chemnitz die Antrittsvorlesung des
Privatdozenten Dr. Lothar Fritze an: "Hitler-Attentat: Die Bombe explodierte 10 Minuten zu spät".
Im Gegensatz zu Georg Elser würden sich Graf Stauffenberg und die Mitglieder der Weißen Rose
großer Wertschätzung erfreuen:
"Johann Georg Elser hingegen ist fast vergessen. Keine Schule und keine Straße erinnert an ihn, nur ein Platz in Konstanz trägt seinen Namen. Besonders beschämend: Nicht einmal bei der 'Gedenkstätte Deutscher Widerstand' in Berlin scheint man ihn zu kennen. Vielleicht deshalb, weil er 'nur' ein Mann aus dem Volke, ein einfacher Schreiner war?"
Gerade die Gedenkstätte Deutscher Widerstand hatte allerdings im Juli 1997 in der größten Einzelausstellung über einen deutschen Widerstandskämpfer Georg Elser umfassend gewürdigt und ihn in die "Ehrengalerie der deutschen Widerstandskämpfer" aufgenommen.
Immerhin durfte man auf die neuen Erkenntnisse von Dr. Fritze gespannt sein. Zu erwarten war nach der Vorankündigung eine Hommage an Georg Elser - vorgetragen wurde jedoch eine moralphilosophische Abrechnung.
Die Vorlesung erregte jedoch erst ein Jahr später Aufmerksamkeit, als am 8.11.1999 die Frankfurter Rundschau die Antrittsvorlesung publizierte unter dem Titel: "Der Streit um den Widerstandskämpfer Georg Elser. Der Ehre zuviel - eine moralphilosophische Betrachtung zum Hitler-Attentat von Georg Elser."
Im Stil eines hoch über dem politischen Zeitgeschehen stehenden Generalstaatsanwaltes wird Elser einem abstrakten moralphilosophischen Verhör unterzogen. Da ist viel von "moralphilosophischer Systematik" die Rede. Abstrakt wird "der Grundsatz. (G)" oder "die Universalisierbarkeit von (G)" bemüht. Dann wird von "der Qualität der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Attentäters" und von "moralischer Pflicht" fabuliert. Elser wird "mangelndes Interesse an politischen Tagesereignissen" vorgeworfen. Außerdem habe er "Sorgfaltspflichten im Bereich des Denkens und Planens verletzt". Schlussfolgerung: "Diese Einlassungen begründen den Verdacht, dass er sich über die moralische Tragweite seines Tuns nicht hinreichend bewusst war."
Arrogant und abgehoben wird in dem Kapitel "Motivation und Persönlichkeit" folgendes festgestellt:
"Interessant ist nun, dass Elser seine Ablehnung des Hitler-Regimes weder mit der Untergrabung des Rechtsstaats, der Beseitigung der Demokratie oder der Existenz von Konzentrationslagern noch mit dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze oder der Unterdrückung und Verfolgung von Juden begründete. Für den KPD-Wähler Elser war nicht der diktatorische Zwangscharakter des NS-Regimes entscheidend; ihn beunruhigte die aggressive Außenpolitik Hitlers.
Zu fragen ist erstens, inwieweit ein Durchschnittsbürger - also jemand ohne politische Spezialkenntnisse, ohne ein Wissen um Planungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Führung und ohne die Möglichkeit, außenpolitische Verwicklungen aus unmittelbarer Anschauung der Vorgänge beurteilen zu können - bereits zu einem so frühen Zeitpunkt (vordem November 1938) begründet mutmaßen konnte, dass ein Krieg droht, für den Hitler verantwortlich oder der wenigstens durch den Tod von Hitler zu verhindern sein wird."
Elser als einen "Durchschnittsbürger" zu bezeichnen, stellt die Tatsachen auf den Kopf. Der Durchschnittsbürger unternahm 1938/39 nichts gegen den herrschenden Zeitgeist der Naziideologie oder gegen Hitler, sondern reihte sich ein nach dem Motto "Die Reihen dicht geschlossen."
"Selbst eine wohlwollende Beurteilung seiner Person kann den Verdacht nicht ausräumen, dass der Täter seine politische Beurteilungskompetenz überschritten hat, dass er nicht hinreichend kompetent war, politische Prognosen, noch dazu Kriegsprognosen, zu erstellen, die geeignet gewesen wären, ein so folgenschweres Handeln zu rechtfertigen. Ob aber überhaupt seine Kriegsvermutung der notwendige und hinreichende Grund für den Tatentschluss war, ist zweifelhaft.
