Ein sozialethisches und moraltheologisches Problem
Von Thomas Becker
EINLEITUNG
Scholl, Ernst Thälmann, Claus von Stauffenberg diese und wenige andere Namen
kommen in den Sinn, wenn die Rede vom Widerstand im Nationalsozialismus ist. Kommunisten,
Sozialdemokraten, Kirchenvertreter und Militärs wo aber blieb der
"Durchschnittsbürger"? "Widerstand bezeichnet ein politisches Verhalten,
das sich gegen eine als bedrohlich und nicht legitim empfundene Herrschaft richtet",
lautet die Definition im Politik-Lexikon des Dietz-Verlages (Schubert/Klein, 1997, S.
317). Setzt dieses politische Verhalten voraus, dass man auch politisch aktiv ist, bevor
man Widerstand leistet? Gab es niemanden, der einfach aus dem gesunden Menschenverstand
heraus ohne Unterstützung durch eine übergreifende Ideologie oder eine
Organisation gegen ein System opponierte, das schon früh als erklärtes Ziel den
größten Völkermord der Geschichte hatte? Man mag einwenden, dass viele Deutsche vom
Ausmaß der Judenverfolgung, von den Konzentrationslagern und den darin verübten Gräueln
keine oder nur sehr wage Ahnungen hatten. Aber was Krieg war, das wussten doch wohl alle?!
Wo waren sie, diejenigen, die sich gegen die Gleichschaltung, gegen den Militarismus zur
Wehr setzten?
Es gab sie, und
nicht nur aus den Kreisen der Geistes- und anderer Wissenschaften, sondern auch im
einfachen Volk. Der Schreiner Georg Elser verübte am 8. November 1939 ein Attentat auf
Adolf Hitler. Es scheiterte, weil der Diktator wegen Nebels nicht das Flugzeug, sondern
den Zug benutzte, so seine Rede verkürzte und 13 Minuten vor der Explosion der von Elser
gefertigten Bombe den Saal im Münchener Bürgerbräukeller verließ. Acht Menschen
starben, Elser wurde gefasst, verhaftet und kurz vor Kriegsende ermordet. Wer war dieser
Mann, der fast die Weltgeschichte verändert hätte? War er ein verantwortungsloser
Spinner, der das Leben Unschuldiger für einen privaten Rachefeldzug aufs Spiel setzte?
Oder war er ein Mann mit Weitblick, der schon Ende der dreißiger Jahre ahnte, welches
Unheil Hitler über die Welt bringen wird?
In jedem Fall war
und ist Georg Elser eine Person, deren Einordnung für Diskussionen sorgt. Historiker
stritten und streiten sich über seine Tatmotive, lange Zeit wurde er in Ost und West tot
geschwiegen. Erst Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wurde seine Tat neu
bewertet. Was also führte Elser dazu, einen Bombenanschlag auf den zu diesem Zeitpunkt
von fast einem ganzen Volk verehrten Führer zu unternehmen? Wie kommt ein Einzelner dazu,
seinen Widerstand gegen eine Entwicklung auf solch eine drastische Art zum Ausdruck zu
bringen? Und warum wurde das Hitler-Attentat des Georg Elser so lange Zeit aus dem
Blickfeld der Öffentlichkeit entfernt?
Das sind Fragen,
denen ich in dieser Arbeit u. a. nachgehen möchte. Es gibt wohl kaum eine Person aus dem
Feld des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, die so widersprüchlich beurteilt
wird wie Georg Elser. Auch mir war zwar sein Name schon längere Zeit geläufig, seiner
Geschichte näherte ich mich aber erst seit dem Historikerstreit im Dresdener
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT), ausgelöst durch einen Beitrag
von Lothar Fritze in der Frankfurter Rundschau vom 8. November 1999, an.
