Es schien, als schreckte die Öffentlichkeit vor Elser zurück
Der Widerstandskämpfer und das Attentat vom 8. November 1939
Deutungen und Diffamierungen
Von Peter Steinbach und Johannes Tuchel
War das Attentat auf Adolf Hitler, wie es Johann Georg Elser 1939 verübte, moralisch gerechtfertigt? Der Chemnitzer Wissenschaftler Lothar Fritze hat dies verneint (FR-Dokumentation vom 8. November 1999) und damit unter Lesern und Wissenschaftlern eine heftige Kontroverse ausgelöst. In diesem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass Dokumentationen nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben, sondern die der Autoren. Fritze antworten im folgenden Beitrag nun Peter Steinbach und Johannes Tuchel von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Sie deuten die Einlassungen Fritzes als einen Revisionsversuch. Wir dokumentieren ihren Text im Wortlaut.
Am 8. November 1939 versuchte der württembergische Schreiner Georg Elser Hitler durch ein Attentat im Münchener Bürgerbräukeller zu töten und so die Ausweitung des am 1. September 1939 von Deutschland begonnenen Krieges zu verhindern. Seit Herbst 1938 hatte Elser diese Tat gegen den Diktator geplant. Er hatte beharrlich alle Bedingungen geprüft, Voraussetzungen für einen erfolgreichen Anschlag geschaffen, sich Sprengstoff besorgt, einen Zündmechanismus konstruiert, sich Zugang zum Veranstaltungsraum verschafft und dort in monatelanger Arbeit einen Sprengkörper mit Zeitzünder installiert. Er war dem Ziel, Hitler auszuschalten, denkbar nahe gekommen, so nahe, wie erst Jahre später der Kreis um Stauffenberg.
Hitler verließ am 8. November 1939 allerdings wenige Minuten vor der Explosion den Versammlungssaal. Die Bombe explodierte wie geplant und verwüstete den Saal. Elser war bereits eine Stunde zuvor in Konstanz kurz vor dem Grenzübergang in die Schweiz festgehalten und wegen seines verdächtigen Tascheninhalts der Polizei übergeben worden. Nach langen Verhören und Folterungen gestand er Tage später die Tat und seine Absicht, damit den Weg zu einem europäischen Frieden ebnen zu wollen. Er wurde mehr als vier Jahre im KZ Sachsenhausen, später im KZ Dachau in völliger Isolation gefangen gehalten. Am 9. April 1945 wurde er erschossen. Dies sind in knappen Worten die Fakten.
Elsers Widerstand gegen den Nationalsozialismus war nach 1945 noch umstrittener als die gesamte Gegnerschaft zum Regime. Immer wieder rankten sich um seine Tat neue Gerüchte. Diffamierungen aus der NS-Zeit wirkten fort und überlagerten sich nicht selten mit teils bizarren Nachkriegsdeutungen. Georg Elser war eine Herausforderung: Er machte deutlich, dass ein einfacher Mann aus dem Volke sich zu einer weltgeschichtlichen Tat aufraffen konnte. Er strafte all jene Lügen, die sich weiterhin einredeten, sie hätten dem Terror des NS-Staates nichts entgegensetzen können. Der "Durchschnittsbürger", das zeigte Elsers Beispiel, war keineswegs zum Mitläufer bestimmt - er konnte dem Rad des Staates durchaus in die Speichen greifen.
Lange Zeit wurde übrigens in beiden Teilen Deutschlands nicht akzeptiert, dass ein Arbeiter ohne Rücksicht auf sich und seine unmittelbaren Angehörigen eine Tat bis ins Detail geplant, gewagt und durchgeführt hatte, zu der sich andere weder 1939 noch später entschließen konnten. Elsers Handeln wurde bis zum Beweis seiner Alleintäterschaft Ende der sechziger Jahre bestenfalls verschiedensten Auftraggebern zugeordnet. Heute, 60 Jahre nach dem Attentat, können die einzelnen Stränge der Deutungen und Diffamierungen von Elser, der vor zwei Jahren vom heutigen Staatsminister Palmer als "großer Sohn" des Landes Baden-Württemberg bezeichnet wurde, genau nachgezeichnet und analysiert werden.