Auch dann fällt es schwer, Elsers Entscheidung als Resultat einer kenntnisreichen, sachorientierten und nüchternen politisch-moralischen Kalkulation zu begreifen, der dann eine mutige und von Fanatismus freie Tat gefolgt wäre."
Im Schlussteil "Zusammenfassende Betrachtungen" wird mit Georg Elser und indirekt mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin abgerechnet:
"Indem wir Elser würdigen, loben wir ihn auch, weil er beabsichtigte, den für das Heraufziehen einer großen Gefahr ausschlaggebenden Faktor zu eliminieren. Die Botschaft lautet daher nicht: 'Du darfst (oder sollst) Hitler töten, wenn er einen Krieg vorbereitet', und sie lautet auch nicht nur: 'Du darfst (oder sollst) den (oder die) Führer einer (totalitären) Diktatur töten, wenn damit gerechnet werden muss, dass sie Verbrechen begehen werden', sondern sie lautet allgemein: ,Du darfst (oder sollst) die Faktoren (z.B. die Entscheidungsträger) eliminieren, durch deren Existenz und Wirken nicht hinnehmbare Gefahren für Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit entstehen'. Wenn wir Elser - um bei diesem Beispiel zu bleiben - würdigen, geben wir Handlungsempfehlungen, die tatsächlich 'zu jeder Zeit und an jedem Ort' gelten.
Angesichts der Schwierigkeiten der Handlungssituation und der für ihn bestehenden Risiken könnte man Elser gleichsam, mildernde Umstände' zubilligen, aber auch dadurch wird die Ausführungsweise des Attentats nicht vorbildhaft.
Dieses Vorgehen, das Momente von Mitleid- und Gedankenlosigkeit aufweist, ist nicht zu rechtfertigen. Der Umstand, dass Elser ein sogenannter einfacher Mann aus dem Volke war, hat auf dieses Urteil keinen Einfluss.
Da es dem Täter bei Erfüllung seiner Pflicht zum gehörigen Nachdenken möglich gewesen wäre, die Untragbarkeit seines geplanten Vorgehens zu erkennen, sein Fehlverhalten also vermeidbar war, ist ihm ein entsprechendes Versagen vorzuwerfen."
Das Urteil über Elsers Attentat auf Hitler lautet:
"Nach Abwägung der wesentlichen Aspekte bleibt das Urteil, dass es sich bei dem Anschlag von Elser um eine Tat gehandelt hat, deren Ausführungsweise moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Auch unter Berücksichtigung aller Aspekte, die geeignet sind, Person und Vorgehen in eine milderes Licht zu rücken, ändert sich nichts an der Einschätzung, dass Person wie Handlungsweise nicht traditionsbildend sein können.
Auch im Kampf gegen das Unrecht sind Kriterien der Legitimität zu beachten. Der Kampf gegen Diktaturen und Diktatoren kann nicht unter allen Bedingungen aufgenommen und nicht in beliebig zweckrationaler Weise geführt werden. Diese ethische Einsicht droht in einer Heroenverehrung, wie sie um Georg Elser betrieben wird, verloren zu gehen.
Deshalb ist es für jede Gesellschaft wichtig, sich Rechenschaft abzulegen, welche Vorbilder sie eigentlich propagiert. Unter diesem Gesichtspunkt kann man es als beunruhigend empfinden, dass die kritiklose Verehrung von Elser offenbar nur wenige beunruhigt."
Besonders anmaßend ist, dass Fritze - bewaffnet mit der moralphilosophischen Keule - ein gnadenloses Urteil über Elsers Attentat auf Adolf Hitler fällt, obwohl er in seiner Anmerkung (81) feststellt:
"Ich betrachte es nicht als Aufgabe der Philosophie, moralische Urteile über Personen zu fällen. Wie jeder Bürger hat allerdings auch der Philosoph als Bürger das Recht, sich in diesen Angelegenheiten zu äußern."