2. DAS RECHT ZUM WIDERSTAND
2. 1 Formen des Widerstands im Nationalsozialismus
"Das immer
perfekter arbeitende System des Terrors zog enge Grenzen für regimegegnerische
Aktivitäten. Andererseits gab es, wie die vielen Bekundigungen des Missfallens gegen den
Boykott jüdischer Geschäfte 1933, gegen den Novemberpogrom 1938 oder gar der Protest in
der Berliner Rosenstraße 1943 zeigen, Möglichkeiten, Opposition zu leisten, die
mindestens die Wirkung hatte, die Machthaber zu beunruhigen" (Informationen zur
politischen Bildung Nr. 243, 1994, S. 22). Von der Verweigerung bis zum offenen Protest,
von Sabotage bis zum Attentat wurde das gesamte Spektrum des Widerstandes auch in Zeiten
des Nationalsozialismus in Deutschland genutzt. Rudolf Stöber greift in seinen
Ausführungen zur Geschichte der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland die Unterscheidung
zwischen aktivem und passivem Widerstand, zwischen Protest und oppositioneller
Grundhaltung auf und bezieht sich dabei auch auf deren Anwendung zwischen 1933 und 1945:
"Die Formen und Möglichkeiten des aktiven Widerstands waren beschränkt. Attentate
sind wenige überliefert, offener Aufstand und Überfälle für Deutschland gar
nicht" (Rudolf Stöber, 1996, S. 186). In erster Linie machten die Deutschen, wenn
überhaupt, unter dem Druck des nationalsozialistischen Schreckensregimes von den
Möglichkeiten der Sabotage, von Desertion, Rücktritt aus politischen Ämtern oder
Befehlsverschleppung Gebrauch. "Der Widerstand gegen Hitler war keine einheitliche
Bewegung. Wie die Formen des Widerstandes vielgestaltig waren, so waren auch die
Begründungen, mit denen man ein Recht auf Widerstand in Anspruch nahm" (Hans Maier,
1994, S. 33). Die Frage der Anwendung von Gewalt als Form des Widerstandes wurde selbst in
christlichen Kreisen kontrovers diskutiert. Welche Form des Widerstandes der Einzelne
wählte, war von seinem Mut, seiner Grundeinstellung und natürlich von seinen
Möglichkeiten abhängig. "Grundsätzlich hatten ausgewiesene Gegner des
Nationalsozialismus wenig Möglichkeiten, da sie von vielen kritischen Augen und Ohren
überwacht wurden", unternimmt Rudolf Stöber einen weiteren Erklärungsversuch der
Tatsache, dass von einer Widerstandsflut zu keinem Zeitpunkt des Nationalsozialismus die
Rede gewesen sein kann. "Dass viele Widerstandsaktionen vergeblich waren, kann die
Ignoranz oder Apathie gegenüber dem Unrecht nicht legitimieren; umgekehrt lassen die
Hindernisse den Widerstand der wenigen aber um so mutiger erscheinen (Stöber, 1996, S.
190).
2. 2 Wer kennt schon seine Rechte?!
In Deutschland
ist das Recht auf Widerstand im Grundgesetz verankert. "Gegen jeden, der es
unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand,
wenn andere Abhilfe nicht möglich ist" heißt es in Artikel 20, Absatz 4, des
Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. "Diese Ordnung", das bedeutet
die in den vorausgegangenen drei Absätzen des Artikels 20 festgelegten Grundsätze der
Verfassungsordnung: Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat. Dabei kann sich
Widerstand im Sinne des Grundgesetzes durchaus auch gegen die Regierung richten, selbst
Gewaltanwendung ist nicht ausgeschlossen. Davor allerdings gilt es, alle Möglichkeiten
rechtsstaatlicher Mittel, also z. B. die Anrufung von Gerichten, auszuschöpfen.
Diese Möglichkeit hätte natürlich auch Georg Elser offen gestanden. Er hätte seine Bedenken
gegen Hitler und den Nationalsozialismus offen vorbringen können. Dann aber wäre er mit
großer Wahrscheinlichkeit wirklich einer der Namenlosen, die in den Konzentrationslagern
umkamen. So machte "nur" die Geschichtsschreibung lange Zeit einen Bogen um den
Mann, der für seinen Widerstand die wohl radikalste Form, die des Attentates, wählte.
Bemerkenswert ist, dass sich Historiker nicht über die Tatsache streiten, dass Hitler
diesem Attentat hätte zum Opfer fallen können, dass also quasi ein Tyrannenmord verübt
wird, sondern darüber, dass Unbeteiligte ums Leben kamen. So schrieb der Chemnitzer
Privatdozent Lothar Fritze am 8. November 1999, dem 60. Jahrestag des missglückten
Sprengstoffattentates, in der Frankfurter Rundschau auf Seite 9: "An dem Vorgang
verwundert zunächst, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Mann geehrt wird, obwohl er
den Tod von acht Menschen schuldhaft verursacht hat". Fritze spricht Elser
"politische Beurteilungskompetenz" ab, auch wenn er das Ziel des Attentates als
"akzeptabel" bezeichnet (Frankfurter Rundschau, 1999, Seite 9).