Die nationalsozialistische Deutung prägte die erste Interpretation der Tat. Die NS-Führung musste zwar kurz nach Elsers Festnahme bereits Mitte November 1939 dessen Täterschaft akzeptieren. Allerdings weigerte sich das Regime, diese Wahrheit zu verkünden - zu brisant wäre sie gewesen. Die These, Elser sei ein Werkzeug des britischen Geheimdienstes, geht auf NS-Propagandaminister Joseph Goebbels zurück, der bereits in der Nacht nach dem Attentat behauptet hatte, das Attentat sei "zweifellos in London erdacht" worden. Die Organisation des Anschlags habe Otto Strasser, der Führer der "Schwarzen Front", einer auch im Ausland sehr aktiven Oppositionsbewegung früherer Nationalsozialisten, übernommen.
Um diese Verschwörungsthese zu stützen, lenkte die NS-Propaganda die Aufmerksamkeit auf die britischen Geheimdienstagenten Best und Stevens, die am 9. November 1939 in Venlo in eine langfristig vorbereitete Falle des deutschen SD-Auslandsgeheimdienstes gelaufen waren. Die beiden Entführten wurden zu "Hintermännern" des Münchener Anschlags stilisiert, obwohl sie in Wirklichkeit nichts damit zu tun hatten. Die NS-Führung plante gegen Elser und die beiden britischen Offiziere nach einem siegreichen Ende des Krieges einen Schauprozess vor dem Volksgerichtshof. Deshalb wurde Elser seit 1940 ebenso wie die beiden Briten im Zellenbau des KZ Sachsenhausen gefangen gehalten. Elser wurde hier Tag und Nacht von mindestens zwei SS-Männern bewacht. Von Kontakten zu anderen Gefangenen blieb er völlig abgeschnitten und verbrachte so mehr als fünf Jahre in totaler Isolation.
Die zweite Deutung der Tat war eine Reaktion auf die nationalsozialistische Propaganda. Otto Strasser, am 13. November 1939 aus der Schweiz nach Frankreich ausgewiesen (dies hatte die Schweizer Regierung übrigens schon vor dem Anschlag Elsers beschlossen), ging im November 1939 sofort in die Offensive: Er sah im Attentat einen "außenpolitischen Reichstags-Brand", also eine nationalsozialistische Provokation. Diese Deutung vertrat er noch lange nach 1945. 1939 wurde Strassers These, die NS-Führung sei selbst die Urheberin des Attentats, von vielen ausländischen Zeitungen geteilt. Diese gingen oftmals davon aus, dass die NS-Führung selbst den Anschlag inszeniert habe, um den Mythos des von der "Vorsehung" geschützten Hitler zu untermauern.
Nach 1945 setzte sich Strassers Deutung in Variationen durch. Als besonders fatal erwiesen sich Gerüchte, die auch ein integrer Mann wie Martin Niemöller verbreitete, sowie die 1950 erschienenen Erinnerungen von Elsers Mithäftling in Sachsenhausen und Dachau, Captain Sigismund Payne Best, betitelt "The Venlo Incident". Bests Darstellung wimmelt von Fehlern und Abstrusitäten. Dennoch fand seine Interpretation Eingang in die historische Forschung, als etwa Gerhard Ritter in seiner Goerdeler-Biographie 1954 in seiner Wertung des Attentats festhielt, dass "dessen Inszenierung durch Himmlers Organe als Propagandatrick heute kaum noch zweifelhaft" sei, oder Hans Rothfels in seinem Standardwerk über den deutschen Widerstand betonte, dass es "doch wohl keine Frage" sei, dass "die Installation einer Höllenmaschine nicht ohne die Hilfe der Gestapo möglich gewesen ist".
Gemeinsam war all diesen Geschichten, die die Zeit bis 1969 prägten, dass weder die Zeitgenossen noch die Historiker oder die Überlebenden des Widerstands Elser der eigenständigen Vorbereitung und Durchführung der Tat für fähig hielten. Auch wenn die Militäropposition und der nationalkonservativ-bürgerliche Widerstand in den sechziger Jahren nicht mehr mit dem Odium des "Verrats" behaftet waren, die Tat Elsers konnte noch nicht als ein Akt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus akzeptiert werden.