Der Literaturwissenschaftler Joseph Peter Stern hatte dazu bereits in seiner Heidenheimer Ansprache 1979 ausgeführt:
"Der Zweck war die Verhütung respektive Beendigung des Krieges. Dies war ein vernünftiger, durch die Tötung Hitlers nach menschlicher Voraussicht erreichbarer Zweck. Was diesen Zweck vernünftig macht, ist nicht zuletzt die Tatsache, dass Elser bei seiner Bewertung die Führerrolle und Autorität Hitlers mit einkalkuliert hat - dass also Georg Elser im Hinblick auf die politische Wahrscheinlichkeit, durch die Tötung den Krieg zu beenden, vernünftig gehandelt hat. Die Tatsache, dass dieser sowohl vernünftige wie moralische Zweck nicht erreicht wurde, ändert am Wert oder Unwert der Tat nichts."
"Dass es sich bei dem Anschlag von Elser um eine Tat gehandelt hat, deren Ausführungsweise moralisch nicht zu rechtfertigen ist", zu dieser Erkenntnis kann nur jemand gelangen, der abstrakt, abgehoben, fernab jeglicher politischen Realität sein Urteil fällt.
Die Zitate Fritzes stammen aus dem Jahrbuch "Extremismus & Demokratie" Bd. 12.- Baden-Baden 2000 (Nomos Verlagsgesellschaft). Dessen Herausgeber Uwe Backes und Eberhard Jesse haben bezeichnenderweise in dem anschließenden 30-seitigen Antwortteil die Stellungnahmen von Dr. Tuchel und Prof. Steinbach ausgeklammert. (Vgl. dazu Steinbachs Rede auf S. 122 ff.)
Besonders beachtenswert im Antwortteil des Buches ist die Stellungnahme des kommissarischen Archivleiters des Instituts für Zeitgeschichte (München) Dr. habil. Hartmut Mehringer:
"Fritze unternimmt seine Untersuchung der Elserschen Tat als Moralphilosoph bzw. als moralischer Richter und nicht als Historiker. Ihn interessieren infolgedessen nicht der historische Zusammenhang, in den sie zu stellen ist, sondern individuelle Schuld- bzw. Unschuldszuweisungen, die er vom Katheder einer bestimmten ,Moral' aus vornimmt, ohne deren Kategoriensystem (biblisch? christlich? abendländisch? aufklärerisch? demokratisch im Sinne der .politischen Moral' der Bundesrepublik Deutschland in den letzten vier Jahrzehnten?) freilich konkret zu benennen.
Ich bin kein Moralphilosoph, sondern Historiker. Insofern habe ich spezifische Schwierigkeiten, der Argumentationskette Fritzes zu folgen: Die Kriterien des Moralsystems, denen Fritze Person und Tat Elsers unterwirft, sind keine historischen Kategorien, sondern abstrakt konstruierte Wert- und Normvorstellungen. Geschichte ist - zumal in 'bewegten' Zeiten - keine Moralveranstaltung. Die Historie hat fünf Fragen zu beantworten: Wer, wo, wann, wie, warum? Dies schließt - auch moralische - Bewertungen keineswegs aus, doch sind sie nicht primäres Erkenntnisziel. In der Geschichte gibt es bekanntlich kein Weiß und kein Schwarz, sondern nur eine Vielzahl von Grautönen.
Fritze versucht sich mit untauglichen Mitteln am falschen Objekt."
Es wäre sicher sinnvoller gewesen, wenn Fritze untersucht hätte, warum hochgebildete, gut informierte, mit keinen Planungsdefiziten belastete Personen, die in der Lage waren, treffende Prognosen (Kriegsprognosen) zu erstellen, die tagespolitisch' gut informiert waren, deren Beurteilungskompetenz hoch anzusetzen war, die sich nicht durch Mitleid- und Gedankenlosigkeit auszeichneten, warum diese Personen wie z.B. Claus Graf Schenk von Stauffenberg sich so lange - viel zu lange - hinter die Kriegsziele Hitlers stellten, warum sie gezögert haben, den Verbrecher Adolf Hitler rechtzeitig umzubringen.
Vielleicht sind diese Seiten "der Ehre zuviel" für die - von der Gnade der späten Geburt geprägten - blutleeren Thesen von Dr. Lothar Fritze. Uns erscheint es dennoch notwendig, die neueste, im moralphilosophischen Gewand daherkommende Verdammung Elsers darzustellen, zumal sie sich teilweise explizit auf die altbekannten Legenden bezieht (vgl. Kapitel "Gerüchte über das Attentat im Bürgerbräukeller", S. 83).
Der Leser möge sich sein eigenes Urteil über die Kontroverse bilden!