Ist Elser
tatsächlich zu weit gegangen? Hat er unüberlegt und vorschnell gehandelt? Allein die
Tatsache, dass er das Attentat über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr vorbereitete,
spricht gegen letztere Annahme. Wenn jemand über solch einen langen Zeitraum akribisch
eine Aktion vorbereitet, bei der allein die Vorbereitung schon ein extrem hohes Risiko
darstellt, dann kann man ihm nicht vorwerfen, gedankenlos einer Augenblickslaune gefolgt
zu sein. Das Recht zum Widerstand, wenn für ihn überhaupt ein solches existierte, ergab
sich für Elser nicht vordergründig aus dem Problem der persönlichen Verfolgung und
Unterdrückung, sondern aus der Gefahr für sein Vaterland. Insofern wird Georg Elsers
Handeln zumindest nachträglich durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
legitimiert.
3. HELD ODER MÖRDER GEORG ELSER
3. 1 Georg Elser nicht nur "Einer aus Deutschland"
Georg Elser ist
zweifelsohne im Sinne der Rechtssprechung ein Mörder. Durch die von ihm gebaute und
platzierte Bombe starben am 8. November 1938 im Münchener Bürgerbräukeller acht
Menschen. Was aber brachte den 1903 im Württembergischen geborenen Elser dazu, sich zu
einem Richter und Henker zu entwickeln, der den führenden Mann des Staates zum Tode
verurteilt hatte und ihn umbringen wollte? Politischer Ehrgeiz war es ebenso wenig wie
eine von den Nazis vermutete Steuerung von außen oder eine von außen vermutete
Selbstinszenierung der Nationalsozialisten ähnlich der des Reichstagsbrandes. Es waren
mehrere Mosaiksteine, die Elsers Bild von Adolf Hitler und der durch ihn gesteuerten
Bewegung prägten. Das Protokoll der Gestapo, erstellt bei Verhören zwischen dem 19. und
23. November 1939, verrät viel über die Hintergründe des Attentates. Niedrigere Löhne
und höhere Abzüge, die Einschränkung der religiösen, aber auch der ganz normalen
Alltags-Freiheiten sowie der drohende Krieg waren es, die Georg Elser zum Gegner Hitlers
und letztlich zum Attentäter machten. "Die seit 1933 in der Arbeiterschaft von mir
beobachtete Unzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1938 vermutete unvermeidliche
Krieg beschäftigten stets meine Gedankengänge. ... Ich stellte allein Betrachtungen an,
wie man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte.
Hierzu wurde ich von niemandem angeregt, auch wurde ich von niemandem beeinflusst"
(Die Zeit, Nr. 42, 1999, S. 38). Für die Vorbereitung und die Durchführung seines Planes
galt es auch für Georg Elser, eine moralische Grenze zu überwinden. "Jeder, der
einem Tyrannen widersteht, hat . . . zuvörderst abzuwägen, ob nicht das aus dem
Widerstandsakt folgende und geradezu unvermeidliche Chaos noch größere Opfer als die
weitreichende Duldung und das Erleiden des bisherigen Schreckens verlangt", diese
hohe Hürde legte die moderne Staatslehre an den Widerstand (Steinbach/Tuchel, 1994, S.
30). Georg Elser hat seine Abwägung getroffen. "Ich wollte ja durch meine Tat ein
noch größeres Blutvergießen verhindern", so seine Aussage im Gestapo-Protokoll
(Informationen zur politischen Bildung Nr. 243, 1994, S. 24). Das größere
Blutvergießen, das war der aus seiner Sicht unvermeidliche Krieg: Nimmt man an dieser
Stelle Bezug auf oben erwähnten Vorwurf des Historikers Lothar Fritze, dann muss man
natürlich die Frage der Beurteilungskompetenz als berechtigt zulassen. Ist aber
Stauffenberg ein besserer Attentäter, nur weil er vorher lange genug an Hitlers Seite
kämpfte? Ohne Frage ragt Elsers Tat aus dem Spektrum des Widerstandes gegen Hitler
heraus, der sich hauptsächlich als passiver Widerstand darstellte. Hat aber deshalb Elser
das ihm zustehende Recht auf Widerstand überstrapaziert?