Georg Elser hatte keiner Elite angehört, der man das Recht auf Widerstand zubilligte; keine gesellschaftliche Großgruppe setzte sich für sein Andenken ein. Er blieb "Werkzeug" der Machthaber, nicht aber ein Mensch, der sich selbst in Übereinstimmung mit seinem Gewissen einen Handlungsauftrag gegeben hatte. Auf eine völlig neue Grundlage wurde das Bild Elsers erst Ende der sechziger Jahre gestellt.
Denn 1969 veröffentlichte Anton Hoch seine Recherchen und konnte zweifelsfrei mit den alten Mythen über Elser aufräumen. Kurze Zeit später edierte Lothar Gruchmann die Vernehmungen Elsers von 1939, die zwar über weite Strecken in der Sprache der Gestapo gehalten sind, aber dennoch wichtige Einblicke in Elsers Leben und Denken ermöglichen. Diese Publikationen sowie ein dokumentarisches Fernsehspiel von Rainer Erler leiteten eine Wende in der öffentlichen und wissenschaftlichen Einschätzung der Tat vom 8. November 1939 ein.
Vor allem machten sie deutlich, dass Elser ethische Überzeugungen hatte, dass er sich zu seiner Verantwortung bekannte, keine Ausflüchte suchte, um sich zu retten, und die Folgen seiner Tat aufrecht trug. Er steht so in einer Reihe mit anderen Regimegegnern, die der NS-Führung deutlich machten, dass Macht und Furcht, Terror und Anpassung nicht jeden Zeitgenossen zu einem willigen und angepassten Werkzeug der Nationalsozialisten werden ließen.
Doch Elsers Ehrung blieb den achtziger, im eigentlichen Sinne sogar den neunziger Jahren vorbehalten. Es schien, als schreckte die deutsche Öffentlichkeit vor Elser zurück. Vielleicht beeinflusste sie die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus in den siebziger Jahren, vielleicht ahnte sie auch, dass es mit der Verkommenheit der politischen Eliten in der NS-Zeit noch schlimmer bestellt war, als man vermutete, wenn ein einfacher Schreiner den verbrecherischen Charakter des Regimes durchschaute und nicht glauben wollte, dass Recht bleiben müsse, was einmal als Recht gegolten habe, wie ein anderer Sohn des Landes Baden-Württemberg erklärte, der es sogar zum Ministerpräsidenten gebracht hatte.
Seit den achtziger Jahren bemühte sich der Georg-Elser-Arbeitskreis in Heidenheim um die Ehrung des Attentäters in seiner Heimat. Dies mündete im Februar 1998 in der Eröffnung einer Gedenkstätte in Königsbronn, die in Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde Königsbronn, dem Elser-Arbeitskreis und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entstanden war, mit erheblicher finanzieller Unterstützung des Landes und der Kultur-Stiftung der Deutschen Bank.
In der Tat hatte sich in den achtziger und neunziger Jahren das Bild von Elser gefestigt. Klemens von Klemperer oder Joseph P. Stern, der in Elser den "wahren Antagonisten" Hitlers und dessen "moralisches Gegenbild" sah, nahmen Elser als Beispiel einer in extremer Einsamkeit gefällten Entscheidung zum Widerstand. Schriftsteller wie Rolf Hochhuth, Helmut Ortner und Hellmut G. Haasis setzten sich für das Andenken an Elser ein; Bundeskanzler Helmut Kohl hat ihn in seiner Rede zum 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 ausdrücklich hervorgehoben.
Ulrich Renz publizierte die Schweizer Untersuchungsergebnisse von 1940; die Politologinnen Thekla Dannenberg und Doris Ehrhardt analysierten, wie die Mythen um Elser entstanden waren und seitdem immer wieder weitergetragen wurden, bis sie schlicht nicht mehr haltbar waren.