Natürlich gab es
im Nationalsozialismus auch bei politischen und kirchlichen Gruppierungen Überlegungen in
Richtung eines Attentates. Allerdings setzte sich dort oft die Meinung durch, dass man
erst die Bevölkerung aufklären und gegen die Nazis mobil machen muss, um nicht durch ein
Attentat die Sympathien für den Angegriffenen noch weiter zu erhöhen, wie es sich ja
auch nach Elsers missglücktem Attentat darstellte. Aber auch die Strategie der
Mobilmachung funktionierte nicht, da es Hitler und seinen Helfershelfern gelang, große
Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zuziehen. "Widerstand blieb schon deshalb die
Angelegenheit einer Minderheit, weil die Nationalsozialisten auch innerlich oppositionell
Eingestellten eine gewisse Teilidentifizierung mit dem Regime ermöglichten",
beschreibt Rudolf Stöber das Problem der Opposition, Mitstreiter zu finden. Hitlers
Außen-, Arbeitsmarkt- und Rompolitik sowie die Besinnung auf die deutschen Tugenden Zucht
und Ordnung sowie die große Zahl an Posten, die in der NS-Organisation zu vergeben waren,
verringerten außerdem die Breitenwirkung des Widerstandes (Stöber, 1996, S. 188/189).
Die Gedankengänge Elsers, in den 1969 von den Historikern Lothar Gruchmann und Anton Hoch
eingesehenen Gestapoprotokollen detailliert beschrieben, sind nachvollziehbar. Ähnliche
Gedanken mögen auch viele andere Deutsche gehabt haben, die sich ihren gesunden
Menschenverstand bewahrt hatten. Was Georg Elser aus der Masse heraushebt, ist die
Tatsache, dass er seine Gedanken nach detaillierter Planung auch in die Tat umzusetzen
versuchte. Das macht ihn, um den Titel des mit Klaus Maria Brandauer besetzten Filmes
umzusetzen, eher zu einem aus Deutschland im Sinne von einzigartig als zu einem im Sinne
des x-beliebigen.
3. 2 Spätes Andenken für einen "anonymen Helden"
Anlässlich der
60. Wiederkehr des Attentates titelte Wilfried F. Schoeller seinen Beitrag über Georg
Elser im Tagesspiegel mit "Der anonyme Held". Darin nimmt er unter anderem Bezug
auf die lange Zeit, nach der die Tat Elsers erst in das richtige Licht gerückt wurde.
"Die Nachwelt ist von den Nazi-Legenden über Elser erst in den siebziger Jahren
losgekommen. Eine trübe Rolle spielte auch der Mithäftling Martin Niemöller, der Elser
als SS-Mann verleumdete. Die Legenden waren die Antwort der wilden Fantasie auf die
Unbegreiflichkeit, dass ein einzelner diese Tat wagte und ausführte auf nichts
gestellt als auf seine Entschlossenheit, seinen Mut und ein hohes Maß technischer
Fertigkeiten" (Tagesspiegel, 8. November 1999). Auch Stefan C. Dickmann beschreibt in
seinem Beitrag im Hamburger Abendblatt den "vergessenen Widerstandskämpfer" und
die Probleme der Nachwelt, mit Elsers Tat umzugehen: "Es dauerte 59 Jahre, bis in
Elsers Heimatdorf Königsbronn bei Ulm im Januar 1998 zu seinen Ehren ein Museum
eingerichtet wurde. ... In Elsers Familie hat dessen mutige Tat bis heute Narben
hinterlassen. Seine drei inzwischen verstorbenen Schwestern haben ihn tabuisiert".
Dickmann zitiert im weiteren Elsers Neffe Franz Hirth und bringt so das ganze Dilemma zum
Vorschein: "Die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 sind Widerstandskämpfer und
werden jedes Jahr vom Staat geehrt. Mein Onkel ist obwohl er inzwischen
rehabilitiert wurde noch immer der Attentäter" (Hamburger Abendblatt, 6.
November 1999). Die Verbitterung, die aus diesen Worten klingt, erhält auch heute noch
Nahrung. So wird Georg Elser im 1994 von Peter Steinbach und Johannes Tuchel
herausgegebenen Buch "Widerstand gegen den Nationalsozialismus" (erschienen in
Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung) nur an einer Stelle erwähnt,
und zwar in dem Zusammenhang, dass Heinrich Himmler die Anweisung zu Elsers Ermordung
herausgab. Gerade einmal eine Straße in Deutschland und zwar in Hermaringen 1984
wurde nach Georg Elser benannt. Interessant in diesem Zusammenhang ist die
Tatsache, dass im Neunkirchener Stadtteil Sinnerthal eine Straße nach dem
Sozialdemokraten Wilhelm Jung benannt ist. Jung hatte kein Attentat auf Hitler verübt,
sondern war wegen einer wohlwollenden Äußerung über Elsers Attentat festgenommen und
schließlich ermordet worden.
Gerechtigkeit
versucht indes die 1999 erschienene Biografie "Den Hitler jag ich in die Luft"
Elser zuteil werden zu lassen. Nicht nur, weil er einer der wenigen war, die sich schon in
früher Zeit aktiv gegen Hitler gestellt haben, ist Georg Elser für Autor Helmut G.
Haasis ein stiller Held. "Nachkriegsdeutschland hat lange Zeit die Berechtigung des
Attentates nicht zugeben wollen und sich zur Selbstentlastung der acht ,unschuldigen
Opfer bedient", zitiert Wilhelm von Sternburg Haasis, der mit seiner Biografie über
den Attentäter Georg Elser das Bild über einen "unideologischen Idealisten, ... der
sich weigerte, die Zerstörung moralischer Werte zu akzeptieren" gerade zu rücken
versucht (Die Zeit, Nr. 42, 1999, S. 38). Den Begriff des Helden verwendet auch der
Schriftsteller Rolf Hochhuth: "Ich benutze dieses Wort Held zum ersten Mal, seit ich
schreibe; denn wenn es unter den Deutschen im 20. Jahrhundert einen Einzelnen gab, der ein
Held war, dann dieser einsame Schwabe" (Hamburger Abendblatt, 6. 11. 1999).
Bei Elsers
Beurteilung waren sich die sonst in ihren Thesen über den Nationalsozialismus oft so weit
entfernten Historiker in der BRD und der DDR einig man ging ihr einfach aus dem
Weg. "Die DDR-Historiker schwiegen sich über diesen ideologisch nicht einzuordnenden
Einzelgänger völlig aus, zumal die Tat geschah, als Hitler mit Stalin verbündet war.
Haasis ... beschämt auch die bürgerliche Geschichtsschreibung, die sich lange weigerte
einen Mann zu akzeptieren, der aus ihrer Sicht ... das frühzeitig zu tun versuchte, wozu
die deutschen Eliten aus Militär, Adel und Großbürgertum nicht fähig waren",
schreibt Wilhelm von Sternburg in seinem Beitrag über die Elser-Biografie von Hellmut G.
Haasis (Die Zeit, Nr. 42, 1999, S. 38). In der DDR-Wissenschaft stand der kommunistische
Widerstand im Vordergrund. "Widerstand von Menschen und Gruppen mit einem anderen
politischen und weltanschaulichen Hintergrund, wie ihn beispielsweise der Kreis des 20.
Juli 1944 hatte, nahm dagegen eine periphere Position ein" (Ines Reich, 1994, S.557).
Peter Steinbach analysiert in seinem Beitrag "Widerstandsforschung im politischen
Spannungsfeld", dass die Würdigung des Widerstands gegen Hitler und den
nationalsozialistischen Unrechtsstaat seit 1945 unübersehbaren Schwankungen unterworfen
war. "Auch wenn sich die deutschen Politiker in Ost und West stets auf
Widerstandsgruppen bezogen und den Anspruch erhoben haben, aus deren Zielen Orientierungen
für die Gegenwart abzuleiten, so erstreckte sich die beschworene Übereinstimmung doch in
der Regel jeweils nur auf Teilgruppen der deutschen Widerstandsbewegung. In der DDR wurde
bis in die siebziger Jahre hinein der kommunistische antifaschistische Widerstand
beschworen, während in der Bundesrepublik bis weit in die sechziger Jahre vor allem die
Verschwörer des 20. Juli 1944 als Widerstandskämpfer gefeiert wurden" (Peter
Steinbach, 1994, S. 597). Für einen Mann wie Georg Elser war in der Geschichtsschreibung
beider deutschen Staaten lange Zeit kein Platz. Die DDR-Historiker konnten das nicht mehr
aufholen, in der Bundesrepublik schwelt der Streit nach dem Fritze-Beitrag in der
Frankfurter Rundschau weiter, ob Elser denn nun ein Held oder ein Mörder war.