Insgesamt gibt es heute ein denkbar gut gesichertes Bild der Tat, der Motive und Elsers Handlungen, das Lothar Gruchmann 1981 zusammenfasste: "Elser war weder ein von krankhafter Ruhmsucht noch von niedrigen Tötungsinstinkten getriebener Krimineller, der von anderen als Werkzeug benutzt wurde. Seine - eigenen Überlegungen entsprungenen - Motive für die Tat berechtigen vielmehr, ihn unter die Männer des deutschen Widerstands gegen das NS-Regime einzureihen." Diesem Bild entsprachen die meisten Würdigungen, die anlässlich des 60. Jahrestages des Bürgerbräu-Attentates veröffentlicht worden sind. Mit einer gravierenden Ausnahme, die in der Frankfurter Rundschau zu finden war. Der Artikel beruht auf einer bereits im November 1998 gehaltenen Antrittsvorlesung des Chemnitzer Privatdozenten Fritze, der die Tat Elsers neu deutete. Dabei ging es nicht um Elsers Alleintäterschaft, sondern eher um eine moralphilosophisch verkleidete Prüfung von Elsers Berechtigung zur Tat, um die Angemessenheit seiner Entschlussbildung und um die Lauterkeit seiner Motive. Das Ergebnis dieser wie ein Besinnungsaufsatz aus den frühen fünfziger Jahren anmutenden Prüfung war für Elser denkbar negativ.
Fritze sprach Elser verantwortliches Handeln, Umsicht und Einsicht und nicht zuletzt auch den Nachlebenden die Möglichkeit ab, Elsers Tat positiv zu würdigen. Er zielte aber möglicherweise auf mehr. Denn es geht allgemein um die Frage nach der Möglichkeit des einzelnen Menschen zum Widerstand in der Diktatur. Dies ist eine wichtige Frage politischer Bildung und hat Ende der siebziger Jahre sogar zu einem Beschluss der Kultusminister geführt, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in alltagsgeschichtlichen Dimensionen zu behandeln, um so die Notwendigkeit individueller Auflehnung gegen staatliches Unrecht zum Thema des Unterrichts zu machen.
Fritze kam in seiner Antrittsvorlesung zu dem Schluss, "dass es sich bei dem Anschlag von Elser um eine Tat gehandelt hat, deren Ausführungsweise moralisch nicht zu rechtfertigen ist". Elser wird "moralisches Versagen" vorgeworfen. Doch die Basis, auf die sich dieses Urteil gründet, ist schwach. Wir sehen eine scholastische Konstruktion, jenseits von Zeit und Raum, weit weg von den historischen Fakten und schon gar nicht die Realität des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus berücksichtigend. Zwei Hauptvorwürfe werden erhoben:
1. Elser habe mit der Tat seine "politische Beurteilungskompetenz" überschritten: "Konnte aber ein Durchschnittsbürger nach dem Münchener Abkommen im Herbst 1938 ... begründet mutmaßen, dass ein Krieg, für den Hitler verantwortlich sein wird, unvermeidlich sein wird?" Diese Frage ist nicht nur fiktiv, sondern auch zu eng gestellt. Konnte 1938 der Unrechtscharakter des Regimes, das sich zunehmend offen zur Möglichkeit des Krieges bekannt hatte, durchschaut werden?
Dazu nur so viel: Bis zum Herbst 1938 hatte der "Durchschnittsbürger" die Vertreibung der Andersdenkenden, die Verhaftung von Regimegegnern, die Terrorisierung der politischen Gegner der Nationalsozialisten und die "Legalisierung" ihrer Rache wahrlich beobachten können. Er hatte von den Morden des 30. Juni 1934, der ständigen Aufrüstung, der Remilitarisierung des Rheinlandes, der Annexion Österreichs und der militärischen Besetzung von Teilen der Tschechoslowakei sowie der Militarisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens gehört und die Schrecken der Novemberpogrome des Jahres 1938 gesehen. Es gab viele Möglichkeiten, den verbrecherischen Charakter des Regimes zu erkennen.
Folgt man der These Fritzes, wird der "Durchschnittsbürger" im Nationalsozialismus seiner politischen Verantwortlichkeit enthoben, denn die Erkenntnis der Unvermeidlichkeit des von Hitler zu verantwortenden Krieges sei im Herbst 1938 "durchaus fraglich" gewesen. Die Schlussfolgerung drängt sich auf, dass der Durchschnittsbürger, der nichts erkennen konnte, auch nicht handeln musste, denn es wäre ja auch eine friedliche Zukunft möglich gewesen. Eine Konstruktion, die der "Mitläuferdebatte" der unmittelbaren Nachkriegszeit würdig wäre!