4. SCHLUSS
Auch wenn mit dem
von Lothar Fritze ausgelösten Historikerstreit die Diskussion neu entfacht wurde, scheint
sich doch inzwischen in Fachkreisen die Meinung durchzusetzen, dass man Georg Elser sehr
wohl in den "gehobenen" Widerstandskreis aufnehmen und in einem Atemzug mit den
Geschwistern Scholl, Stauffenberg und anderen nennen darf und muss. Seine Tat war von dem
Bestreben gelenkt, Verderben vom deutschen Volk fernzuhalten. Dass solcherart bis zum
wenn auch nicht erfolgreichen Abschluss durchgezogene Zivilcourage nicht
jedermann geheuer ist, kann nachvollzogen werden. Schließlich kann auch heutzutage jeder
anhand der vielfältigsten Informationen auf die Idee kommen, nur durch den Tod des einen
oder anderen Staatsmannes die Welt retten zu können. Im Falle Elsers haben wir aber den
Vorteil, zu wissen, was passiert ist, da sein Attentat scheiterte. Allein dieses Wissen
müsste schon reichen, um seine Tat zu rechtfertigen, auch wenn dabei acht Menschen, egal
ob Nationalsozialisten oder nicht, ums Leben kamen. Noch dazu, wenn man zwar davon
ausgehen kann, dass Elser den Tod anderer durchaus in Kauf nahm, es ihm aber bei der
Durchführung des Attentates sichtlich darauf ankam, nicht den größtmöglichen Schaden
anzurichten, sondern den ihm verhassten Kriegstreiber Adolf Hitler zu töten. Es ist
bedauerlich, dass diese Tat trotz der Rehabilitation Elsers nach wie vor nur ein
Randdasein in der Geschichtslehre fristet, denn an deutschen Gymnasien spielt z. B. das
Attentat des 8. November 1939 im Unterricht kaum eine Rolle. Dabei zeigt gerade dieses,
dass Widerstand durchaus auch die Sache eines Einzelnen sein kann, wenn er in
Ausschöpfung seiner Rechte seine politische Verantwortung wahr nimmt.
5. LITERATURLISTE
Klaus Schubert/Martina Klein, Das Politiklexikon, Bonn, Dietz, 1997.
Widersetzlichkeit und Widerstand von Einzelnen, Drei Beispiele, in: Informationen zur politischen Bildung
Nr. 243 der Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Widerstand 1933-1945,
München, 1994, S. 22-25.
Rudolf Stöber, Geschichte, Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen, 1996.
Hans Maier, Das Recht auf Widerstand, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel, Widerstand gegen den
Nationalsozialismus, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1994, S. 33-42.
Lothar Fritze, Das Attentat Georg Elsers auf Hitler im Bürgerbräukeller aus neuer Sicht, Frankfurter
Rundschau, 8. November 1999.
Wilhelm von Sternburg, Ein stiller Held, Die Zeit Nr. 42, 14. Oktober 1999.
Wilfried F. Schoeller, Der anonyme Held, Tagesspiegel, 8. November 1999, in: Online-Archiv
http://195.170.124.152/archiv/1999/11/07/ak-ws-ge-41582.html
Stefan C. Dickmann, Der vergessene Widerstandskämpfer, Hamburger Abendblatt, 6.
November 1999, in: Online-Archiv http://www.abendblatt.net/contents/ha/news/reportage/html/061199/Anschl330.HTM
Ines Reich, Das Bild vom deutschen Widerstand in der Öffentlichkeit und Wissenschaft der DDR, in: Peter
Steinbach/Johannes Tuchel, Wiederstand gegen den Nationalsozialismus, Bundeszentrale für
politische Bildung, Bonn, 1994, S. 557-571.
Peter Steinbach, Widerstandsforschung im politischen Spannungsfeld, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel,
Wiederstand gegen den Nationalsozialismus, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 1994, S. 597-622.
Diese Ausarbeitung entstand im August 2000 im Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin im Studiengang Journalisten-Weiterbildung, Fernstudieneinheit Geschichte
Quelle: Thomas Becker, Widerstand gegen einen Widerständler: Georg Elser, Berlin 2000 - www.thobecker.de