So gesehen, ist die Deutung ein Symptom: Es geht nicht um Opfer des Regimes, um Regimegegner und ihre Widerständigkeit, sondern es geht um eine Erklärung, die geradezu Rechtfertigung von Passivität und Anpassung ist. Wer so denkt, der muss sich natürlich durch eine Person wie Elser herausgefordert fühlen, denn dieser verkörpert geradezu das völlige Gegenteil von Anpassung und Unterwerfung in einem verbrecherischen Regime.
2. Mit der These, Elser habe seine "politische Beurteilungskompetenz überschritten", wird aber nicht nur die Legitimität der Tat Elsers, sondern die Legitimität des gesamten Widerstandes gegen den Nationalsozialismus in Frage gestellt. Wenn die "politische Beurteilungskompetenz" gemessen wird an der "Ahnung von der nationalsozialistischen Ideologie", an der Beschäftigung "mit einschlägigen Büchern oder Zeitschriften" und an der eingehenden Befassung mit "politischen Fragen", dann ist dies eine abstrakte Setzung, welche die gesamte Debatte um das Widerstandsrecht des Einzelnen gegen die Diktatur einfach ignoriert. Sie fällt wiederum weit in die fünfziger Jahre zurück, als man dem einfachen Zeitgenossen das Recht zum Widerstand absprach, weil es nicht zum Umsturz des Gesamtregimes aus dem Zentrum der Macht beitragen konnte. Menschen, die Juden verborgen hielten, die Verfolgten beistanden, die aus politischen Gründen desertierten oder sich als Individuen dem Unrecht widersetzten, sie wurden in der Regel nicht als aktive Regimegegner anerkannt. Dabei ist unbestreitbar: Das Widerstandsrecht ist so alt wie der Kampf um eine "gerechte Herrschaft". Es weist dem Individuum jene politische Beurteilungskompetenz zu, die Elser in der neuen Deutung abgesprochen wird.
Doch nicht nur in der politiktheoretischen Setzung ist die Prämisse falsch, sondern auch im konkreten Fall Elser. Georg Elser sah während seiner Arbeit in der Heidenheimer Armaturenfabrik eindeutige Kriegsvorbereitungen. An Zeitungen las er in Gasthäusern, "was gerade da war" und hörte zudem ausländische Rundfunksendungen in deutscher Sprache - verständlich, wenn der Propagandacharakter des deutschen Rundfunks in dieser Zeit in Betracht gezogen wird. Er nutzte also die wichtigen und zugleich richtigen Quellen, die den mutigen Zeitgenossen zur Verfügung standen. Er lieferte sich nicht den Produkten einer gleichgeschalteten öffentlichen Meinung aus.
Es fällt Fritze "schwer, Elsers Entscheidung als Resultat einer kenntnisreichen, sachorientierten und nüchternen politisch-moralischen Kalkulation zu begreifen". Doch ein Blick in Elsers Vernehmungen von 1939 genügt, um zu genau dem gegenteiligen Fazit zu kommen: "Die seit Herbst 1933 in der Arbeiterschaft von mir beobachtete Unzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1938 vermutete unvermeidliche Krieg beschäftigten stets meine Gedankengänge. ... Ich stellte allein Betrachtungen an, wie man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte. Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die Obersten, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser 3 Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden."
Elser wird von Fritze zudem vorgeworfen, er habe sich nicht in der Nähe des Explosionsortes aufgehalten, so dass er die Explosion nicht mehr habe stoppen können, als Hitler den Saal verlassen hatte. Damit habe Elser den Tod "Unschuldiger" verursacht. Er habe "in einer mitleid- und gedankenlosen Weise zu einer Methode" gegriffen, "bei der der Tod unbeteiligter Dritter von vornherein einkalkuliert war". Hat Elser wirklich "leichtfertig eine opferträchtige Attentatstechnik gewählt"?
Auch diese Deutung lässt sich nach Überprüfung der Fakten nicht halten. Elser hat genau geprüft und geplant. Schon im Herbst 1938 wählte er den Bürgerbräukeller als geeigneten Ort für einen Anschlag "auf die Führung": "In den folgenden Wochen hatte ich mir dann langsam im Kopf zurechtgelegt, dass es am besten sei, Sprengstoff in jene bestimmte Säule hinter dem Rednerpodium zu packen und diesen Sprengstoff durch irgendeine Vorrichtung zur richtigen Zeit zur Entzündung zu bringen. ... Die Säule habe ich mir deshalb gewählt, weil die bei einer Explosion umherfliegenden Stücke die Leute am und um das Rednerpult treffen mussten. Außerdem dachte ich auch schon daran, dass vielleicht die Decke einstürzen könnte. ... Ich wusste aber, das Hitler spricht und nahm an, dass in seiner nächsten Nähe die Führung sitzt."
Damit wird das Gesamtkalkül des Anschlags deutlich: Er richtete sich gegen die gesamte NS-Führungsspitze, die an diesem Abend in München zusammenkam - das Jahrestreffen der größten kriminellen Vereinigung Deutschlands. Hinzu kommt: Elser wusste, dass während Hitlers Rede nicht serviert wurde, und konnte so davon ausgehen, dass zu dem von ihm berechneten Zeitpunkt tatsächlich nur hohe Nationalsozialisten im Saal sein würden.
Nur nebenbei sei erwähnt, dass sich Fritzes Argumentation auch gegen den Anschlag vom 20. Juli 1944 richten würde: Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg musste den Ort des Anschlags verlassen und konnte nicht sicher sein, dass sich Hitler auch wirklich bis zum Zeitpunkt der Explosion im Raum aufhalten würde.
Fritze geht jedoch weiter: "Da es dem Täter bei Erfüllung seiner Pflicht zum gehörigen Nachdenken möglich gewesen wäre, die Untragbarkeit seines geplanten Vorgehens zu erkennen, sein Fehlverhalten also vermeidbar war, ist ihm ein moralisches Versagen vorzuwerfen." Spätestens hier ist die Grenze von der Spekulation zur Diffamierung überschritten. Dies gilt ebenso, wenn Fritze konstatiert, dass "sowohl die Wahrhaftigkeit der Angaben Elsers über seine Motivation als auch die Dignität seiner Auffassungen über das nationalsozialistische Regime gewissen Zweifeln unterliegen".
Diese Zweifel können nur aufgeworfen werden, wenn Elsers Biografie und sein persönliches und politisches Handeln grob verkannt werden: Der Hitlergegner, der im dörflichen Milieu den Hitlergruß verweigerte, sich NS-Demonstrationen entzog, der ganz konkrete Missstände benannte: "Nach meiner Ansicht haben sich die Verhältnisse in der Arbeiterschaft nach der nationalen Revolution in verschiedener Hinsicht verschlechtert. So z. B. habe ich festgestellt, dass die Löhne niedriger und die Abzüge höher wurden. ... Der Stundenlohn eines Schreiners hat im Jahr 1929 eine Reichsmark betragen, heute wird nur noch ein Stundenlohn von 68 Pfennigen bezahlt. ... Der Arbeiter kann z. B. seinen Arbeitsplatz nicht mehr wechseln, wie er will; er ist heute durch die HJ nicht mehr Herr seiner Kinder." Sind hier noch Zweifel an der "Dignität seiner Auffassungen" möglich?
Fassen wir zusammen: Die These, die "Ausführungsweise" von Elsers Tat "sei moralisch nicht zu rechtfertigen", verkennt sowohl die Realität des verbrecherischen NS-Staates als auch die Möglichkeiten des Widerstandes gegen diese Diktatur. Die Konstruktion des "Durchschnittsbürgers", der 1938 noch nicht den bevorstehenden Krieg habe berechtigt mutmaßen können, entlastet nicht nur eben jene "Durchschnittsbürger", die sich nicht zum Widerstand gegen den NS-Staat entschließen konnten, sondern delegitimiert zugleich jene, die den Widerstand wagten. Das ist im Rahmen einer politikwissenschaftlichen Antrittsvorlesung kühn. Der Verfasser stellt sich gegen gesicherte und oft benannte Ziele politischer Bildung, die nach sorgfältiger Abwägung von Gründen und Gegengründen klare Entscheidungen erleichtern und politische Verhaltensweisen entwickeln will, die sich auf die Normen eines freiheitlichen Verfassungsstaates beziehen. Das Gegenbild dieses Verfassungsstaates ist die totalitäre Diktatur. Wer sich ihr entgegenstellt, verdient den Versuch, seine Entscheidungen nachzuvollziehen, nicht aber die Ausstellung des Testats eines verantwortungslosen Handelns, das zudem noch die Folge hätte, die Würdigung Elsers einzustellen. Wenn, so ist stattdessen zu fragen, dem "Durchschnittsbürger" die "politische Beurteilungskompetenz" abgesprochen wird, wer besitzt diese - und mit ihr das ganz individuelle Recht auf Widerstand in einer Diktatur - dann überhaupt?
Fritzes Argumentationen wenden sich auch gegen jene Konzepte rationaler politischer Bildungsarbeit, die mit dem Namen des Politikwissenschaftlers Manfred Hättich verbunden sind und eben nicht nur ein einziges Modell der Interpretation anbieten, sondern dem mündigen Bürger helfen, Kriterien für eigene Entscheidungen zu entwickeln. Denn wer anders als der Einzelne besitzt in der Diktatur, die nicht zuletzt die Verhältnismäßigkeit der im freiheitlichen Verfassungsstaat gebotenen Zweck-Mittel-Abwägung aufhebt, das Recht auf politisches Handeln? In ihren Konsequenzen zielt diese Antrittsvorlesung auf die Umwertung der Rechtfertigung des Widerstandes und rechtfertigt die Anpassung, vor allem die des "Durchschnittsbürgers".
Man darf diesen Vortrag aber nicht allein als Beitrag zu einer akademischen Diskussion bewerten. Denn die Diskussion über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus verlangt Rationalität, Verantwortung und die Beachtung der historischen Fakten. Werden diese missachtet, führt dies zu Revisionsversuchen, die nur auf Deutungen und Setzungen, nicht auf der Prüfung von Gründen und Gegengründen beruhen. Der Beitrag von Fritze ist ein Beispiel derartiger Revision, die nur deutet, statt zu analysieren.
Weshalb, so kann man fragen, haben Eckhard Jesse und Uwe Backes als Herausgeber des vom Bundesinnenministerium geförderten Jahrbuchs "Extremismus & Demokratie" ein Interesse an der Publikation?
Jesse und Backes melden sich gern zu Wort, wenn es um neue Deutungen der Zeitgeschichte geht. Nun haben sie sich der Widerstandsgeschichte angenommen. Problematisch ist daran, dass ein Privatdozent, der sich mit seiner Antrittsvorlesung akademisch vorstellt, in eine Auseinandersetzung geraten ist, die verantwortlich ratende Mentoren hätten voraussehen müssen. Wir glauben nicht an den Zufall des Interesses der beiden Herausgeber des Jahrbuchs, denn das Interesse an Elsers Tat im Kontext dieses Jahrbuchs ließe sich doch nur daraus erklären, wenn man seiner Tat eine potenzielle Gefahr zuschriebe, die von Nachahmern ausgehe.
Elser reagierte aber auf das Unrecht einer Diktatur - in einem demokratischen System hätte er niemals in dieser Art und Weise handeln müssen. Denn nicht Georg Elser war der Extremist, extremistisch und terroristisch war das Regime.
Apropos Revision: Der Herausgeber des Jahrbuchs "Extremismus & Demokratie", Eckhard Jesse, hat erklärt, die Langfassung des Beitrags von Fritze weiterhin publizieren zu wollen, weil dieser "wissenschaftlich vertretbare Positionen verficht". Am vergangenen Wochenende tagte auf Einladung Jesses auf Burg Veldenstein der "Veldensteiner Kreis zur Geschichte und Gegenwart von Extremismus und Demokratie". Einer der Hauptredner war Bernd Rabehl mit dem Thema "Waren Teile der Studentenbewegung nationalrevolutionär?", jener Bernd Rabehl, der bereits vor einem Jahr das "Problem der Überfremdung" Deutschlands und den "Schuldpranger der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg" beklagte.
Der Institutsrat des Otto-Suhr-Instituts der FU Berlin, wo Rabehl lehrt, hat sich jüngst gegen diesen Umbewertungsversuch deutscher Zeitgeschichte verwahrt und sich einmütig zu den liberalen Traditionen der Politik- und Sozialwissenschaft bekannt. Das Bundesinnenministerium sollte sich fragen, welche Publikationen es fördert, zumal in einer Zeit, in der ohne Zögern die Existenz traditionsreicher Publikationen wie die Wochenzeitung "Das Parlament" und seine Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" zur Disposition gestellt werden.
Quelle: Frankfurter Rundschau 18.11.1999 - www.frankfurter-rundschau.de
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